(Berlin, 4. September 2023, npla).- Der 11. September 1973 beginnt für Paulina Gutiérrez bereits zwei Wochen früher. Lange hat die Soziologin auf ihre Chance gewartet, endlich eine Vorlesung an der Universität halten zu können. Und nun würde sie im Zentrum für Studien der Nationalen Realität (CEREN) gemeinsam mit ihrem Kollegen Leonardo Castillo den Einführungskurs „Familienerziehung“ geben. Doch bereits nach der ersten Sitzung Ende August ist Schluss. Wegen der politischen Spannungen im Land wird der Lehrbetrieb vorübergehend ausgesetzt. Während Paulina auf ruhigere Zeiten wartet, putscht das chilenische Militär. Auf einen Schlag endet so die Arbeit des gesamten Studienzentrums – für immer. Ihr Kollege und Partner Norbert Lechner beschreibt diesen Moment 21 Jahre später eindringlich in einem Interview: „Von einem Tag zum nächsten war die Welt plötzlich eine andere, und jeder Schritt offenbarte uns unsere Verletzlichkeit. Das CEREN wurde aufgelöst und wir alle von der Universität geworfen. Von was sollten wir leben? Wir lernten, dass die Diktatur kein äußerer Faktor war, sondern immanenter Bestandteil unserer Lebensbedingungen.“
Von der Hausfrau zur Aktivistin
Die vermögende Familie um Geld zu bitten, kommt für Paulina dennoch nicht in Frage. Spätestens als sie sich 1970 offen dazu bekennt, für den sozialistischen Kandidaten des linken Parteibündnis Unidad Popular Salvador Allende zu stimmen, wir sie von der Verwandtschaft „zum Missratensten aller missratenen Schafe“ gestempelt. Dabei war ihr vorheriger Weg in geordnet konservativen Bahnen verlaufen: Grundstudium der Soziologie, frühe Heirat mit einem Mediziner, zwei Kinder, ein Auslandsaufenthalt in den USA Ende der 1960er Jahre – als Hausfrau, versteht sich. „Die Hippiebewegung bekam ich nur hinter der Gardine mit.“ Der Rassismus, der ihr und den Kindern entgegenschlägt, trifft sie dafür direkt: „Ich begann mich zu radikalisieren, wenn auch zunächst aus ganz affektiven Gründen.“
Zurück in Chile beendet sie ihr Studium, trennt sich von ihrem Ehemann und sucht sich eine Stelle an der Universität, um finanziell unabhängig zu sein. „Ich war ein kleines Vögelchen, unbedeutend, eine Hilfskraft mit niedrigem Bezug zu Wissen, frisch von der Universität und umgeben von lauter wichtigen Herren mit Doktortitel.“ Als Assistentin von Manuel Garretón habe sie zumindest viel über Kritische Theorie gelernt. Außerhalb der Hörsäle sammelt sie erste politische Erfahrungen als Mitglied der linken Bewegung der Unitaren Volksaktion (MAPU). Ungefragt wird ihr das Sekretariat für Organisation und Kontrolle (SOC) anvertraut „das dafür zuständig war zu sehen, wer an Versammlungen teilnahm und sich an politischen Wandmalereien beteiligt.“ Und dann gab es da noch eine Aufgabe, die sich perifoneo nannte und „die darin bestand, in Randbezirke zu gehen und mit Hilfe eines Lautsprechers Leute zu Regierungsaktivitäten einzuladen. Die Intellektuellen machte diese Arbeit furchtbar verlegen, also schickten sie mich.“
Aus diesen Erfahrungen spricht auch eine geschlechtsspezifische Rollenteilung, die nicht so ganz zu dem Ideal einer freien und gerechten Gesellschaft passen will. „Ich bekam meist ziemlich administrative Aufgaben zugeteilt. Auch am CEREN war ich vor allem dafür verantwortlich, Listen zu führen über An- und Abwesenheiten von Professoren und anderen großen Köpfen. Das war schon ein bisschen diskriminierend.“ Umso mehr freut sie sich, als sie die Chance erhält, außerhalb der Universität Kurse zu geben, an einem neugeschaffenen Regierungsorgan, dem 1971 entstandenen Sekretariat für Frauen. Dort doziert sie vor Gewerkschafterinnen zur Geschichte der sozialen Bewegungen in Chile im 20. Jahrhundert. Doch auch diese Tätigkeit endet jäh an jenem 11. September.
Überleben und Widerstand
Statt sich gegen das männliche Selbstverständnis linker Genossen durchzusetzen zu müssen, liegen die neuen Herausforderungen nun vor allem darin, ein Einkommen und eine bezahlbare Unterkunft zu finden, um unter den neuen Machthabenden irgendwie zu überleben. Gemeinsam mit ihren und den Kindern ihres Partners kommt die achtköpfige Familie im Haus des gemeinsamen Freundes und Kollegen Franz Hinkelammert unter, der Chile in den ersten Tagen nach dem Putsch verlässt. Eine Angst bleibt jedoch: was, wenn die Nachbar*innen sie denunzieren? Im Haus finden nicht nur hin und wieder Menschen Zuflucht, die von den Schergen der Diktatur gesucht werden. Gemeinsam mit Norbert und anderen Eingeweihten arbeitet Paulina an einem ersten systematischen Bericht über die Menschenrechtsverletzungen des militärisch-zivilen Putsches. Als einer aus ihrer Gruppe verhaftet wird und im Folterzentrum Tejas Verdes Namen Preis gibt, organisiert Norbert über Spenden von Solidaritätsgruppen aus der BRD 1974 ihre Flucht. Sie bleiben mehrere Monate in Europa, berichten auf Treffen in Stuttgart, Rom und Paris über die dramatische Situation in Chile und überlegen, wie sie am effektivsten gegen das undemokratische Regime ankämpfen können, ohne sich und ihre Familie in Gefahr zu bringen.
Tatsächlich tut sich schon bald eine Chance auf, als die UNESCO Norbert Lechner noch im selben Jahr als Experten an die Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) nach Santiago beruft. Als Angestellter einer internationalen Organisation sind er und seine Familie fortan besser geschützt. „Wir hatten so ein Papier von der deutschen Botschaft an der Wand hängen, in dem stand, dass dieses Haus unter dem Schutz des deutschen Botschafters stehe, für den Fall, dass wir unerwartet Besuch bekommen.“ So abgesichert nimmer er seine akademische Arbeit wieder auf und schreibt wichtige Beiträge zur Menschenrechtsdebatte, analysiert neokonservative Regime und demokratische Herausforderungen für die Region. „Mir dagegen hatte der Putsch die akademische Laufbahn abgeschnitten. Es gab keinen Weg mehr, in Chile zu promovieren. Es blieb nur das Selbststudium, ich habe viel gelesen und versucht mich irgendwie in Norberts Schatten weiterzubilden.“
Groll und Hoffnung
Nach siebzehn bleiernen Jahren Diktatur beginnt ein neuer Lebensabschnitt, der wieder mehr in der Öffentlichkeit stattfindet, geprägt von der Mitarbeit in NGOs und kleinen Forschungsprojekten. Nach Norberts Tod 2004 arbeitet Paulina an einer Ausgabe seiner ausgewählten Schriften. Wie wichtig sie für das Entstehen dieses Werkes war, als Ideengeberin und kritische Gesprächspartnerin, darüber spricht sie ungern. Die knappe Widmung in Lechners vielleicht wichtigstem Buch „Los patios interiores de la democracia“ spricht dagegen Bände: „Für Paulina, mehr als je zuvor.“
Und die eigene Forschung? Für eine Rückkehr an die Akademie bot sich nie eine Möglichkeit. Als Freiberuflerin gibt sie jedoch regelmäßig Workshops, „eine Arbeit, die mir Spaß macht, auch wenn es schön wäre, dafür besser bezahlt zu werden.“ Viele aus ihrer Generation seien heute „verbittert, darüber, wie ihnen der Putsch das Leben versaut.“ Auch sie gehört zu denen, die nie eine Rente bekommen werden, die nicht wissen, was wird, wenn sie einmal kein Einkommen mehr erzielen. „Da ist schon ein gewisser Groll.“
Die Hoffnung auf ein anderes, solidarisches Chile hat Paulina nie aufgegeben, auch wenn sie im Alltag oft an kleinen Gesten verzweifelt. „Ich bin die einzige, die im Treppenhaus abends das Licht einschaltet, wenn der Hausmeister mal krank ist, von den anderen Nachbarn würde nie jemand auf diese Idee kommen.“ Auf politischer Ebene sieht sie dagegen schon Fortschritte. Allein die Formation des Frente Amplio als linke Alternative zum neoliberalen Konsens der Postdiktatur sei ein Erfolg, der Hoffnung macht. „Mit einigen von dieser Generation bin ich im Kontakt, sie haben mich kontaktiert, als sie Fragen zu Norberts Ideen hatten. Ich wünschte, sie würden mehr lesen, denn sie haben in der Tat auch Probleme als Partei, es fehlt der Mut, weiter darüber nachzudenken, wie man heute demokratischen Sozialismus macht. Vielleicht riecht diese Idee denen zu sehr nach Scheitern, die vor allem eines wollen, Sieger sein.“
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