
(Santiago de Chile, Berlín, 15. April 2025, LN/npla).- Anfang März reiste Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Chile und traf dort Opfer der Ex Colonia Dignidad. Die chilenische Regierung weitet ihre Pläne für eine Teilenteignung der heutigen Villa Baviera aus, um einen Gedenk- und Dokumentationsort zu errichten. Die Leitung der heute als Firmenholding strukturierten Villa Baviera kündigte an, auch juristisch gegen die Enteignungspläne vorzugehen. Andere Bewohner*innen unterstützen die Enteignung und fordern eine gerechte Aufteilung der Vermögenswerte der Villa Baviera. – Eine etwas kürzere Version dieses Textes ist bei den Lateinamerika Nachrichten erschienen.
Zwanzig Jahre ist es her, dass der frühere Anführer der Colonia Dignidad, Paul Schäfer, in seinem argentinischen Versteck entdeckt und verhaftet wurde. Doch bis heute gibt es keine Gedenkstätte, kein Dokumentationszentrum in jener 1961 gegründeten deutschen Siedlung in Chile, deren Bewohner*innen jahrzehntelang Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt unterworfen waren und wo chilenische Oppositionelle während der Diktatur (1973 bis 1990) gefoltert und ermordet wurden.
Ein Teil des Geländes der deutschen Siedlung steht seit 2016 unter Denkmalschutz. Seit 2021 liegt ein von Gedenkstätten-Expert*innen im Auftrag einer deutsch-chilenischen Regierungskommission erstelltes Konzept für einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort vor. Im Juni 2024 verkündete der chilenische Präsident Gabriel Boric – direkt vor einem Besuch in Deutschland -, seine Regierung werde Teile des Geländes der Ex Colonia Dignidad enteignen, um dort eine Gedenkstätte zu errichten. Anfang März – wie nach einem sich wiederholenden Muster nun direkt vor einem Chilebesuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – kündigten die chilenischen Minister Jaime Gajardo (Justiz und Menschenrechte) und Carlos Montes (Wohnen und Städtebau) an, das zu enteignende Gelände auf 116 Hektar vergrößern zu wollen. Demzufolge müssten mehrere Bewohner*innen der Villa Baviera ihre Wohnhäuser verlassen.
Steinmeier zu Besuch in Chile
Die Aufarbeitung der Colonia Dignidad stand neben Rohstoff- und Handelsfragen von Anfang an auf der Tagesordnung der Südamerikareise des Bundespräsidenten. Steinmeier kennt die Geschichte der deutschen Siedlung und der dort begangenen Verbrechen sehr gut. 2016 hatte er – damals als Bundesaußenminister – eine selbstkritische Rede gehalten und eine moralische Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland eingeräumt. „Ich verneige mich vor den Opfern des Zwangssystems Colonia Dignidad….“ hatte er damals gesagt und „von den sechziger bis in die achtziger Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan“. Denn Mitarbeiter deutscher Behörden wussten von den Verbrechen der Colonia Dignidad, aber unterbanden sie nicht. So bot die deutsche Botschaft in Chile Personen, die aus der streng abgeriegelten Siedlung fliehen konnten, teils keinen Schutz. 2017 fasste der Deutsche Bundestag einstimmig einen Beschluss zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad, und eine deutsch-chilenische Gemischte Kommission zur Colonia Dignidad wurde eingerichtet.
In der chilenischen Hauptstadt Santiago besuchte Steinmeier das Museum für Erinnerung und Menschenrechte. Dort präsentierte Stefan Rinke, Professor für lateinamerikanische Geschichte an der Freien Universität Berlin (FUB), der Steinmeier als Teil der Delegation auf der Reise begleitete, die im Entstehen begriffene Medienstation „Interaktive Erinnerungen an die Colonia Dignidad“. Im Rahmen eines Kooperationsprojekts der FUB mit dem Museum sollen zunächst Videointerviews von Zeitzeug*innen präsentiert werden, die bereits online über das „Colonia Dignidad Oral History Archive“ verfügbar sind. Die Psychologin Evelyn Hevia Jordán, die viele dieser Interviews geführt hat, wird die Medienstation in den kommenden Jahren mit weiteren Dokumenten zur Geschichte der Colonia Dignidad ausbauen. „Dieses Projekt soll die Erinnerungen der Zeitzeugen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen“, sagt sie und ergänzt, dies könne jedoch keinesfalls als Ersatz für eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum am historischen Ort gelten.
Im Museum traf sich Steinmeier auch mit Opfern der Colonia Dignidad. Einer von ihnen ist Gabriel Rodríguez, der 1975 als politischer Gefangener in die deutsche Siedlung verschleppt wurde. „Ich habe darauf hingewiesen, dass es dringend notwendig ist, auf dem Gelände einen Gedenkort einzurichten“, erklärt Rodríguez, der heute als Journalist arbeitet, nach dem Gespräch. Details müssten seiner Meinung nach in einem gemeinsamen Dialog geklärt werden, aber es sei jetzt wichtig, einen Teil der Siedlung zu enteignen, damit ein Gedenkort endlich umgesetzt werde. „Für die Opfer ist die Situation skandalös. Es ist schwierig, auf das Gelände zu kommen, und der Tourismusbetrieb geht unverändert weiter.“
Tourismus am ehemaligen Folterort
In der Villa Baviera leben heute etwa 120 Personen; sie betreiben Landwirtschaft und ein Tourismusunternehmen im bayerischen Stil. Chilenische und internationale Gäste kommen wegen der Ruhe, der frischen Luft und deutscher Hausmannskost in die vier Autostunden südlich von Santiago idyllisch am Fuß der Anden gelegene Siedlung. Wer in die Villa Baviera hinein will, muss sich an einer Rezeption am Eingangstor anmelden und eine Gebühr zahlen – erst dann öffnet sich der Schlagbaum und damit der Zugang zu der privaten Siedlung. Die Angehörigen der politischen Gefangenen, die in der Colonia Dignidad zu Verschwundenen gemacht wurden, fordern jedoch freien Zugang und einen Ort, an dem sie in Erinnerung an ihre Liebsten Blumen niederlegen und trauern können, sagt Rodríguez.
Der chilenische Geheimdienst DINA hatte nach dem Putsch 1973 ein Gefangenenlager auf dem Gelände der Colonia Dignidad eingerichtet. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert. Dutzende, vielleicht hundert wurden ermordet, in anonymen Gräbern verscharrt, 1978 laut Aussagen von Bewohnern der Siedlung wieder ausgegraben und verbrannt, ihre Asche in den angrenzenden Fluss geworfen. Bis heute finden auf dem Gelände forensische Grabungen statt, um Massengräber und menschliche Überreste zu suchen, doch bisher konnte die Identität der verschwundenen Person nicht geklärt werden.
Außer den Angehörigen der Verschwundenen und den in der Siedlung während der Diktatur Gefangenen und Gefolterten müssten auch alle anderen Opfergruppen in einer Gedenkstätte berücksichtigt, ihre Geschichte und ihr Leid abgebildet werden, betont Rodríguez. Dabei geht es auch um die deutschen und chilenischen Opfer von sklavenartiger Arbeit, Zwangsadoptionen und sexualisierter Gewalt, und um die Bauernfamilien, die auf dem weitläufigen Gelände lebten, bis sie Anfang der 1970er Jahre von der Führung der Colonia Dignidad in Zusammenarbeit mit Militär und Polizei vertrieben wurden.
Anna Schnellenkamp, die in der Villa Baviera lebt und den dortigen Tourismusbetrieb leitet, war ebenfalls zum Gespräch mit Steinmeier eingeladen. Sie spricht sich danach für eine Gedenkstätte, aber gegen eine Enteignung aus und fordert, alle Bewohner*innen der Siedlung in Planungen für eine Umgestaltung einzubeziehen. Bei dem Gespräch im Museum war als Mitglied von Steinmeiers Delegation auch die Psychologin Susanne Bauer dabei. Zwischen 2005 und 2008 hatte sie in der Ex Colonia Dignidad Therapien mit Bewohner*innen geleitet, finanziert vom Auswärtigen Amt. Damals habe sie „verstörte Menschen“ vorgefunden, berichtet Bauer und ergänzt, die Wahrscheinlichkeit, dass die traumatischen Erfahrungen über Generationen weitergegeben werden, sei sehr groß. Umso bemerkenswerter findet sie, dass die zum Gespräch Eingeladenen verschiedener Betroffenengruppen inzwischen aufeinander zugegangen seien, und sich untereinander verständigen konnten.
Annäherung zwischen verschiedenen Betroffenengruppen
Zwischen den verschiedenen Betroffenengruppen bestehen Kontakte, auch weil ein Team von Expert*innen rund um die Leiterin der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, Elke Gryglewski, von 2014 bis 2022 einmal jährlich vom Auswärtigen Amt finanzierte Dialogveranstaltungen und Seminare zum Thema Gedenkstätte mit ihnen organisiert hatte. Eine Auswertung dieser Arbeiten wurde 2024 im Wallsteinverlag veröffentlicht. Angesichts der aktuellen Enteignungspläne betont Bauer, Entscheidungen, die die Wohnhäuser und die Lebensrealität der Bewohner*innen der Siedlung beträfen, sollten nicht über ihre Köpfe hinweg gefällt werden, sondern aus gemeinsamen Gesprächen von Regierungsvertreter*innen und Betroffenen ohne Bevormundung hervorgehen.
Die schwierigste Frage sei vermutlich, wem die vom Staat an die Villa Baviera zu leistenden Entschädigungszahlungen für die Enteignung zugute kommen werden, denn der Umgang mit Geld in der Siedlung sei ohnehin intransparent, so Bauer. Tatsächlich besetzen nur wenige Personen, größtenteils Nachfahren der ehemaligen Führungsriege der Colonia Dignidad, die entscheidenden Posten im Geflecht von Aktiengesellschaften, die zusammen die Firmenholding der Villa Baviera bilden. Zum wiederholten Male protestierte am Wochenende vor Steinmeiers Ankunft in Chile auch eine Gruppe, die sich als „empörte Bewohner“ der Ex Colonia Dignidad bezeichnen, und besetzte die Zufahrtsstraße zur Siedlung. Als Opfer von 40 Jahre langer Zwangsarbeit fordern sie die Auflösung der Firmenholding der Villa Baviera und die Nachzahlung ausstehender Löhne.
Heutige und frühere Bewohner*innen der Siedlung, die sich zur „Vereinigung für Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Würde der Ex Colonos“ (ADEC) zusammengeschlossen haben, überbrachten Präsident Boric eine Erklärung, in der sie ihre Unterstützung für die geplante Teilenteignung und Errichtung der Gedenkstätte ausdrücken. Sie fordern, die Zahlungen für die geplante Enteignung sollten als Entschädigung der Opfer verwendet werden und nicht an die Leitungen der Aktiengesellschaften gehen. Bei Fragen der Umsetzung wollen sie einbezogen werden. Außerdem solle eine Wahrheitskommission eingerichtet werden, um die von der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen systematisch zu erfassen soll.
Die Leitung der Firmenholding, die für ihre Lobbyarbeit die PR-Firma Extend beauftragt hat, antwortete auf Anfragen der Autorin nicht. Gegenüber der chilenischen Zeitung La Tercera erklärten Dorothee Münch und Markus Blanck, die Leitungsgremien der Firmenholding angehören, grundsätzlich seien sie mit einer Gedenkstätte einverstanden, solange diese nur einzelne Gebäude umfasse. Gegen die Enteignungspläne wollen sie jedoch auch juristisch vorgehen.
Konkrete Schritte stehen noch aus
Steinmeier erklärte bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Boric, das „gemeinsame Ziel“ der Einrichtung einer Gedenkstätte verbinde Deutschland und Chile. Beide Staaten seinen gegenüber den Opfern „verantwortlich, dass diese Gedenkstätte entsteht“. Es brauche einen Ort des Erinnerns an die Ermordeten und bis heute Verschwundenen.
Doch dazu bedarf es konkreter Schritte. Zunächst muss das chilenische Ministerium für Wohnen und Städtebau ein Dekret zur Enteignung erlassen und den zu zahlenden Preis ermitteln, der bei einer Enteignung nicht dem Marktwert, sondern einer Art Buchwert entspricht (avalúo fiscal). Das könnte die Regierung Boric in Kürze tun, doch wird sich der Prozess wegen der von der Firmenholding der Villa Baviera bereits angekündigten juristischen Interventionen hinziehen. Für den zweiten Schritt der Errichtung einer Gedenkstätte braucht es eine Stiftung oder andere nicht gewinnorientierte Einrichtung als Trägerin einer zukünftigen Gedenkstätte.
Dabei und bei der Finanzierung könnte Deutschland kooperieren. Deutschland müsse „versuchen zu unterstützen, wo es geht“, denn die Ankündigung der Enteignung habe in der Frage der Gedenkstätte einen „Durchbruch“ gebracht, sagt die Bundestagsabgeordnete Isabel Cademartori (SPD), die Steinmeier auf seiner Reise begleitete. Sie ist Teil einer Gemeinsamen Kommission von Bundestagsabgeordneten und deutschen Regierungsbeamt*innen, die laut ihrem Bilanzbericht Hilfszahlungen des deutschen Staates an 190 Opfer der Colonia Dignidad koordiniert und einen „Fonds Pflege und Alter“ zur Unterstützung pflegebedürftiger Bewohner*innen aufgesetzt hat. Die aus dem Bundestag und der Gemeinsamen Kommission scheidende Grünen-Abgeordnete Renate Künast betont zum Abschluss ihrer Karriere nochmals, wie wichtig es sei, aus der Geschichte zu lernen und dass „Deutschland sich an der Finanzierung und Gestaltung einer Gedenk- und Erinnerungsstätte vor Ort beteiligen will und muss“.
„Wir sind müde von vielen Gesprächen über das Thema, ohne konkrete Veränderungen zu sehen“, sagt Gabriel Rodríguez, der 1975 als Gefangener in die Colonia Dignidad verschleppt wurde. Er warnt: „Wenn es jetzt keine schnellen Fortschritte gibt, stehen wir am Jahresende wieder nur mit Absichtserklärungen da, und eine neue Regierung kann alles stoppen“. Im November finden in Chile Präsidentschaftswahlen statt – Umfragen zufolge liegen Kandidat*innen der politischen Rechten vorne.
Noch mehr Pläne für Teilenteignung der Ex Colonia Dignidad von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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