(Santiago de Chile, Berlín, 25. Mai 2024, nd/amnestyJournal/npla).- Ein außergewöhnliches Ereignis: Am Sonntag, den 17. März, ist die Zufahrtsstraße zur ehemaligen Colonia Dignidad in Chile gesperrt. Dutzende Autos von Tourist:innen stauen sich stundenlang. Niemand kommt hinein in die frühere deutsche Sektensiedlung, die inzwischen „Villa Baviera“ heißt und als touristisches Ausflugsziel mit Hotel und Restaurant im bayerischen Stil bekannt ist. Der Grund: Knapp zwanzig Personen, die sich selbst als „colonos indignados“, also als „empörte Bewohner:innen“ der Ex Colonia Dignidad bezeichnen, blockieren die Straße, halten selbst gemalte Transparente und verteilen Flugblätter. Sie fordern die Nachzahlung unterschlagener Löhne und Sozialabgaben, die gerechte Verteilung von Land und eine Umstrukturierung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Villa Baviera. Denn die ist als intransparente Aktienholding strukturiert, in der sich Macht und Vermögen auf einige Wenige konzentrieren.
„Wir haben eine Besetzung gemacht, weil wir als Colonos [jetzige und frühere Bewohner:innen der Siedlung, Anm. der Autorin] bis heute nicht gehört werden“, sagt Doris Gert. Sie ist in der Colonia Dignidad aufgewachsen, musste von Kindheit an hart arbeiten, wurde geschlagen und mit Psychopharmaka ruhig gestellt. Nach mehreren Fluchtversuchen aus der streng abgeriegelten Siedlung konnte sie diese erst 2004 verlassen. Heute lebt die inzwischen 55-Jährige mit ihrer Familie im 300 Kilometer weiter südlich gelegenen Temuco und macht Gelegenheitsjobs in der Betreuung von Senioren. Mit anderen Opfern der Sekte hat sie sich im Verein ADEC zusammen geschlossen. Weil die Leitung der Villa Baviera und ihrer Unternehmen nie zu einem Dialog bereit waren, hätten sie sich „nach vielen Jahren zusammengerafft“ und die Straße gesperrt, erklärt Doris Gert. „Wollen wir sehen, ob sie darauf hören. Wenn nicht, machen wir weiter“.
Seit der deutsche Laienprediger Paul Schäfer und einige Vertraute 1961 die auslandsdeutsche Siedlung in Chile gründeten, waren viele der 300 Bewohner:innen sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit unterworfen. Über Jahrzehnte erhielten sie weder Lohn noch Einzahlungen in die Rentenkassen. Während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) kooperierte die Sektenführung eng mit dem Geheimdienst DINA, der auf dem Gelände ein Gefangenenlager errichtete. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert, Dutzende ermordet. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt, Aussagen von Siedlungsbewohnern zufolge später wieder ausgegraben und verbrannt. Ihre Identität ist bis heute nicht aufgeklärt. Noch immer werden anonyme Gräber auf dem Gelände vermutet, wo Angehörige von Verschwundenen keinen Ort des Gedenkens finden, stattdessen aber ein rustikaler Tourismus floriert.
Ende der 1980er Jahre überführte die Sektenführung Güter und Ländereien der Colonia Dignidad in eine Holding verschachtelter Aktiengesellschaften, darunter landwirtschaftliche Betriebe, eine Hühnerfarm, Immobiliengesellschaften und ein Tourismusunternehmen. Fast alle Bewohner:innen sind offiziell Aktionär:innen, doch die meisten haben nichts davon. „Ein einziges Mal habe ich eine Ausschüttung von 600 Pesos [umgerechnet rund ein Euro] gekriegt“, erklärt Doris Gert, allein die Anreise, um das Geld abzuholen, habe sie allerdings mehr gekostet.
Die Mehrzahl der Aktien und Vollmachten konzentriere sich bei vier Familien, allesamt Nachfahren der Sektenführung, die auch die leitenden Positionen in den Firmengremien besetzen, erklärt der Rechtsanwalt Winfried Hempel (46). Auch er ist in der Colonia Dignidad aufgewachsen, konnte diese jedoch früh verlassen und studieren. Inzwischen vertritt er Opfer der Sekte. Er fordert, dass alle Colonos ein Stück Land der über 10.000 Hektar großen Siedlung zugesprochen bekommen. Vor allem aber müsse die Firmenstruktur demokratisiert werden. Eine Umfrage unter den 221 noch lebenden ehemaligen Bewohner:innen habe ergeben, dass mehr als Dreiviertel von ihnen wollen, dass die Firmenholding „aufgelöst wird oder wenigstens radikal umstrukturiert wird, so dass jeder Colono eine Stimme hat“, so Hempel.
Heute leben noch rund 120 Personen in der Siedlung, etwa hundert sind nach Deutschland gegangen, achtzig leben in anderen Orten Chiles. „Die Colonos sind heute nicht mehr so unmündig und unwissend wie vor zwanzig Jahren“, sagt Winfried Hempel. Er ist zuversichtlich, dass die Leitung der Firmenholding auf die Proteste reagieren muss. Aus dem Kreis der Personen, die Leitungspositionen in den Firmen der Villa Baviera besetzen, reagiert einzig die Leiterin des Tourismusbetriebs, Anna Schnellenkamp, die sich außerdem in einer „Sozial-AG“ für interne Belange der „Colonos“ engagiert, auf Anfrage des nd. Sie könne die Not der Menschen verstehen, erklärt sie, spricht sich gegen die Sperrung der Zufahrtsstraße aus, die offenen Fragen stünden inzwischen auf der Tagesordnung einer außerordentlichen Aktionärsversammlung.
Gedenkstätte scheinbar auf Eis gelegt
Auf Regierungsebene kommt die Aufarbeitung derzeit nicht voran. Planungen für die – lange fast sicher geglaubte – Errichtung einer Gedenkstätte und eines Dokumentationszentrum sind festgefahren, kritisiert der kulturpolitische Sprecher der Linken im Bundestag, Jan Korte. Im Auftrag einer deutsch-chilenischen Regierungskommission, die seit 2017 regelmäßig tagt, hatte ein deutsch-chilenisches Team von Expert:innen bereits 2021 ein Konzept für einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort in der Ex Colonia Dignidad erarbeitet und Chiles Präsident Gabriel Boric und Bundeskanzler Olaf Scholz haben sich im Januar 2023 öffentlich für eine Gedenkstätte ausgesprochen. Dennoch hat die chilenische Regierung die Gründung einer Stiftung zu deren Umsetzung kürzlich „auf unbestimmte Zeit verschoben“. „Leider“, heißt es aus dem Auswärtigen Amt dazu, habe „die chilenische Seite nun beschlossen, zunächst eine allgemeine Gedenkstättenrichtlinie zu erarbeiten“. Der Leiter der Menschenrechtsabteilung im chilenischen Außenministerium, Tomás Pascual verweist auf die komplexe Lage, dass die Villa Baviera in Privatbesitz ist und daher Enteignungs- und Entschädigungsfragen geklärt werden müssen. Er erklärt, die Errichtung einer Gedenkstätte sei „weder gescheitert noch gestoppt“. Faktisch schließt sich jedoch ein Zeitfenster. Die aktuellen Regierungen von Chile und Deutschland, die sich beide zu einer menschenrechtsorientierten Politik bekennen, haben zwei Jahre ihrer Regierungszeit ohne nennenswerte Fortschritte verstreichen lassen und sind dabei, die historische Chance zu vergeben, in ihrer Amtszeit bis 2025 gemeinsam eine Gedenkstätte festzumachen. Diese sei zum „Symbol für die Ernsthaftigkeit der Aufarbeitung“ geworden, erklärt der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Michael Brand. Er fordert eine direkte Intervention von Außenministerin Baerbock und Bundeskanzler Scholz, um die Gedenkstätte noch zu retten. Denn in beiden Staaten könnten die Bedingungen nach den nächsten Wahlen ungleich schwieriger werden.
Für Winfried Hempel ist es „ganz klar“, dass es eine Gedenkstätte in der Ex Colonia Dignidad geben muss, „die alle Opfergruppen professionell und auf gleicher Ebene darstellt“ und ist sich in diesem Fall mit Anna Schnellenkamp einig. Diese lobt einen seit 2014 vom Auswärtigen Amt finanzierten Dialogprozess des Teams der Gedenkstättenexpert:innen rund um die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen Elke Gryglewski mit den Betroffenen. Dieses habe sich das Vertrauen der Opfergruppen erworben, „weil sie geschafft haben, alle Seiten anzuhören und in den Treffen auch aufeinander zuzugehen“. Daher solle man ihnen auch Vertrauen für den weiteren Prozess zur Umsetzung einer Gedenkstätte schenken.
Spanische Version dieses Textes
Colonia Dignidad: Proteste und Straßenblockade für Land und Lohn von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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