Ich habe getan, was ich konnte für etwas mehr Gerechtigkeit

Salvador Allende 18 de septiembre de 1972, al lado derecho Luis Henríquez Seguel. Foto: Juan Maino Canales, detenido desaparecido en Chile desde 1976
Salvador Allende 18.9.1972, rechts im Bild Luis Henríquez Seguel. Foto: Juan Maino Canales, seit 1976 verschwundener politischer Gefangener in Chile

(Berlin, 28.5.2023, taz/npla.) Die Verbrechen der Colonia Dignidad schienen bis 1996 juristisch unantastbar. Da erstattete eine mutige Frau, deren Sohn in der deutschen Sektensiedlung sexualisierter Gewalt unterworfen war, Anzeige. Ihr Anwalt sowie einzelne engagierte Personen in der chilenischen Kriminalpolizei und der Justiz ermittelten zum ersten Mal ernsthaft und erfolgreich gegen die Colonia Dignidad. Einer von ihnen ist Luis Henríquez Seguel, ehemals stellvertretender Direktor der chilenischen Kriminalpolizei. Im Mai 2023 war er zu einer Veranstaltung in Berlin.

Herr Henríquez, Sie haben ab 1996 die Ermittlungen gegen die deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile geleitet und entscheidenden Anteil daran, dass Paul Schäfers Regime von sexualisierter Gewalt und Zwangsarbeit gestoppt wurde. Wie sah zuvor Ihre Arbeit bei der chilenischen Kriminalpolizei aus?
Nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 arbeitete ich bei der Policía de Investigaciones (PDI) in Santiago in einer Abteilung für Innere Angelegenheiten. Unsere Aufgabe war es, gegen Korruption in der eigenen Institution vorzugehen und belastete Personen zu entfernen. Ich möchte betonen, dass die PDI unabhängig von den Carabineros war, die Teil der Militärjunta waren. Die PDI war das nicht. In der Abteilung für Innere Angelegenheiten habe ich auch die nationale Kommission zur Analyse und Koordination geleitet, die die Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur vorangetrieben hat. Wir hatten wenig Mittel, waren aber ein engagiertes Team, haben Militärs und Zivilisten identifiziert, die für die Repressionsorgane gearbeitet hatten und konnten einige verhaften, auch solche wie Osvaldo Romo oder Miguel Estay, die sich nach Brasilien oder Paraguay abgesetzt hatten.

Warum begannen die Ermittlungen gegen die Colonia Dignidad, deren Straftaten schon lange bekannt waren, erst so spät?
Nach meinem Eindruck wollte die Regierung, dass wir ermitteln – aber bitte nicht zu schnell, denn Pinochet hatte die Macht gerade erst übergeben, die politische Situation war sehr labil. Die Verbrechen der Colonia Dignidad waren ein Tabu. Es war uns bis 1996 nicht gelungen, dieses Thema anzufassen. Die Kolonie hatte die besten Anwälte und genoss Unterstützung von einem Netzwerk vieler wichtiger Personen. Es gab Untersuchungen wegen Berichten von Folter und Verschwindenlassen von politischen Gefangenen in der Colonia Dignidad. Doch es war unmöglich, das Privatgelände zu betreten. Wir konnten am Eingangstor Fragen stellen und wurden oft wieder abgewiesen, auch mit der Begründung, die Bewohner würden kein Spanisch verstehen.

Daher rührt auch der Ausspruch „La Colonia siempre gana“ – „Die Kolonie gewinnt immer“. Wie kam es, dass Sie ab 1996 doch effizienter gegen die Colonia Dignidad vorgehen konnten?
Im Juni 1996 kam Jacqueline Pacheco zu uns, die Mutter eines 12-jährigen Jungen, der von Sektenchef Paul Schäfer in der Siedlung sexuell missbraucht worden war. Ursprünglich war sie der Villa Baviera – so hieß die Siedlung seit Ende der 1980er Jahre offiziell – gegenüber positiv eingestellt. Sie gehörte sogar einem Unterstützungskomitee (Vigilia Permanente) von Menschen aus den umliegenden Ortschaften an, die die Villa Baviera und die angeblich wohltätige Versorgung im Krankenhaus der Siedlung verteidigten. Damals wussten sie nicht, dass das Krankenhaus Geld vom chilenischen Staat bekam und dass das mit Wohltätigkeit nichts zu tun hatte.

Jacqueline Pachecos Sohn lebte mehrere Monate in der Kolonie, um ein sogenanntes Intensivinternat zu besuchen. Er konnte die streng abgeriegelte Siedlung nicht verlassen. Es gelang ihm aber, eine Nachricht an seine Familie herauszuschleusen, dass Schäfer ihn vergewaltigte. Aber warum erstattete Pacheco Anzeige bei Ihnen?
Sie befürchtete Repressalien, wenn in der Colonia Dignidad bekannt würde, dass sie Anzeige erstattet hatte. Sie vertraute den Behörden aus den umliegenden Orten Parral, San Carlos, Talca, Linares oder Chillán nicht. Denn sie wusste, dass auch Politiker und Militärs, Polizisten und Richter zu Feierlichkeiten in die Colonia Dignidad eingeladen wurden und Geschenke bekamen. Die chilenische Menschenrechtskommission hat Jacqueline Pacheco zu uns geschickt, wohl weil wir als unbestechlich galten. Wir haben den Richter Jorge Norambuena in Parral, der nächstgrößeren Stadt zur Colonia Dignidad, persönlich informiert, und er hat die Akte unter Verschluss gehalten. So haben wir zwei oder drei Monate Zeit gewonnen und mit den Ermittlungen begonnen. Als die Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs bei uns einging, konnten wir diese Ermittlungen außerdem mit denen wegen Folter und Verschwindenlassen in der Colonia Dignidad verbinden.

Wie hat Ihr Team diese Ermittlungen geleistet?
Wir hatten sehr wenige Mittel, aber viel Engagement. Ich habe ein kleines Team zusammengestellt mit meist jungen Menschen, die Erfahrungen in der Arbeit zu sexueller Gewalt hatten und gut mit den traumatisierten Kindern und deren Familien umgehen konnten. Zusammen mit Jacqueline Pacheco und dem Anwalt Hernán Fernández haben wir weitere chilenische Familien ausfindig gemacht, deren Kinder in der Villa Baviera missbraucht wurden.

Monate später kam es zu Durchsuchungen in der Siedlung. Warum konnten Sie Schäfer nicht verhaften?
Diese Einsätze haben wir mit 30 bis 100 Personen gemacht, auch mit Einheiten der Carabineros. Das war auch nötig, denn wir wussten, dass viele in dieser angeblich wohltätigen Vereinigung Schusswaffen hatten. Allein auf den Namen des Sektenarztes Hartmut Hopp waren drei Pistolen angemeldet. Schäfer wurde die Information vorab zugespielt, wir konnten ihn nicht finden, er hielt sich in einem Bunker versteckt. Um Schäfer zu verhaften, mussten wir das Gelände kennenlernen und in Erfahrung bringen, wo politische Gefangene gefoltert oder ermordet worden waren. Das war sehr schwer, denn die Bewohner veränderten Wege und Häuser, sogar den Teich haben sie verlegt.

1997 floh Schäfer mit einigen Unterstützer:innen nach Argentinien, lebte in der Nähe von Buenos Aires. Er wurde erst 2005 entdeckt, verhaftet und zu 20 Jahren Haft verurteilt. 2010 starb er im Gefängnis in Santiago. Deutschland und Chile schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu.
Was in den Jahrzehnten der Colonia Dignidad geschehen ist, war schrecklich, auch für die vielen deutschen Opfer, die in der Sektensiedlung gelitten haben. Natürlich ist Chile verantwortlich, weil diese Dinge auf chilenischem Boden geschehen sind. Aber auch die deutsche Botschaft in Chile kannte die Berichte derjenigen, die aus der Siedlung fliehen konnten wie Wolfgang Kneese 1966. Deutsche Behörden sagten immer, Chile sei zuständig. Chilenische Behörden meinten, sie seien nicht zuständig, weil es um deutsche Staatsangehörige ging.

In den 1990er und 2000er Jahren waren Sie als stellvertretender Direktor der PDI und im Auftrag der Vereinten Nationen als Ausbilder für menschenrechtliche Standards bei der Polizei auch in anderen Ländern im Einsatz. Dass Sie dahin gekommen sind, hat eine lange Vorgeschichte. Wie sind Sie eigentlich ursprünglich zur Polizei gekommen?
Ich wollte immer Polizist werden. Mit 18 Jahren habe ich einen Ausbildungskurs bei der Polizei angefangen und ab dem dritten Monat schon etwas Geld verdient. Ich habe nicht studiert, meine Eltern waren in einer schwierigen finanziellen Lage, ich musste sie unterstützen. Ich habe bei der Polizei damals auch Regelverstöße und Machtmissbrauch gesehen und konnte nichts dagegen tun. Eine Zeit lang habe ich überlegt, den Beruf zu wechseln. Während eines Krankenhausaufenthalts habe ich einem Priester davon erzählt und er antwortete mir: „Junger Mann, Sie irren sich. Wenn Sie etwas verändern wollen, müssen Sie in der Institution bleiben und irgendwann einen wichtigen Posten erreichen, auf dem Sie Entscheidungen treffen können.“ Der Priester hatte Recht!

Sie waren Anhänger des Sozialisten Salvador Allende, der 1970 als Anführer des Linksbündnisses Unidad Popular zum Präsidenten gewählt wurde.
Als Allende gewählt wurde, habe ich gefeiert. Aber für mich alleine. Ich konnte das nicht offen mit meinen Kollegen tun. Die meisten waren für einen anderen Kandidaten. Ich habe Allende später erlebt, wie er mit Miguel Enríquez, dem Anführer der linken MIR und mit Fidel Castro sprach. Anders als die Rechten in unserem Land es darstellten, war Allende ein überzeugter Demokrat, der über Wahlen und auf demokratischem Weg zum Sozialismus kommen wollte.

Eine ihrer Aufgaben war damals auch die Observation der rechtsextremen paramilitärischen Organisation Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit).
Zuerst war ich in einer Einheit, die Autodiebstahl ermittelte und wurde zusätzlich einer Abteilung für Informationsbeschaffung zugeordnet. Dort war meine erste Aufgabe, den Anwalt Pablo Rodríguez Grez zu beschatten. Dabei konnten wir bestätigen, dass er das öffentliche Gesicht von Patria y Libertad war und als Anwalt eine juristische Schutzfunktion hatte.
Während unserer Observationen stellten wir auch fest, dass eines der Trainingslager, zu denen Patria y Libertad und eine andere Organisation, das Comando Rolando Matus, Leute einlud, in der Colonia Dignidad war und von Schäfer und seinen Anhängern betrieben wurde. Dabei wurde der Umgang mit Waffen geübt, wurden Anschläge und Straßenblockaden trainiert und der Tanquetazo vorbereitet, der erste Putschversuch von Militärs und Patria y Libertad, der am 29. Juni 1973 scheiterte. Danach löste sich Patria y Libertad auf. Die Angehörigen der Organisation gliederten sich in den Geheimdienst DINA oder andere Repressionsorgane ein.

Den dann erfolgreichen Putsch am 11. September 1973 haben Sie selbst im Regierungspalast La Moneda erlebt und berichten darüber in Ihrem Buch „Los detectives de la Moneda“. Welche Funktion hatten Sie?
Ich gehörte damals zu der Polizeiwache des Präsidenten Salvador Allende. Wir waren 17 Kriminalbeamte der PDI. Am 11. September 1973 waren wir alle in der Moneda und haben die Angriffe mit Artilleriebeschuss und die Bombardierungen aus der Luft erlebt. Alles war mit Tränengas vernebelt, die Moneda zerstört. Als klar wurde, dass wir keine Chance mehr hatten, hat sich der Präsident von uns allen verabschiedet. Jedem einzelnen hat er die Hand gegeben und uns „gracias, compañero“ gesagt. Anschließend hat er sich im Saal Toesca selbst erschossen.

Sie wurden verhaftet. Wie und warum haben Sie überlebt?
Einige Personen hatten die Moneda im Laufe des Tages verlassen. 55 Personen wurden am Nachmittag verhaftet, darunter Minister, politische Berater, Ärzte, Mitglieder der GAP („Gruppe der persönlichen Freunde Allendes“, die politische Wacheinheit Allendes, Mitglieder der Sozialistischen Partei) und unsere Einheit. Wir lagen mit dem Gesicht zum Boden und im Nacken verbundenen Händen auf der Straße und wurden anschließend in das Artillerieregiment Tacna gebracht, dort verhört und misshandelt. Die meisten wurden erschossen, von vielen wussten wir über Monate lange nicht, was mit ihnen geschehen war. Aber wir von der PDI, die 17 administrativen Kriminalbeamten ohne politische Funktion, wurden nach 28 Stunden ohne Nahrung und Wasser unter Auflagen freigelassen. Unser Vorgesetzter ging ins Exil, wir anderen wurden auf andere PDI Einheiten verteilt und standen unter Beobachtung. Ich glaube auch, dass wir überleben sollten, weil wir Zeugen von Allendes Selbstmord waren und darüber berichten sollten.

Luis Henríquez Seguel stellvertretender Direktor Kriminalpolizei Chile PDI Ermittlungen Colonia Dignidad
Luis Henríquez Seguel, November 2020, Foto: Ute Löhning

Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht?
Als ich am Abend des 12. September nach Hause kam, konnte ich kaum glauben, dass ich überlebt hatte. Seitdem hat sich meine Lebensphilosophie verändert. Ich lebe mein Leben und jeden Tag intensiver.

Was haben Sie in den 17 Jahren der Diktatur bis 1990 gemacht? Waren Sie in die politische Repression der Diktatur verwickelt?
Einige meiner Kollegen wurden zu den Repressionsorganen (DINA, CNI) geschickt, und sie sind dorthin gegangen. Ich habe so etwas nie getan. Zum einen, weil meine Kollegen bei der Polizei mich als Linken ansahen und niemand mir vertraute. Zum anderen hatte ich immer meine Haltung, dass ich die Dinge korrekt mache, und das wussten alle. Hätte mir jemand befohlen, etwas zu tun, was nicht in Ordnung gewesen wäre, hätte ich nicht weiter bei der Polizei gearbeitet. Die Vorgesetzten wussten genau, wem sie welche Aufträge geben konnten – und wem nicht. Oft habe ich an den Priester gedacht, der mir sagte, dass ich bei der Polizei bleiben sollte und eines Tages Entscheidungen treffen und etwas Nützliches tun könnte. Tatsächlich denke ich, dass ich meinen bescheidenen Anteil beigetragen habe. Es interessiert mich nicht, ob andere mehr Auszeichnungen bekommen. Ich habe meine Pflicht getan und das, was ich konnte für etwas mehr Gerechtigkeit.

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