Geschehnisse in Senkata auch nach einem Jahr unaufgeklärt

(La Paz, 30. November 2020, npla).- Es war im November 2019, als Militär und Polizei in Senkata das Feuer auf Demonstrierende eröffneten. Diese hatten zuvor tagelang ein Treibstofflager in dem Vorort von El Alto blockiert. Es waren die Tage nach dem Rücktritt von Evo Morales und El Alto und die Provinzen rund um den Regierungssitz waren in Aufruhr. Sie alle wollten die Politik des Wandels, die die Regierung Morales eingeleitet hatte, verteidigen. Mit dem Amtsantritt von Jeanine Áñez sahen sie die Errungenschaften dieser Politik in Gefahr.

Iveth Savaria läuft es noch heute kalt den Rücken hinunter, wenn sie an jenen Dienstag im November vergangenen Jahres denkt. Das Kulturzentrum, das sie leitet, ist nur ein Steinwurf von der Anlage der YPFB, dem staatlichen Gasunternehmen Boliviens entfernt. Nicht nur der Hall des Gewehrfeuers war im Kulturzentrum deutlich zu hören, sondern es drangen auch die Schwaden des Tränengases herüber. Irgendwann, so die Sozialarbeiterin, waren die Soldaten auch vor dem Kulturzentrum, „sie schossen auch aus Helikoptern und töteten, wen sie konnten“.

„Ich bin mir sicher, dass es noch mehr gibt, die still und heimlich gestorben sind“

Am ersten November 2020, knapp ein Jahr später, gibt es an Allerheiligen eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Massakers. „Wir haben heute erfahren, dass es ein weiteres Opfer der Militäraktion gibt“, meint Iveth Savaria mit unsicherer Stimme, „jetzt sind es nicht 12, sondern 13 Tote, die wir zu beklagen haben“. Der Familienvater ist nicht auf den Fotos des Altars zu sehen, den Angehörige gemeinsam mit Unterstützer*innen aufgebaut haben, „erst heute morgen hat mich seine Tochter informiert“, meint David Inca von der ständigen Menschenrechtsversammlung aus El Alto mit glasigen Augen.

Allerheiligen ist in Bolivien ein Fest. Der Ehrentag der Toten, bei dem man sich fröhlich mit den Verstorbenen trifft. So soll es auch an diesem sonnigen ersten November in Senkata sein. Die Nachricht von einem weiteren Verstorbenen trübt die Stimmung jedoch. „Er war einer von 34 Verletzten, der sich nach dem Massaker aufs Land flüchtete“, meint der Menschenrechtsaktivist Inca, „die Repression war heftig damals“, fügt er hinzu. In jenen Tagen gab es eine ganze Reihe von Berichten darüber, dass den Verletzten in Krankenhäusern die medizinische Versorgung verweigert wurde oder von Drohbesuchen der Polizei, bei denen den Betroffenen nahegelegt wurde, sich nicht zu der Militäroperation zu äußern. Der damalige Verteidigungsminister López behauptete, dass in Senkata kein Schuss gefallen sei. Nach unbestätigten Berichten beseitigte die Polizei dafür sogar Leichen. Daher zogen es viele vor, sich in ihre Dörfer zurückzuziehen, so auch das an Allerheiligen bekannt gewordene Todesopfer. „Er war ein einfacher Campesino“, meint David Inca: „Er hatte zwei Schusswunden im Bein, die er selber behandelte. Ich bin mir sicher, dass es noch mehr gibt wie ihn, Leute, die still und heimlich gestorben sind“.

Noch herrscht Skepsis gegenüber den zögerlichen Bemühungen der MAS

Ein Jahr später hat sich die politische Stimmung gedreht. Nach dem Wahlsieg von Luis Arce und der Bewegung zum Sozialismus (MAS) sind die Toten nun die Märtyrer*innen. An diesem ersten November schaut der frisch gewählte Präsident vorbei und verspricht Gerechtigkeit. Auch andere Politiker*innen geben ihr Stelldichein, darunter Eva Copa, die Senatspräsidentin während der Präsidentschaft von Áñez war und bei den kommenden Kommunalwahlen gerne Bürgermeisterin von La Paz werden würde.

David Inca ist die Skepsis anzumerken, als er auf die neue Situation angesprochen wird. Vergangenes Jahr ließ sich keiner der Politiker*innen blicken. Nach dem Massaker gab es zwar eine große Mobilisierung und zehntausende Campesinos und Indígenas kamen nach Senkata. Das führte immerhin dazu, dass die Übergangsregierung damals mit den Mobilisierten verhandelte, Inca selbst wurde jedoch immer wieder für sein Engagement angefeindet, zwischendurch sogar kurzzeitig verhaftet. Auch deswegen meint er zweifelnd: „Bisher gab es nur zögerliche Versuche der MAS, die Vorfälle untersuchen zu lassen“, meint er und hält politische Absprachen für möglich, weil „die Vorwürfe gegen Evo Morales und die Minister, die bereits unter Anklage standen, letzte Woche fallen gelassen wurden“. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Opfer militärischer Gewalt in Bolivien keine Gerechtigkeit finden. Opferverbände der Hinterbliebenen des Kriegs um das Erdgas von 2003 beklagen bis heute, dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.

Vielleicht wird es dieses Mal aber anders. Ende November wiederholte Arce seine Forderung nach Gerechtigkeit für die Opfer des Massakers in Senkata. Inzwischen ist eine internationale unabhängige Expert*innenkommission eingetroffen, die die Vorfälle erneut untersuchen soll. Dass es dennoch unsicher ist, ob die Wahrheit ans Licht kommt und es Gerechtigkeit für die Opfer von Senkata gibt, liegt an der schwach aufgestellten Justiz in Bolivien, die selten unabhängig urteilt, die Aufklärung von Verbrechen allzu oft verschleppt und sich nach den politischen Machthaber*innen richtet. Das weiß auch Iveth Savaria, die Sozialarbeiterin aus dem Kulturzentrum. Dennoch wird sie weiter für die Aufklärung der Vorfälle am 19. November 2019 streiten: „Wir kämpfen dafür, dass aufgedeckt wird, dass untersucht wird, damit man herausfindet, wer die Schuldigen dieses Massakers sind und wer diejenigen sind, die die Menschenrechte verletzt haben.“

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