(18.04.2023, nd/npla) Fast 50 Jahre ist es her, dass Augusto Pinochets Militärjunuta in Chile den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende gestürzt hat und dass dieser Putsch am 11. September 1973 in der Colonia Dignidad gefeiert wurde. Anschließend richtete der chilenische Geheimdienst DINA auf dem Gelände der deutschen Sektensiedlung ein Gefangenenlager ein. Hunderte Gegner:innen der Diktatur (1973 bis 1990) wurden dort gefoltert, Dutzende ermordet und zu Verschwundenen, ihr Schicksal und Verbleib sind bis heute nicht aufgeklärt.
„Die Mütter der Verschwundenen sterben, ohne zu wissen, wie und wo ihre Angehörigen ermordet wurden“, sagt Myrna Troncoso Muñoz, deren Bruder Ricardo 1973 verhaftet wurde und seitdem verschwunden ist. „Wir brauchen einen Ort zum Trauern und wollen, dass das Leid, das in der Colonia Dignidad geschehen ist, dort dargestellt wird.“
Tourismus im bayerischen Stil
Doch stattdessen floriert in der Siedlung, in der heute rund 120 Personen leben, und die sich inzwischen Villa Baviera nennt, ein Tourismusbetrieb im bayerischen Stil. Gäste kommen vor allem wegen des guten Essens, der frischen Luft und der Ruhe an dem idyllisch am Fuß der Anden gelegenen Ort. Eine Gedenkstätte oder ein Dokumentationszentrum gibt es bis heute nicht: weder für die auf dem Gelände gefolterten und verschwundenen politischen Gefangenen, noch für die Chilen:innen aus der Umgebung oder die Bewohner:innen der 1961 gegründeten deutschen Siedlung, die sogenannten „Colonos“, die jahrzehntelang Zwangsarbeit und sexualisierter Gewalt unterworfen waren. „Der Vergnügungstourismus ist beschämend und muss eingestellt werden“, erklärt der Journalist Gabriel Rodríguez. Er wurde 1976 als Gefangener in der Colonia Dignidad misshandelt, hat aber überlebt. „Am wichtigsten ist es, auf dem Gelände eine Gedenkstätte einzurichten“, sagt er heute.
Am wichtigsten ist es, auf dem Gelände einen Gedenkort einzurichten
2016 hatte Frank-Walter Steinmeier eine moralische Mitverantwortung Deutschlands eingeräumt. Denn bundesdeutsche Behörden wussten zwar von den Verbrechen der 1961 gegründeten Colonia Dignidad, verhinderten diese aber nicht. Sie unterhielten sogar gute Beziehungen zur Sektenführung rund um den deutschen Laienprediger Paul Schäfer. Seitens der deutschen Justiz blieben die Taten allesamt straflos. Doch 2017 beschloss der deutschen Bundestag einstimmig, die Verbrechen der Colonia Dignidad aufzuarbeiten – auch mittels der Errichtung eines Gedenk- Dokumentations- und Lernortes.
Das könnte die von den Regierungen Chiles und Deutschlands gegründete „Gemischte Kommission zur Aufarbeitung der Colonia Dignidad“ nun auch beschließen. Am 18. April reisen chilenische Regierungsangehörige zu einer entscheidenden Sitzung nach Berlin. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es dazu, die Bundesregierung setze sich gemeinsam mit der chilenischen Regierung für eine Gedenkstätte ein und man verweist auf die Erklärung von Bundeskanzler Scholz, der „bei seinem jüngsten Chile-Besuch Ende Januar 2023 bekräftigt [hat], dass Deutschland die chilenische Regierung bei diesem Projekt unterstützen und seinen Beitrag leisten wird“.
Allerdings hatten 2018 auch schon Angela Merkel und der damalige Präsident Chiles Sebastián Piñera beim Staatsbesuch in Berlin zusammen verkündet: „Wir arbeiten an einer Übereinkunft zur Einrichtung eines Dokumentationszentrums“. Außenministerin Baerbock positioniert sich bislang nicht zum Thema Colonia Dignidad, eine Vision oder Strategie ist nicht zu erkennen. Dabei ist die jetzige Konstellation mit der Ampelregierung in Deutschland und der linken Regierung unter Gabriel Boric in Chile günstig und eröffnet ein Zeitfenster zur Errichtung einer Gedenkstätte.
Ein Konzept für eine Gedenkstätte wurde bereits erstellt
Ein Konzept dafür hatte die Gemischte Kommission von zwei deutschen und zwei chilenischen Expert:innen bereits erstellen lassen. Demzufolge sollen in dem Gedenk-, Dokumentations- und Lernort die Geschichte und das Leid aller Opfergruppen dargestellt werden: der Verschwundenen und der politischen Gefangenen, der Betroffenen von sklavenähnlicher Arbeit, sexualisierter Gewalt, Zwangsadoption und Landvertreibung.
Die Einschätzungen von Betroffenen zur praktischen Umsetzung gehen allerdings weit auseinander. So ist die Vertreterin des Angehörigenverbandes von Verschwundenen aus der chilenischen Region des Mauleflusses, Myrna Troncoso, sehr verunsichert. Es könne keine Gedenkstätte errichtet werden, hätten ihr chilenische Angehörige der Gemischten Kommission in der letzten Woche kurzerhand erklärt, so versichert sie. Denn auf chilenischer und auch auf deutscher Seite fehle es an Geld für die Finanzierung.
Der frühere politische Gefangene Gabriel Rodríguez hingegen begrüßt die Ankündigungen von chilenischen Regierungsvertreter:innen, eine Stiftung mit dem Ziel der Errichtung eines Gedenkortes gründen zu wollen und bis dahin zwölf Gedenktafeln an historisch bedeutsamen Objekten anzubringen, die Teil dieses Gedenkortes werden sollen.
Gedenken – und Wohnen?
Anna Schnellenkamp ist in der deutschen Siedlung aufgewachsen. Heute leitet sie den Tourismusbetrieb und engagiert sich in einer Sozial-AG für interne Angelegenheiten in der Villa Baviera. Sie betont, dass viele Bewohner:innen der Errichtung einer Gedenkstätte positiv gegenüberstehen, sofern sie weiterhin auf dem Gelände wohnen könnten und dafür angemessenen Wohnraum erhielten. Darüber habe die Sozial-AG mit Angehörigen der Gemischten Kommission gesprochen. Außerdem erhoffe sich die Sozial-AG professionelle Unterstützung bei der Aufklärung der ungerechten Verteilung von Aktien und Besitz in der Villa Baviera und habe einen entsprechenden Antrag an die deutsch-chilenische Regierungskommission gerichtet, so Schnellenkamp.
Aufklärung der Besitzverhältnisse
Die Villa Baviera ist als intransparente Firmenholding verschachtelter geschlossener Aktiengesellschaften strukturiert. Macht und Vermögen liegen in Händen weniger Personen. Die „Klärung der Besitzverhältnisse der Colonia Dignidad/Villa Baviera voranzutreiben, auch mit dem Ziel, dass Mittel aus dem Vermögen konkret den Opfern zugutekommen“, ist auch Teil der vom deutschen Bundestag 2017 geforderten Aufarbeitung. Bisher hat die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zwar Einblick in Bücher der Aktiengesellschaften erhalten und für mehr als 100.000 Euro eine Machbarkeitsstudie für eine weitergehende Untersuchung der Vermögensverhältnisse erstellt. Die Ergebnisse bleiben aber unter Verschluss, da sich die Leitung der Firmenholding Verschwiegenheit ausbedungen hatte.
Wenn es auf dieser Strecke nun voranginge, könnten auch die (Ex-)Colonos profitieren, die unter sehr prekären Bedingungen leben. Dazu gehören vor allem jene, die die Villa Baviera verlassen haben und an anderen Orten Chiles leben. „Wir, die wir außerhalb leben, sind auf uns allein gestellt und brauchen am dringendsten Unterstützung“, sagt Doris Gert, die in der Colonia Dignidad aufgewachsen ist und dort jahrzehntelang ohne Lohn arbeiten musste. Nun lebt Doris Gert mit ihrer Familie im Süden Chiles und macht Gelegenheitsjobs. Über ein Hilfskonzept der Bundesregierung hat sie und rund 150 weitere Opfer der Sekte Einmalzahlungen von bis zu 10.000 Euro vom deutschen Staat erhalten. Ein ebenso beschlossener „Fonds Pflege und Alter“ just für die in Chile außerhalb der Villa Baviera lebenden Betroffenen ist bislang nicht umgesetzt.
Doris Gert erhält weder staatliche Unterstützung, noch profitiert sie von den Einrichtungen der Villa Baviera, die mit deutschen Steuergeldern unterstützt werden. Derzeit finanziert der deutsche Staat mit knapp 100.000 Euro jährlich Personal der Alten- und Pflegestation in der Siedlung.
Dieser Artikel ist in etwas anderer Form zuerst in Neues Deutschland erschienen.
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