(Oaxaca-Stadt, 29. November 2024, el salto).- „Die Popularisierung der Traditionen führt dazu, dass sie zur Ware werden“, sagt Mario Arturo Martínez, ein international bekannter Fotograf aus Oaxaca. „Wir erleben die Folgen einer perversen Logik, die nach Kolonialismus riecht.”
Überfüllte Straßen und Bars. Ein überraschend homogenes Publikum. Auf den schicken Terrassen des historischen Zentrums sind die Kund*innen meist blond und englischsprachig. Die Feierlichkeiten zum Tag der Toten in Oaxaca sind in diesem Jahr von einer überraschend glamourösen Atmosphäre geprägt. „Es gab einen Wendepunkt im Jahr 2017, als der Film Coco herauskam und plötzlich Tausende und Abertausende von ausländischen Touristen zum Tag der Toten kamen“, sagt Diana García, Architektin aus Oaxaca. „Dazu muss man erwähnen, dass die sechsjährige Amtszeit von Alejandro Murat gerade erst begonnen hatte.“
Der Gouverneur von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) setzte auf eine extreme Tourismusstrategie. 2022 hat seine Regierung mit teurer Werbung bis nach New York für den Tourismus in Oaxaca geworben.
„Die Familien besuchen ihre Toten auf den Friedhöfen, und plötzlich kommen Busse mit ausländischen Touristen.“
„Die Familien besuchen ihre Toten auf den Friedhöfen, und plötzlich kommen Busse mit ausländischen Tourist*innen“, sagt die Architektin, die ursprünglich aus der Hauptstadt stammt. „Jetzt verwandeln sich die zentralen Viertel in Ferienorte, und das verändert die soziale Dynamik völlig: Stell dir vor, du siehst jeden Tag Tourist*innen, die vor deinem Haus ein Selfie machen.“
Massentourismus und Gentrifizierung
„Während der Pandemie kamen viele Menschen aus den Großstädten hierher, weil es für sie bequemer war, online zu arbeiten, und dieses Phänomen hat nach der Krise der Gesundheitsversorgung noch zugenommen“, erklärt Mario Arturo Martínez. „Das Leben wird schnell immer teurer, und die meisten Bewohner*innen des Stadtzentrums mussten bereits wegen der steigenden Mieten an den Stadtrand ziehen.“
Laut dem Fotografen sorgen Massentourismus und Gentrifizierung für Risse im sozialen Gefüge Oaxacas: „Viele Gringos (Nordamerikaner*innen, Anm. d. R.) oder europäische Ausländer*innen kommen mit einer Erwartungshaltung nach Oaxaca; sie verlangen, dass sich die Stadt ihren Bedürfnissen anpasst, anstatt dass sie sich selbst anpassen“, sagt er. „Sie integrieren sich nicht und arbeiten nicht, weil sie es nicht müssen, und manchmal versuchen sie nicht einmal, Spanisch zu lernen.“
Eine Abgrenzung, die Empörung hervorruft. „Oaxaca war schon immer eine Stadt im ständigen Kampf, und jetzt gibt es ein allgemeines Gefühl der Übersättigung“, sagt der Fotograf, der auch am Zentrum für Fotografie Manuel Álvarez Bravo unterrichtet. „Als Bürger*innen müssen wir das Problem verstehen und es stoppen; jetzt gibt es eine Widerstandsbewegung, die an Stärke gewinnt.“
Ein Aufschrei der Empörung
Das Ereignis, das zweifellos die meisten Tourist*innen nach Oaxaca-Stadt lockt, ist die Guelaguetza. Ursprünglich war diese Tradition ein Fest des kulturellen Austauschs im Bundesstaat. Ihr Name bezeichnet eine Haltung der Gegenseitigkeit und stammt aus der zapotekischen Sprache, die von etwa 500.000 Menschen in Oaxaca gesprochen wird. Dieser wichtige Begriff der zapotekischen Kultur, der an die gegenseitige Unterstützung der indigenen Völker des Bundesstaates erinnert, gab der Fiesta de los Oaxaqueños vor fast hundert Jahren ihren Namen.
Obwohl es sich um ein Fest tief verwurzelter Kulturen und Bräuche handelt, fragen sich heute viele im Bundesstaat, ob dieses Fest noch den Bewohner*innen von Oaxaca gehört. Die „Lunes del Cerro“ sind zu einer kommerziellen Veranstaltung von internationalem Format geworden, die ein privilegiertes Publikum anzieht, das vor allem aus dem Ausland kommt, was die Eintrittspreise für bestimmte Plätze auf über tausend Dollar steigen lässt.
Yesenia Morales, eine soziale Anführerin aus San Pablo Güilá, einem Ort etwa 72 Kilometer von Oaxaca-Stadt entfernt, in der Zapotekisch die Hauptsprache ist, hat in einer Rede ihre Empörung über diese Situation zum Ausdruck gebracht. Während der Gelaguetza-Feierlichkeiten prangerte Morales die Luxusrestaurants an, die die Gerichte der Frauen übernehmen und dann wegwerfen würden, die Unternehmen, die sich an ihren Textilien bereicherten, sowie die Besucher*innen, die ihre Gemeinden gentrifizierten. Ihre Rede ging in den sozialen Medien und der mexikanischen Presse viral.
„Die Verdrängung ist real“
„Sie haben sich hier Elemente angeeignet, die zu den Kulturen der indigenen Völker gehören, wobei sie deren Bedeutung vergessen und ihnen eine Bedeutung geben, die sie nicht haben“, sagte Yesenia Morales, die an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) Verwaltung studiert hat, in einem Interview.
„Die Gentrifizierung ist global, national und landesweit“, sagte sie. „Es kommen Leute mit größerer Kaufkraft und die Bevölkerung muss in ein anderes Gebiet abwandern; wir können es in der Stadt sehen, die Verdrängung ist real. Ihr Diskurs hebt die Begünstigung der kulturellen Aneignung hervor. „Oaxaca wird als das kulturelle Herz Mexikos bezeichnet“, sagt sie. „Es hat viele Fälle von kultureller Aneignung gegeben, und das gerade wegen des Reichtums unserer Traditionen. Eine Situation, die mit anderen Arten von Missbrauch, wie der Ausbeutung des Territoriums, zusammenhängt. „Der Bergbau ist eine reale Bedrohung für die Gemeinden“, erklärt Yesenia. „Es ist wichtig, dass die Menschen sich dieser Gefahren bewusst werden, die vor allem für die indigenen Einwohner*innen Oaxacas weiter bestehen. Die soziale Aktivistin setzt sich für den Erhalt der Kulturen dieser Völker ein und engagiert sich in verschiedenen Projekten in San Pablo Güila.
Proteste und Repression
Am 27. Januar 2024 fand in Oaxaca ein Demo gegen Gentrifizierung statt. Mehrere soziale Organisationen gingen auf die Straße, um gegen die Umwandlung ganzer Stadtviertel in touristische Zonen und die globale Ungerechtigkeit durch Gentrifizierung zu protestieren. Die Demonstration wurde landesweit bekannt, vor allem durch die gewaltsame Repression an jenem Tag.
Die Demo endete mit der Verhaftung von sechs Teilnehmer*innen, die angaben, während ihrer 72-stündigen Haft psychische, sexuelle und physische Folter erlitten zu haben. „Seit meiner Verhaftung kann ich immer noch nicht trainieren, weil ich schwere Verletzungen am Rücken habe, die durch die körperlichen Angriffe verursacht wurden“, sagte Filadelfx Aldaz in einem Interview. „Ich befinde mich jetzt in einer sehr teuren und unbezahlbaren psychopharmakologischen und medizinischen Behandlung und bin außerdem mit einem Gerichtsverfahren konfrontiert. Das ist alles sehr zermürbend.”
Filadelfx ist Teil eines Gemeinschaftsprojekts mit einer außergewöhnlichen Mission in Oaxaca, der Gemeinschaftsküche Nkä’äymyujkëmë. “Das ist ein Name in der Ayuuk-Sprache, der zur Ayuuk-Region und -Kultur innerhalb des sogenannten „Oaxaca“ gehört und ins Spanische mit ‚Lasst uns organisieren und gemeinsam essen‘ übersetzt werden kann.“ Er habe sich der Demo angeschlossen, weil Ungerechtigkeit und Rassismus in Oaxaca-Stadt alarmierende Ausmaße angenommen hätten, betont er.
„Sie benutzen die Kulturen, die es in Oaxaca gibt, um ein millionenschweres Spektakel wie die Guelaguetza zu veranstalten, wodurch wir unter der Folklorisierung leiden.“
Die Gemeinschaftsküche bereitet Essen zu und gibt es an die Bedürftigsten – hauptsächlich Migrant*innen und Obdachlose – im Zentrum von Oaxaca-Stadt aus. „Ich sehe die Rassifizierung, die Kriminalisierung und die gewaltsamen Vertreibungen, unter denen Menschen mit weniger Ressourcen aufgrund von Tourismus und Gentrifizierung leiden“. Er ist empört über die kommerzielle Logik, die hinter Veranstaltungen wie der Guelaguetza und dem Tag der Toten steckt und erklärt, dass sie den Interessen einer Minderheit dient und der Bevölkerung schweren Schaden zufügt.
„Sie benutzen die Kulturen, die in Oaxaca existieren, um ein millionenschweres Spektakel wie die Guelaguetza zu veranstalten, wodurch wir unter der Folklorisierung leiden“, empört sich Filadelfx. „Sie wollen, dass wir Indígenas als Folklore dienen, sie wollen, dass wir wie die Figuren sind, die sie auf bestimmte Wände malen, mit indigener Kleidung, aber reduziert auf eine Verkleidung, damit es mehr schöne Dinge für Geschäftsleute, Regierungsbeamt*innen und Tourist*innen zu sehen gibt, und damit sie mehr Geschäfte machen können.“
Der Ayuuk-Indigene Filadelfx stammt ursprünglich aus der Gemeinde Santiago Atitlán Mixe in der Sierra Norte von Oaxaca. Er hat Erziehungswissenschaften an der Autonomen Universität Benito Juárez von Oaxaca (UABJO) studiert und ist neben der Leitung des Gemeinschaftsprojekts auch Lehrer und unterrichtet die Ayuuk-Sprache in Oaxaca. Die Situation der indigenen Völker sei sehr ernst. „Was die Regierung tut, kann zu einem Linguizid und einem Epistemizid („Auslöschen allen alternativen Wissens“) führen“, sagt Filadelfx. „Neben der kulturellen Aneignung gibt es einen zunehmenden territorialen Extraktivismus und todbringende Projekte, die sich immer weiter ausbreiten, wie zum Beispiel der Interozeanische Korridor im Isthmus von Tehuantepec“.
Er betont, dass sich eine soziale Bewegung weiter formiert, als Reaktion auf die vom Staat geförderten Projekte. „Gentrifizierung ist Enteignung, Linguizid, Ökozid, Feminizid und Transfeminizid. Es ist ein soziales Problem, und ich betrachte die gemeinschaftliche Arbeit als eine Verpflichtung. Ich glaube, dass es nichts gibt, was der Gentrifizierung mehr entgegensteht, als die Schaffung eines gemeinschaftlichen Netzwerks; das Teilen ist eine Art zu überleben, Widerstand zu leisten und unser Leben und unsere Rechte zu verteidigen.“
Verschärfte Ungleichheit
Auch wenn Gentrifizierung und Massentourismus in verschiedenen Teilen der Welt existieren und Auswirkungen haben, ist die Situation in Oaxaca aufgrund der kulturellen Aneignung und der sozialen Ungleichheit besonders kritisch. „Man hat die Strategie intensiviert, den Tourismus durch die Ausbeutung dessen anzulocken, was die Menschen als lokale Traditionen und Erbe betrachten, und das zieht nun Ausländer*innen nach Oaxaca“, sagt Dr. Charlynne Curiel, Professorin für Soziologie an der Autonomen Universität Benito Juárez de Oaxaca (UABJO). „Jetzt werden Aspekte als kulturelle Erfahrungen verkauft, die für Volksgruppen charakteristisch sind, deren Bewohner*innen an der Armutsgrenze leben.“
Mit 16 Sprachen, die im Bundesstaat neben Spanisch gesprochen werden, zeichnet sich Oaxaca durch seine kulturelle Vielfalt und überlieferte Traditionen aus. Doch das millionenschwere Tourismusgeschäft um diese Vielfalt ist in den letzten zehn Jahren geradezu explodiert. „Man hat entschieden, dass Oaxaca ein Touristenziel werden soll und dass es ein kulturelles Erbe gibt, das man ausbeuten kann“, sagt Dr. Curiel. „Während die Regierungen von Millionen und Abermillionen Pesos sprechen, achtet man nicht darauf, dass die Ungleichheit abnimmt.“
Die Zivilgesellschaft nimmt diese Situation sehr ernst, denn sie bringt viele Schwierigkeiten mit sich. „Die Gentrifizierung hat besonders Menschen in prekären Lebenslagen in vielen ihrer Grundbedürfnisse getroffen“, stellt die UABJO-Professorin fest. „Viele Menschen hatten eine einigermaßen akzeptable Miete, aber im nächsten Mietvertrag wurde die Miete um das Vier-, Fünf- oder Sechsfache erhöht.“
Eine Realität, die durch die fehlende Regulierung des Wohnungsmarktes in Oaxaca ermöglicht wird. „Die Menschen sind bedroht“, sagt die Anthropologin. „Das Problem der Verteilung des Reichtums und derer, die durch das Tourismusgeschäft Kapital anhäufen, ist der Schlüssel, um zu verstehen, warum die Menschen wütend sind, aber auch, warum kein Interesse daran besteht, die Preise zu regulieren oder eine Sondersteuer auf touristische Aktivitäten zu fördern“.
Auch Dr. Curiel bekräftigt, dass es im Bundesstaat ein Erwachen gebe: „Die Menschen sind sich bereits bewusst, was passiert, aber es gibt noch viel zu tun, damit sich dies in konkrete Veränderungen für Oaxaca umsetzt.“
Übersetzung: Deborah Schmiedel
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