(Buenos Aires, 5. Juni 2018, Marcha/poonal).- Am 4. Juni 2018 waren die Straßen wieder zum Bersten gefüllt: Die Forderung nach dem Gesetz zum Freiwilligen Abbruch der Schwangerschaft war deutlich. Gegen die machistische Gewalt, aber auch gegen die Strukturanpassungsprogramme und die Verarmung der Bevölkerung durch die Politik der Cambiemos-Regierung gingen die Leute auf die Straße. Die Chronik eines Tages, an dem der Regen weder den Farben noch der Freude etwas anhaben konnte.
So als ob die überwältigende Masse von Menschen schon selbstverständlich sei, laufen wir wieder zwischen Hunderten von Tausenden. Es scheint, dass die Demos für einige Stunden die sichersten und am meisten Trost spendenden Orte sind – in Zeiten von Feindseligkeit, Gewalt und Elend. Und um mit diesem Konstrukt fortzufahren, ist ein neues Ni una menos! – Keine einzige mehr! über den Alltag der Hauptstädter*innen hereingebrochen. Weder Regengüsse noch die Kälte, die Terminverschiebung oder das Schweigen der Medien konnten den Drang bremsen, bei diesem Moment der feministischen Gemeinschaft dabei zu sein – diese Momente der Bestätigung, dass die Geschichte so gemacht wird und die Revolution so weit nicht sein kann.
Ni una menos! ist zum Symbol geworden und zur Losung aller Kämpfe
Und wieder haben sich junge Frauen, Streikerinnen, Arbeiterinnen, Migrantinnen, Transpersonen und Frauen, die abgetrieben haben, in einem gemeinsamen „Ya basta! – Es reicht!“ wiedergefunden. Und auch das Ni una menos! führt seit drei Jahren die Wut und die Anklagen der Frauen und die Unstimmigkeiten zusammen, die sich bereits über die Jahre der kollektiven Organisierung abgezeichnet haben. Ni una menos! ist zum Symbol geworden und Losung aller Kämpfe -auch in der Alltagssprache in den Vierteln und dem Gesang in den Zügen, die aus den Vorstädten von Buenos Aires ankamen und in den U-Bahnen, die durch die Stadt gefahren sind. Ein Ni una menos! und das grüne Tuch haben den Gemeinsinn erobert und alle erfundenen Grenzen überwunden.
Und mit dieser Kraft ertönte auch der Protest unter den Demonstrant*innen. In der Aussage Ni una menos! verdichtete sich die Forderung nach der Verabschiedung des Gesetzesentwurfes zum Freiwilligen Abbruch der Schwangerschaft, die Absage an die machistische Gewalt und die Kultur des Missbrauchs sowie an die Politik der Prekarisierung und der Strukturanpassungsprogramme von der Macri-Regierung. Diese Politik zusammen mit dem Abkommen mit dem Internationalen Währungsfond und den Freihandelsabkommen bedeuten: „Strukturanpassung, Entlassungen, Armut und Prekarisierung für die gesamte Arbeiterinnenklasse und vor allem für Frauen, Transpersonen, Lesben, Bisexuelle, Nicht-Binäre, Transvestiten, Indigene, Personen mit afrikanischen Vorfahren, Migrantinnen, Bewohnerinnen von Armutsvierteln und Frauen mit HIV“, wie es in dem Beschluss der feministischen Versammlungen heißt, die im Vorhinein abgehalten wurden.
Feminisierung von Armut
In diesem Sinne drückte das organisierte Kollektiv aus, dass wirtschaftspolitische Entscheidungen von der Regierung Mauricio Macri zu Einsparungen im bereits mickrigen Haushalt für Gesundheit und Bildung führen, Bereiche in denen überwiegend Frauen arbeiten. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik am zunehmendem Abbau des öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems, als eine Form der Privatisierung der öffentlichen Politik und die daraus resultierende Ungleichheit von Chancen.
„Am Ende müssen wir die Schulden bezahlen und deswegen sind wir hier, gegen die neoliberale Strukturanpassung, die die Macri-Regierung und die Provinzregierungen umsetzen. Die Strukturanpassungen prekarisieren uns und wollen uns schwächen, aber wir stehen zusammen und klinken uns bei den Kämpfen der Arbeiter*innen ein“, betonen sie und nennen die verschiedenen staatlichen Einrichtungen, die von Kürzungen und Entlassungen betroffen sind, wie die Genossinnen der Subte (U-Bahn), von Télam (Nachrichtenagentur), von Radio Del Plata, Lehrer*innen/ Dozent*innen, vom Nationalen Institut für industrielle und technische Entwicklung INTI (Instituto Nacional de Tecnología Industrial), vom Krankenhaus Posadas, vom Frauennotruf línea 144, u.v.m.
Die Zukunft gehört uns
Aus verschiedenen Teilen des Landes kommen Fotos und Nachrichten an: Man sieht, wie in verschiedenen Städten die grünen Tücher, die Demoschilder und die Frauen, die Straßen überfluten. Währenddessen erreicht uns auch eine Nachricht aus Tucumán und dieses Ni una menos!, das dieses System des Todes aus Strukturanpassung und machistischer Gewalt anprangert, muss um einen weiteren Protest erweitert werden: María Zelaya von der Arbeiter*innenfront des Landesinneren von Tucumán (Frente de Trabajadores del Interior de Tucumán) wurde von einem Auto überfahren, von einem Taxifahrer ermordet. Gemeinsam mit anderen Genossinnen, waren sie gerade dabei an der Ecke des Plaza Independencia eine Straßenblockade aufzubauen: Sie protestierten gegen die Politik der Strukturanpassung und des Elends, gegen den Mangel an Essen – wovon die Frauen immer stärker betroffen sind. María war mit ihrer Tochter dort und der Taxifahrer entschied, dass kein Protest mehr Recht habe, als sein Recht mit dem Auto umherzufahren und er raste los, als ob auf der anderen Seite keine Menschen stehen würden, sondern Hindernisse, die man überwinden müsse. Die Grausamkeit fand Ausdruck in einer Geste und einer Tat, durchgeführt von einem Mann.
Aber es sind auch Stimmen aus anderen Teilen Lateinamerikas angekommen: aus Chile, wo die Studierenden in Reaktion auf zahlreiche Anzeigen wegen geschlechtsspezifischer Gewalt und dem Fehlen von Dokumenten, die die Rechte der Frauen in Bildungseinrichtungen schützen, das Ende einer sexistischen Bildung fordern und für eine Zukunft mit weniger Stereotypen und Gewalt kämpfen.
In Peru kam der große Aufschrei mit dem Femizid an Eyvi Ágreda, einer junge Frau, die in einem Bus von einem Ex-Freund angezündet wurde, der sie belästigt und verfolgt hatte. Trotz der polizeilichen Repression und obwohl die politische Elite im Land das Wort „gender“ aus dem Schulunterricht verbannen möchte, weil „es sich um eine Ideologie handelt“, stehen die Frauen zu Tausenden da und verkünden, dass es keinen Weg zurück gibt.
In Mexiko, wo die parapolizeiliche Gewalt sich in aller Grausamkeit über die Frauen ergießt, gab es drei Morde an Frauen, die für das Amt der Stadträtin oder der Abgeordneten kandidierten. Pamela Terán in Oaxaca sowie Juany Maldonado und Erika Cázares in Puebla wurden von bewaffneten Gruppen mit Kugeln durchlöchert, was ein deutliches Beispiel dafür ist, wie der Körper von Frauen -absolut straffrei- angegriffen wird, auch der von Frauen in der Politik. Aus Mexiko kam das Vivas nos queremos! -Wir wollen uns lebendig!, das in diesen Tagen besonders gegen die sexuelle Belästigung auf der Straße protestiert, der vor allem jüngere Frauen ausgesetzt sind.
Hier, in Buenos Aires, trug die Gruppe der Studierenden der ENAM-Schule (Escuela Nacional Superior Antonio Mentruyt) sowie Freunde und Freundinnen von Anahí Benítez, ihr Bild als Demo-Transparent, die Erinnerung an sie erklang als Lied, ebenso die Forderung nach Gerechtigkeit. Anahí wurde im August 2017 Opfer eines Femizids, nachdem sie bereits sechs Tage verschwunden war und man währenddessen wertvollen Zeit verloren hatte.
So viel Präsenz wie nie
Die Jugend bildet Schwärme und füllt die Straßen mit Farben und Musik: Die Jugendlichen bereiten sich auf jede Demo vor, malen sich die Gesichter an, ziehen sich glitzernd und farbenfroh an, sie gestalten gemeinsam Demo-Transparente und halten Schilder hoch mit Sprüchen, mit denen sie sich identifizieren: „Du willst mich jungfräulich, du willst eine Heilige, du willst, dass ich dein bin – Du kannst mich mal!“, hält eine junge Frau hoch, mit ihrem grünen Tuch um den Hals. Und vor allem haben sie die Gewissheit, dass es keinen Weg mehr zurück gibt.
Die Forderung nach einer legalen, sicheren und kostenlosen Abtreibung hat die beiden Plätze am Kongress und die angrenzenden Straßen grün gefärbt. Das beeindruckende Foto, das hundertausende Frauen mit ihren grünen Tüchern zeigt, verdeutlicht den Zuwachs des historischen Protestes der Frauenbewegung, der heute nah dran ist sich in ein Gesetz umzuwandeln.
Mit mehr Präsenz als in den Vorjahren erkennen die Jugendlichen, die jungen Frauen, dass die Verabschiedung des Gesetzes zum Freiwilligen Schwangerschaftsabbruch zum Greifen nahe ist und damit auch die Freiheit der Frauen über den eigenen Körper zu entscheiden.
In diesem Sinne ist der 13.Juni 2018 der Tag, an dem die teilweise Verabschiedung des Gesetzesentwurfs von der Nationalen Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung (Campaña Nacional por el Derecho al Aborto Legal, Seguro y Gratuito) im Abgeordnetenhaus erwartet wird. In den Wochen, in denen die Anhörungen stattgefunden haben, wurden bereits 70.000 Unterschriften von Künstler*innen, Freiberufler*innen, Studierenden, Arbeiter*innen aus verschiedenen Sektoren vorgelegt, die den Gesetzesentwurf des Freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs unterstützen.
Also, diese Welt, die sich unter den Füßen der Frauen dreht, bleibt nicht stehen. Und dieses Ni una menos! wird weiterhin jeden Tag wiederhallen, denn Ni una menos! ist nicht nur der Protest gegen machistische Gewalt, oder gegen die Politik der Strukturanpassung und die daraus folgende Feminisierung der Armut; es dient vor allem dazu eine Zukunft aus Freiheiten und Möglichkeiten zu denken: entspannt durch die Straßen gehen zu können, so wie wir es auf der Demo erlebt haben und bei jedem anderen Aufruf und in den Genuss zu kommen, freie Körper und Territorien mit umfassenden Rechten zu haben.
Zu diesem Thema gibt es auch zwei Audio-Beiträge:
Frauenmorde in Lateinamerika: ¡Ni una menos – vivas las queremos!
Feministische Stimmen gegen machistische Gewalt
Für die Legalisierung der Abtreibung! Feminist*innen erobern wieder die Straßen von Buenos Aires von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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