(La Paz, 29. Mai 2024, npla). – Seit über einem Jahr tobt in Bolivien – international weitgehend unbeachtet – ein erbitterter Machtkampf zwischen dem aktuellen Präsidenten Luís Arce und seinem Vorgänger Evo Morales. Die Partei Movimiento al Socialismo (MAS, deutsch: Bewegung zum Sozialismus) regiert seit 2006 fast durchgängig das Land in den Anden. Erst war Evo Morales Präsident, bis er 2019 wegen Wahlbetrugsvorwürfen die Segel streichen musste. Nach einer kurzen Unterbrechung wurde 2020 sein langjähriger Wirtschaftsminister Luis Arce zum Staatsoberhaupt gewählt. Nun liegen die beiden miteinander im Clinch. Schlägereien zwischen ihren Lagern sind keine Seltenheit.
„Die Spaltung der Partei MAS führt dazu, dass wichtige Gesetzesvorhaben auf Eis liegen, und es entstehen Risse in sozialen Organisationen,“ erklärt Lucía Vargas. Die politische Referentin der Coordinadora de las Mujeres, einem Dachverband feministischer Organisationen, warnt, jeder Konflikt könne plötzlich explodieren. Man habe es mit einer tickenden Zeitbombe zu tun. „Wir bedauern sehr, dass keiner der beiden MAS-Flügel im Auge hat, wie es mit dem Land weitergeht“, sagt Vargas. „Wie wir zum Beispiel der Finanzkrise entgegentreten oder die Pandemie der Gewalt gegen Frauen bekämpfen.“
Arce und Morales ringen aktuell darum, wer 2025 Präsidentschaftskandidat wird. Dabei steht Bolivien am Rande einer Wirtschaftskrise, dem Land gehen zunehmend Gas und Öl aus. Die Bodenschätze hatten jahrelang für günstige Energiepreise gesorgt und Dollars ins Land gebracht, mit denen etwa die Preise von Grundnahrungsmitteln niedrig gehalten wurden. Die Währung Bolívar unterlag viele Jahre kaum Schwankungen, und die Inflationsrate war vergleichsweise niedrig.
Bolivien weit vorne in Sachen Geschlechterparität
Das linksregierte Land erregte mit seiner plurinationalen Verfassung 2009 weltweit Aufsehen. Dank der darin festgeschriebenen Quotierungsregeln müssen heute die Hälfte aller politisch gewählten Ämter durch Frauen besetzt werden. Der Andenstaat zählt daher zu den weltweit führenden Ländern in Sachen Geschlechterparität im Staat. Auch der Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheit verbessert sich für Frauen kontinuierlich. Und im öffentlichen Leben ist schon seit jeher unübersehbar, dass Frauen den Laden am Laufen halten. Miriam Suárez von der Casa de la Mujer hebt die besondere Rolle der Frauen hervor: „Es gibt dieses Land, weil es Frauen gibt. Sie schenken das Leben, übermitteln Werte und leisten Widerstand gegen Ungerechtigkeiten.“ Das alles komme nicht von Männern, sondern von den Frauen. Die progressiven Gesetze stellten einen Fortschritt dar, aber Frauen würden weiterhin unsichtbar gemacht und abgewertet, kritisiert Suárez.
Casa de la Mujer – ein Zentrum für Frauen und gegen das Patriarchat
Die Casa de la Mujer, deutsch: Frauen-Haus, ist in Santa Cruz de la Sierra gelegen, Boliviens größter Stadt im Südwesten des Landes. Von dort führen die Aktivistinnen um Suárez ihren Kampf für Gleichheit, Autonomie und gegen das Patriarchat. Suárez ist auch im fortgeschrittenen Alter noch voller Feuer für radikale Gesellschaftsveränderung. Das 1990 gegründete Haus versteht die Feministin als Kosmos, in dem die Rolle von Frauen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird. „Wir bringen hier Gesundheitsfragen, insbesondere Gewalt gegen Frauen, mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen zusammen – und natürlich mit sexueller Diversität und Gender-Identitäten,“ so Suárez. Zur Casa de la Mujer gehört auch ein Refugio, ein Raum mit Stockbetten, in dem Frauen, die Zuhause Gewalt erleben oder sich bedroht sehen, temporär Unterschlupf finden können. Daneben leistet das Zentrum auch juristischen und psychologischen Beistand. Die Casa de la Mujer ist eine echte Institution in Santa Cruz. Ein Grund für die Bekanntheit ist unter anderem die eigene Radiostation. „Der Sender ist ein Werkzeug, um unsere Ideen zu verbreiten“, erläutert Suárez. „Wir prangern damit an, wie viele Frauen geschlagen, vergewaltigt oder ermordet wurden.“ Aber im Radio wird nicht nur Gewalt angesprochen, die Macherinnen setzen auch eigene, positive Themen.
Gewalt gegen Frauen ist auch in Bolivien alltäglich. So wurden im letzten Jahr im Schnitt pro Tag 142 Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt angezeigt. 2023 sind 83 Frauen Opfer von Feminiziden geworden. Trotz der Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen fehlt der Schutz. Diejenigen, die Anzeige erstatten, laufen Gefahr, im Nachhinein ermordet zu werden. Das Problem sei, dass die Gesetze nicht angewendet würden, weil Geld oder politischer Wille fehle. „Wir haben viel mehr von der MAS-Regierung erwartet und fühlen uns betrogen,“ sagt Suárez.
Falscher Sozialismus und Indigenismus des MAS
Wo steht das Land nach 18 Jahren Regierungsverantwortung der Partei, die sich Bewegung zum Sozialismus nennt? Auch Manuel Morales vom nationalen Komitee zur Verteidigung der Demokratie (CONADE) zieht eine kritische Bilanz: „Es gibt viele Arten von Sozialismus, aber in Bolivien erleben wir einen falschen Sozialismus und einen falschen Indigenismus“. Dem MAS gehe es im Wesentlichen darum, sich selbst zu bereichern. Über Regierungsposten sichere sich die Partei die Kontrolle über die staatlich kontrollierte Wertschöpfung, so Manuel Morales. Vor diesem Hintergrund sei der aktuelle Konflikt zu verstehen.
Der MAS hat sich viele progressive Werte auf die Fahne geschrieben, aber nicht nur mit Blick auf die Situation von Frauen fehlt dabei die Durchsetzung. So ist Bolivien heute beispielsweise das Land, das am meisten Amazonas-Regenwald abholzt. Auf den Flächen wird Zuckerrohr für Bio-Sprit angepflanzt – trotz festgeschriebener Rechte der Natur in der neuen Verfassung. Manuel Morales ist der Meinung, dass die Zeit des MAS an der Regierung bald endet: „Ich glaube, dass es in Bolivien kein politisches Projekt schafft, länger als 20 Jahre zu überleben.“ Die Krise der Regierung bringe eine Krise der Linken mit sich, warnt Morales. „Die Leute kommen zu dem Schluss: Linke und Rechte sind beide autoritär und korrupt.“ Der MAS habe es nicht geschafft, einen ethisch-moralischen Unterschied zu machen, so der Demokratieaktivist.
Aktuell stehen die Chancen von Präsident Arce nicht schlecht, im nächsten Jahr erneut auf dem Ticket des MAS kandidieren zu können. Viele Basisbewegungen unterstützen seine Kandidatur, wie beim Parteitag Anfang Mai deutlich wurde. Evo Morales, der in Abwesenheit als Parteivorsitzender abgewählt wurde, erklärte die Versammlung für illegitim und kündigte einen Gegenkongress an. Die innerparteilichen Kämpfe werden also fürs Erste weitergehen. Wer letztlich 2025 kandidiert – den Feministinnen ist das nicht so wichtig. Wissen sie doch, dass ihnen nichts geschenkt wird und gesellschaftliche Fortschritte das Ergebnis ihrer Kämpfe sind.
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