(Rio de Janeiro, 29. Februar 2016, npl).- Seit fast 130 Jahren ist Sklaverei in Brasilien abgeschafft. Doch bis heute ist Zwangsarbeit ein weit verbreitetes Problem. Regelmäßig kontrolliert das Arbeitsministerium verdächtige Betriebe im ganzen Land und stößt immer wieder auf ausbeuterische Arbeitsverhältnisse.
Die Statistik ist erschreckend: Allein im vergangenen Jahr haben Inspekteur*innen des Arbeitsministeriums über eintausend Menschen aus sklavereiähnlichen Zuständen befreit. Die Zahl der unentdeckten Fälle dürfte ein Vielfaches betragen, glaubt Carlos Silva, Präsident der Gewerkschaft der Arbeitsinspekteur*innen. Er weiß genau, worauf zu achten ist, wenn ein verdächtiges Unternehmen inspiziert wird: “Menschenunwürdige Verhältnisse liegen vor, wenn die Arbeiter kein Trinkwasser haben, keine angemessene Nahrungsmittel bekommen, keine richtige Unterkunft und keinen Zugang zu einem Badezimmer haben.“ Silva spricht von Zuständen, die die Betroffenen „entmenschlichen“.
Menschenunwürdige Zustände in Unternehmen
Im Strafgesetzbuch Brasiliens sind sklavereiähnliche Zustände klar definiert und sollen mit hohen Geldstrafen und Freiheitsentzug bis zu acht Jahren für die verantwortlichen Arbeitgeber*innen geahndet werden. Werden Arbeiter*innen befreit, haben sie Anspruch auf staatliche Unterstützung, die aber oft nicht umfassend gewährt wird. Für die Richterin Kátia Arruda ist wichtig, die moderne Sklaverei von ihrem historischen Vorgänger zu unterscheiden. Heute gebe es andere Ausbeutungsverhältnisse als früher. Es sei eine Art Freiheitsberaubung, aber meist aufgrund von Schulden, erklärt Arruda. „Zum Beispiel wenn ein Unternehmer jemanden anstellt, der bereits hoch verschuldet ist. Dann wird er gezwungen, nur dort einzukaufen, wo der Unternehmer das Sagen hat und wo die Preise viel höher sind.“ Schlussendlich arbeite der Betroffene, ohne auch nur einen Pfennig zu verdienen, resümiert die Arbeitsrichterin.
Die Annahme, sklavereiähnliche Zustände kämen vor allem in der Landwirtschaft in abgelegenen Gegenden vor, stimmt nicht mehr. Drei von fünf der im vergangenen Jahr aufgedeckten Fälle ereigneten sich in urbanen Gebieten. Die Textilindustrie und das Baugewerbe stehen ganz oben in der Statistik. Dadurch kämen auch immer mehr Migrant*innen in das Visier der Ausbeuter*innen, berichtet Kátia Arruda. „Viele Menschen aus Bolivien und Haiti sind zuletzt von Arbeitsministerium befreit worden. Das ist eine neue Entwicklung,“ sagt Arruda.
Es mangelt an Umsetzung der bestehenden Gesetze
Brasilien hat im Kampf gegen die moderne Sklaverei einiges getan. Das Problem wird seitens der Regierung nicht vertuscht. Auch Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen sind aktiv, um diese Form der Ausbeutung einzudämmen. Doch oft mangelt es an der konkreten Umsetzung. Nach Meinung von Staatsanwältin Ana Carolina Roman ist die brasilianische Gesetzgebung in Sachen Sklavenarbeit völlig ausreichend. „Was uns fehlt ist, diese Rechtsnormen auch effektiv umzusetzen,“ kritisiert die Juristin. „Diejenigen, die solche Verbrechen begehen, müssen verurteilt werden. Und die Strafen müssen vollstreckt werden.“
Doch derzeit ist keine Besserung in Sicht, im Gegenteil. Konservative Unternehmerkreise und die Agrarlobby haben ihren Einfluss im Kongress ausgebaut. Mit allen Mitteln versuchen sie, die Reglementierung von Arbeitsverhältnissen zu unterlaufen. So hat der konservative Senator Romero Jucá ein Gesetzesprojekt auf den Weg gebracht, mit dem das Verbot von sklavereiähnlicher Arbeit verwässert werden soll. Seiner Meinung nach ist Ausbeutung in Strafgesetzbuch nicht genau genug definiert und sollte auch keine Bestrafung nach sich ziehen.
Ein weiterer Rückschlag war die Entscheidung des Obersten Gerichts, dem Arbeitsministerium die Veröffentlichung der Liste von Unternehmen, die Arbeiter versklavt haben, vorläufig zu untersagen. Ein Unternehmerverband hatte gegen die Veröffentlichung geklagt. Seitdem sammeln Aktivist*innen und Journalist*innen alle verfügbaren Daten zu sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen und geben die sogenannte Schmutzliste in Eigenregie heraus.
Kampagne gegen Verharmlosung der Sklaverei
Nun macht die Nationale Kommission zur Abschaffung von Sklavenarbeit gegen die Verharmlosung mobil. Ende Januar startete sie mit Unterstützung der für Arbeitsfragen zuständigen Staatsanwaltschaft eine Kampagne. Unter dem Motto „Somos Livres – Wir sind Frei“ soll das Bewusstsein über moderne Sklaverei geschärft werden.
„Diese Form der Ausbeutung wird von den Meisten rundweg abgelehnt. Zugleich fällt es vielen Menschen schwer, Sklavenarbeit als solche zu identifizieren,“ erklärt Kommissionsmitglied Rafael Garcia Rodrigues. Deswegen solle diese Kampagne deutlich machen, wann Arbeit in Ausbeutung umschlägt, und unter welchen Umständen von sklavereiähnlicher Arbeit gesprochen werden muss, erläutert Rodriguez.
Zahlreiche Politiker*innen linker Parteien, Schauspieler*innen und soziale Bewegungen unterstützen die Kampagne. Doch alle wissen: Der Rechtsruck im Kongress und die Wirtschaftskrise bergen die Gefahr, dass die Zahl der Sklav*innen in Brasilien wieder ansteigt.
Einen Audiobeitrag von Radio onda zu diesem Artikel findet ihr hier.
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Toller Artikel, vielen dank für die Informationen. Leider ist es heut zu tage nicht anders. Die Menschen werden nach Klassen eingestuft.
Lg Karin