von Jessica Zeller
(Berlin, 06. Oktober 2015, npl).- Was hat gemeinsames Essen mit der Stadt der Zukunft zu tun? Das fand die Theatergruppe von Teatro Trono aus dem bolivianischen El Alto gemeinsam mit Schüler*innen verschiedener Berliner Schulen in mehrtägigen Theater-Workshops heraus. Gemeinsam diskutierten sie darüber, was Ihnen an ihrer Stadt gefällt, was sich ändern sollte und was Berlin und El Alto voneinander lernen können. Die Abschlussveranstaltung fand am 5. Oktober im Theater Aufbau Kreuzberg in Form eines Apthapi statt, einem traditionellen bolivianischen Gemeinschaftsmahl.
Gemeinsam Essen und Teilen
Beim Apthapi bringt jede und jeder Teilnehmer*in etwas zu essen und trinken mit. „Wie Picknick, nur drinnen!“, findet Anessa, die an der Rosa-Parks-Grundschule in Berlin Kreuzberg die 5. Klasse besucht. Sie selbst hat einen Kuchen beigesteuert, ihre Freundinnen Yamur und Madin haben Äpfel, Bananen und Limonade mitgebracht. Gegessen wird beim Apthapi mit den Fingern, Stühle gibt es keine. Alle Teilnehmer*innen, in diesem Fall rund fünfzig Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus Berlin und El Alto, sitzen auf dem Boden, rund um ein mehrere Meter langes gewebtes Tuch. Darauf sind noch viele weitere Köstlichkeiten zum Verzehr ausgebreitet: Hühnchen und Reis zubereitet nach bolivianischer Art, Kartoffelsalat, Trauben, Tee und Schokokekse.
„Die Idee beim Apthapi ist, dass die Teilnehmer*innen nicht nur mit ihrem Nachbarn reden, sondern auch ums Tuch herumlaufen und das Essen und die Menschen ganz am anderen Ende kennenlernen“, erklärt Coral Salazar vom Verein Compa Berlin, der Zweigstelle von Teatro Trono in Berlin. Silvia Alvarez Paty von Teatro Trono ergänzt: „Beim Apthapi danken die Menschen Pachamama, der Mutter Erde, die alles zum Wachsen und Gedeihen bringt. Sie essen gemeinsam, singen und sprechen über Dinge, die ihnen wichtig sind, über Anliegen der Gemeinschaft. Es gibt keinen festgelegten Zeitpunkt oder Wochentag, an dem ein Apthapi stattfinden muss. Ein Apthapi gibt es immer dann, wenn die Menschen sich treffen wollen.“
Teatro Trono aus El Alto
Teatro Trono, der Veranstalter des Berliner Apthapis, ist eine Theater-Gruppe aus dem bolivianischen El Alto – der Nachbarstadt der Hauptstadt La Paz. Die Stadt ist der urbane Raum der Ausgegrenzten und Armen. Aber auch der Ort der Rebellion und des neuen Selbstbewusstseins der Indigenas Boliviens. Gerade tourte die Gruppe für zwei Monate durch Deutschland und Dänemark und stellt ihr neustes Stück „Arriba El Alto“ vor, in dem sie mit viel Witz und Ironie die Geschichte ihrer Stadt auf die Bühne bringt. In Berlin gab Teatro Trono neben einigen mitreißenden Theateraufführungen außerdem Theater-Workshops an verschiedenen Schulen. Das Apthapi bildet dabei den feierlichen Abschluss. Das Thema der Workshops: „Stadt der Zukunft – oder: Wie wollen wir zusammenleben?“.
Stadt der Zukunft
Stadt der Zukunft, das ist ein starker Begriff. Doch was stellen sich Berliner Kinder und Jugendliche darunter vor? Einige Schüler*innen wünschen sich mehr Schutz für Tiere und Umwelt und weniger Autos auf den Straßen, die die Luft verpesten. Andere haben soziale Anliegen: Kein Kind solle unter Armut leiden und schlimmer noch, auf der Straße leben müssen. Einig sind sich die jungen Menschen: Eine Stadt der Zukunft müsse für alle ihre Bewohner*innen da sein und dürfe niemanden ausgrenzen.
Auch Ralf Kühn, Klassenleiter der 5. Klasse an der Rosa-Parks-Grundschule, stimmt seinen Schüler*innen darin zu: „Unsere Schule ist eine Schwerpunktschule in Kreuzberg, die viele Religionen, viele Nationen und viele Unterschiede aufzeigt. Wenn wir es schaffen, diese Vielfalt zusammenzubringen und den Kindern eine Zukunft zu gestalten, dann kann ich mir eigentlich nicht viel mehr wünschen.“ Das Apthapi sei dafür der richtige Weg, findet Lehrer Kühn: „Mir gefällt, wie hier gemeinsam gegessen wird, was unsere Kinder schon teilweise überhaupt nicht mehr kennen. Und dass sie ihr Essen teilen.“
Berlin und El Alto
Gemeinsam Essen und Teilen: In Bolivien ist das noch selbstverständlicher als hierzulande. Auch ansonsten kann Berlin einiges von El Alto lernen. Zum Beispiel was die Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner an der Gestaltung ihrer Stadt betrifft, findet Ivan Nogales, der Gründer von Teatro Trono: „El Alto tickt anders als europäische Städte. Bei uns regeln die Nachbarschaftsräte auf sehr kleinteiliger Ebene in allen Bereichen das Leben in der Stadt.“
Weniger anonym und bürokratisch, mehr direkte Beteiligung und Mitspracherecht: Von dieser Idee der Kollektivität kann sich Berlin ruhig etwas abgucken. Aber was hat Berlin, was El Alto fehlt? Ganz klar: Hier ist es sauberer. „Hier sind die Leute Experten für die Natur. Sie trennen den Müll, bewirtschaften Stadtgärten und vieles mehr“, sagt Coral Salazar vom Verein Compa Berlin. „Bei uns ist das viel chaotischer.“
Austausch der Erfahrungen
Der Austausch der Erfahrungen der Städte ist in erster Linie ein Austausch der Menschen, die in ihnen wohnen. Denn die Frage, wie wir zusammenleben wollen, kann nur im Gespräch miteinander erfolgen – beim Apthapi zum Beispiel. Coral Salazar: „Hier sitzen Schülerinnen und Schüler verschiedener Schulen zusammen, unterhalten sich und teilen ihr Essen. Sie haben sich noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen. Ohne das Apthapi wäre das nicht passiert.“
Und noch etwas macht das bolivianische Gemeinschaftsmahl zu einem ganz besonderen Erlebnis: Beim Apthapi gibt es keine Beschränkung bei der Anzahl der Teilnehmer*innen. Alle, die kommen wollen, sind herzlich eingeladen.
Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts „Fokus Menschenrechte 2015„.
Dazu gibt es es auch einen Radiobeitrag der hier angehört werden kann.
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