von Rafaela Lahore
(Montevideo, 16. September 2014, la diaria).- Es gibt sie überall: Zwei kleine Hände, die von den Vorteilen eines Paar Socken zu überzeugen suchen. Zwei kleine Hände, die im Hof eines Nachbarn Ziegel herstellen oder das Heu fürs Vieh noch einmal wenden. Und ganz sicher andere, die Brennholz tragen oder Mehlsäcke oder Möbel. Auch gibt es Kinderhände, die andere Kinder beaufsichtigen. Es gibt die kleinen verschmutzten Hände, die nach verschiedenen Materialien suchen: nach Plastik, Papier und Karton. Andere bewegen sich in der Natur: Kleine Hände mit Schwielen, die Zuckerrohr schneiden, kleine Hände die grob den Boden bearbeiten oder nach Trauben, Kartoffeln und Tomaten greifen.
Haben Kinder ein Recht auf Arbeit?
Grundsätzlich könnte man glauben, dass im Kampf gegen die Kinderarbeit große Einigkeit herrsche. Aber so ist es nicht. Neben internationalen Organisationen wie die Vereinten Nationen (UNO), die sich für die Abschaffung der Kinderarbeit einsetzen, gibt es auch die Meinungen derer, die die Kinderarbeit beibehalten wollen und auf einem Recht der Kinder auf Arbeit bestehen. Diese Ansichten werden hauptsächlich von den arbeitenden Kindern selbst vertreten.
Organisationen der arbeitenden Kinder und Jugendlichen NAT (niños y adolescentes trabajadores) sind in verschiedenen Ländern tätig. Sie entstanden im Jahr 1978 in Peru und heute gibt es in mehreren Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens Vertreter dieser Bewegungen. Ihr Ziel ist eine Regelung der Kinderarbeit: Sie fordern kürzere Arbeitstage, die es erlauben, die Arbeit mit der Schule zu kombinieren, außerdem würdige Entlohnungen und vor allem Schutz vor Ausbeutung. Einer ihrer Leitsprüche ist: „Ja zur Arbeit – nein zur Ausbeutung.“
Die Organisationen der arbeitenden Kinder und Jugendlichen sind gegen die Politik der Internationalen Arbeitsorganisation OIT, die zum Ziel hat, die Kinderarbeit abzuschaffen. Ihrer Meinung nach „führt die Bekämpfung der Kinderarbeit dazu, dass diese unsichtbar wird – aber nicht abgeschafft.“. Die NAT ist der Ansicht, dass die OIT nicht nur Mittel verschwendet, ohne dass die Kinderarbeit verringert wird, sondern dass sie auch oft Maßnahmen ergreift, durch die die Familien und ihre arbeitenden Kinder kriminalisiert werden.
Selbstorganisation der arbeitenden Kinder
Luis Pedernera ist in Uruguay einer der entschiedensten Verteidiger dieser Haltung. Er glaubt, dass das Recht auf Arbeit auch ein Recht der Kinder sei und dass das Problem nicht bei dem arbeitenden Kind liege, sondern bei den Ländern, die dem arbeitenden Kind keine Beachtung schenkten. „Ich bin gegen Ausbeutung bei der Arbeit, sowohl von Erwachsenen als auch viel mehr noch von Kindern. Ich möchte nicht, dass Kinder sterben, weil sie für ihre Gesundheit risikoreichen Aktivitäten nachgehen. Aber von dieser Tatsache bis hin zur Darstellung, dass Kinderarbeit schlecht sei, ist es in großer Schritt. Die Erfahrung bei der Kinderarbeit in einem geschützten Umfeld, in dem Sorgfalt waltet, ist auch eine wichtige Erfahrung. Daher gefällt es mir nicht, zu sagen, ich bin gegen Kinderarbeit“.
Pedernera fügt hinzu: „Es gibt Kinder, die bei bestimmten Aufgaben mitarbeiten wollen und wiederum andere, die aufgrund der wirtschaftlichen Situation arbeiten müssen. Wenn sie das nicht tun, können sie nicht einmal ein Heft für die Schule kaufen. Sie sagen dir: ‚Wenn ich nicht arbeite, kann ich nicht zur Schule gehen‘“. Pedernera ist der Meinung, dass der Grundstein der Diskussion bei der Wirtschaftspolitik liegen muss, die diese Situationen herbeiführt, und nicht in der Schuldzuweisung an Kinder und deren Familien.
Seiner Meinung nach müssten die Organisationen, die mit Kindern arbeiten, dort ansetzen und dafür sorgen, dass das Kind sich als arbeitende Person wiedererkennt und sich – davon ausgehend – mit seinesgleichen treffen kann.
Pedernera glaubt, dass das Ziel deren Selbstorganisation sein müsste und nicht das Abhängig sein von einer Organisation, die die Kinder als Zielgruppe sieht. „Das muss die Achse der Organisationen sein. Ist dies nicht der Fall, so sind diese Kinder nur auf der Welt, um wiederum Familien zu gründen und in Armut zu leben. Ich glaube, dass unsere Funktion darin liegt, diese Situation zu überwinden. Zu gegebener Zeit werden die Organisationen überflüssig sein.
José Fernández: Arbeit erst ab 15 Jahren
José Fernández hingegen versichert, dass das Recht auf Arbeit ein Recht der Erwachsenen sei und dass keine gerechte Gesellschaft toleriere, dass die Kinder vor Vollendung ihres 15. Geburtstages arbeiteten, da diese sich ihrer Schulbildung widmen sollten. „Wenn du die Rechte der Kinder verteidigen willst, so musst du das Recht verteidigen, eine Kindheit zu haben, sich zu entwickeln und sich zu bilden. Und hier stoßen die Rechte der Eltern und die der Kinder aufeinander: Der Vater hat das Recht, dass das Kind ihm hilft, aber das Kind hat das Recht auf die gleichen Chancen wie andere Kinder. Wie garantiert der Staat das? Dies ist ein philosophisches Thema.“
Fernández ist nicht einverstanden mit der Haltung der Organisation der arbeitenden Kinder und Jugendlichen NAT: „Das Argument, welches die NAT in Lateinamerika benutzt hat, um die Rechte der Kinder zu verteidigen, ist ein vollkommen neoliberales. Dass die Menschen das Recht hätten, ihr Überleben ‚mit Schweiß auf der Stirn‘ zu sichern. In diesen Ländern werden Dinge getan, die absolut zweckmäßig für das System sind. Sie sollen eine tolle Alternative sein, aber in Wahrheit nimmt es den Menschen die Luft zum Atmen. Und daraus gibt es keinen Ausweg“.
Kinder, die helfen
Nach Daten der Internationalen Arbeitsorganisation OIT aus dem Jahr 2012 gibt es weltweit 168 Millionen Kinder zwischen fünf und siebzehn Jahren, die arbeiten. Davon sind 58 Prozent auf dem Feld und in der Landwirtschaft beschäftigt. In Uruguay ist die Zahl der arbeitenden Kinder in den ländlichen Gebieten höher als in den städtischen.
Auf dem Land arbeiten 14,4 Prozent der Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren (zugrunde gelegt wurden ausschließlich wirtschaftliche, produktive Tätigkeiten). In der Stadt hingegen sind es weniger als die Hälfte: 5,5 Prozent.
In den ländlichen Gebieten arbeiten die Kinder und Jugendlichen gewöhnlich auf kleinen Farmen, helfen bei der Ernte und in der Viehzucht oder stellen Ziegel her.
Sebastián erzählt: „Ich habe mit fünf Jahren angefangen zu arbeiten. Ich verrichtete keine schwere Arbeit, ich half und sie bezahlten mich. Ich half bei der Herstellung von Ziegeln, aber nur einen nach dem anderen. Jetzt, wo ich älter bin, stelle ich ungefähr fünf oder sechs her“. Er sagt, dass seine Eltern ihn nie gebeten hätten, zu arbeiten: „Mich hat nie jemand Arbeiten geschickt, weder meine Mutter noch mein Vater. Ich wollte nicht unbedingt arbeiten, aber ich wollte helfen“.
Sebastián arbeitete zwei Stunden am Tag. Er kam aus der Schule und fertigte Ziegelsteine. Das verdiente Geld wurde der Mutter ausbezahlt und diese kaufte davon Kleidung für ihn. Er sagt, dass er mit sechs Jahren aufhörte, Ziegel herzustellen, weil er sich dabei langweilte, und dass er mit elf oder zwölf wieder zu arbeiten anfing, diesmal auf einer Baustelle, wo er Fliesen kehrte. Heute, mit 15 Jahren, geht er Gelegenheitsarbeiten nach. Er zählt diese in einem Zug auf: „Ich richte Mörtel an, fertige Ziegel, befülle Ballons, mähe Gras, helfe bei der Fracht“.
„Ich habe Eltern gesehen, die einen siebenjährigen Knirps zum Arbeiten schickten“
Der 20-jährige Christian lebte seit seinem 14. Lebensjahr immer wieder eine Zeitlang im Haus seines älteren Bruders in Bella Unión, einer Stadt im Nordwesten Uruguays. Er verbrachte dort die Saisonzeiten, um in Akkordarbeit Zuckerrohr zu pflanzen und zu schneiden. Jeden Tag musste er um fünf Uhr morgens aufstehen, um auf den LKW zu warten, der die Arbeiter*innen dann kilometerweit zum Arbeitsort ins Landesinnere fuhr.
Vor der Abfahrt füllten er und sein Bruder Thermobehälter mit Kaffee und kubanischen Keksen (ein halbes Kilo, ein Kilo, und mit etwas Glück auch ein wenig Mortadella). Daraus bestand ihre Mahlzeit, bis sie um vier Uhr nachmittags wieder zum Haus zurückkamen.
Christian sagt über die Kinder aus den Familien der Landarbeiter*innen, die Arbeiten mit dem Zuckerrohr verrichten: „Die kleinen Gurises arbeiten mit elf oder zwölf Jahren viel besser als ich, da ihre Eltern es ihnen von klein auf beigebracht haben. Direkt nach der Geburt werden sie schon mit auf die Zuckerrohrplantage genommen und lernen so, zu überleben. Ich habe Eltern gesehen, die einen siebenjährigen Knirps zum Arbeiten schickten. Er wurde gefragt, ob er das lernen möchte, er sagte ‚ja‘ und der der Vater zeigte es ihm“. Christian versucht, seine Arbeit auf der Zuckerrohrplantage zu beschreiben. Er versucht es mit Worten, obwohl er im Grunde genommen weiß, dass sich seine Arbeit nur mit Bewegungen der Hände erklärt.
Die Hände. Sicherlich gibt es genau in diesem Moment unzählige Hände, die sich bewegen (arbeitende Kinderhände). Oder auch nicht. Vielleicht sind sie jetzt nicht aktiv, aber in jedem Fall werden sie später anfangen, sich zu bewegen. Und auch die Beine, die Arme, die Rücken. Sie werden wieder anfangen, zu arbeiten; im Innersten vom Inneren oder inmitten der Stadt, ohne dass jemand sie sieht.
Dies ist der dritte und letzte Teil einer langen Reportage über Kinderarbeit in Uruguay, die am 16. September 2014 in der Zeitung la diaria veröffentlicht wurde. Weiterlesen? Hier geht es zu Teil I und Teil II.
Kleine Hände in Bewegung – Kinderarbeit in Uruguay (Teil III) von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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