von Andrea Martínez Marina González
(Berlin, 06. April 2011, npl-la diaria).- Bis vor einigen Monaten war Michel Martelly vor allem als Interpret tanzbarer Popmusik bei jungen Haitianer*innen bekannt. Die politische Laufbahn des 50-jährigen begann mit seiner Präsidentschaftskandidatur. Wie seine Regierung aussehen wird, ist unklar. Fest steht jedoch, dass mit seiner Wahl die politische Führungsschicht abgestraft wurde. Dieser Ansicht sind zumindest einige Sozialwissenschaftler und Kenner der Situation.
Karten neu gemischt
Der Provisorische Wahlrat CEP (Consejo Electoral Provisional) gab bekannt, dass nach den vorläufigen Ergebnissen des zweiten Wahlgangs der Popsänger Michel Martelly als Gewinner aus den Wahlen hervorgeht. Damit endet ein für Haiti langer und schmerzhafter Prozess. Im ersten Wahlgang hatte Martelly nur den dritten Platz belegt und somit gar nicht zur Stichwahl antreten können.
Es kam zu heftigen Gerüchten über Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug, woraufhin die Wahlkommission einer Empfehlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) folgte und den von der alten Regierung unterstützen Kandidaten Jude Céléstin von der Stichwahl ausschloss. Céléstin, von dem es zunächst hieß, er hätte das zweitbeste Wahlergebnis errungen, wurde durch Martelly ersetzt. Doch sowohl im ersten wie im zweiten Wahlgang kam es zu Betrügereien.
Die liberale Kandidatin Mirlande Manigat, die nach Auskunft des CEP im zweiten Wahlgang nur 31,74% der Stimmen erhalten hatte, erklärte in einer Pressekonferenz, sie gehe davon aus, dass das Ergebnis manipuliert wurde. Manigat, die angesichts von Martellys 67,57% der Wählerstimmen als klare Verliererin aus der Stichwahl hervorging, forderte für die Zukunft Stimmabgaben ohne Betrug und betonte, sie wolle „weiterkämpfen“. [Anm. der Ü: Das Wahlergebnis hat sie schließlich nicht angefochten.]
Leicht nach rechts geneigt
Julián González, uruguayischer Politologe und Koordinator des Projekts „Haiti-Uruguay – für die Süd-Süd-Zusammenarbeit“ (“Haití-Uruguay, promoviendo la cooperación Sur-Sur”), m, falls sich Martellys Wahlsieg bestätige, sei dies als „klare Abstrafung der politischen Elite des Landes zu verstehen, die mit ihrem wenig überzeugenden Auftreten die Wählerschaft zutiefst enttäuscht hat“.
Martelly sei eine „wirkliche Unbekannte“, unklar sei daher auch, „wie die Regierung Martellys aussehen wird. Nach seiner Vorgeschichte, seinem Outsider-Dasein und dem Wenigen zu urteilen, was über seine Pläne und Absichten bekannt ist, scheint es sich um einen etwas rechtslastigen Populisten mit einigen alten Verbindungen zur früheren Duvalier-Diktatur zu handeln“.
Kein Rückhalt im Parlament
Andererseits habe er von allen Kandidat*innen die deutlichste Kritik an den Einsätzen der MINUSTAH-Friedenstruppen (Mission des Nations Unies pour la Stabilisation en Haïti) der Vereinten Nationen geübt. Gleichzeitig sei jedoch unklar, inwieweit Martelly zu seinen Worten stehen werde, wenn er erst einmal an der Regierung sei. Er halte es für möglich, dass dieser sich mit solchen Äußerungen lediglich „die im haitianischen Volk sehr verbreitete unspezifische Unzufriedenheit zunutze machen“ wolle.
Was die Frage der Regierbarkeit angehe, so González weiter, habe Martelly „keinen soliden Rückhalt im Parlament“. Dieses sei von Mitgliedern der scheidenden Regierungspartei INITE dominiert und „politisch kaum organisiert“. Über einen sichtbaren gesellschaftlichen Rückhalt verfüge er auch nicht, wobei González nicht ausschloss, dass dieser Rückhalt trotzdem existiere oder künftig entstehen könne. Eine politische oder institutionelle Stabilisierung des Landes sei anhand dieser Situation für die Zukunft jedoch nicht zu erwarten, so die Einschätzung des Politikwissenschaftlers.
Lösung der institutionellen Krise notwendig
Erst wenn das Parlament den Premierminister gewählt und dieser damit begonnen habe, die Regierung zu bilden, ließe sich genauer sagen, „über welchen gesellschaftlichen und politischen Rückhalt der neue Präsident verfügt“, so González.
Daneben wies er auf einen weiterhin ungelösten institutionellen Aspekt hin: „Die Befugnisse und Kompetenzen des Präsidenten und des Premierministers sind immer noch nicht klar festgelegt, was die Regierungsarbeit bisher enorm behindert hat.” Welche Lösung Martelly für diese Frage finde, werde „erhebliche Auswirkungen auf seine weitere Regierungsarbeit“ haben. „Der Aufbau effektiv arbeitender und legitimierter öffentlicher Einrichtungen“ sei die wichtigste Herausforderung, der sich das Land zu stellen habe, so der Experte.
Die Erneuerung des Staates
Auch Cyrus Sibert, haitianischer Journalist und verantwortlich für den Blog „Réseau Citadelle“, teilte uns in einem Telefoninterview mit, mit dem Sieg Martellys habe die Wählerschaft der politischen Elite des Landes einen Denkzettel verpassen wollen: Der Kandidat verfolge „weder Ideen noch Projekte“. Statt in Unbeweglichkeit zu verharren, habe das Volk es gewagt, seine Stimme einem Außenseiter zu geben, so Sibert.
Seiner Meinung nach „eine gute Entscheidung für die Demokratie“, denn „das Volk wurde sich seiner Macht bewusst“, unterstrich der Journalist. Während Montagnacht auf den Straßen der Ausgang der Wahl gefeiert wurde, habe ein Jugendlicher das Ergebnis mit den Worten auf den Punkt gebracht: „Préval wurde gezwungen, seinen Jude Céléstin im Regen stehen zu lassen, und hinzunehmen, dass Martelly den Präsidentenposten einsackt“.
Schnittstelle Martelly
Dennoch berge das neu erwachte Bewusstsein des Volkes auch seine Gefahren: „Martelly hat dem Volk viele Versprechungen gemacht, und das Volk hat nun sehr hohe Erwartungen an ihn. Wenn er die nicht erfüllt, wird das bestimmt nicht tatenlos hingenommen“, denn das Volk habe Martelly nicht gewählt, „um der Macht die Macht zu geben“, sondern „um mit Macht die Dinge in unserem Land zu verändern.“
Auf die Frage, welche politischen Politik der Popsänger seiner Meinung nach verfolgen werde, antwortete Sibert, er rechne mit „weit reichenden Veränderungen“ in der Sicherheitspolitik. Außerdem gehe er davon aus, dass sich Martelly stärker als seine Vorgänger auf „eine Öffnung des Landes für internationale Konzerne und Investoren“ konzentrieren werde. Der Großteil seiner Anhänger sei „zwischen 15 und 25 Jahre alt. Sie sind sehr auf die westliche Kultur ausgerichtet und wollen, dass ihr Land Teil der Weltwirtschaft ist“.
Martelly verkörpere die Schnittstelle zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen: „Er stammt aus der Mittelklasse, hat Kontakte zu den unteren Volksschichten und zur Bourgeoisie und hat Freunde sowohl bei den Duvaliers als auch bei den Lavalas-Anhängern“, deren Bewegung in ihrer Verbreitung, ihrer Macht und ihrer Vielfalt vergleichbar sind mit den Peronist*innen in Argentinien.
Bürgerrechtler befürchtet Rekolonialisierung
Henry Boisrolin, der seit der Duvalie-Diktatur in Córdoba lebt und das Demokratische Haitianische Komitee (Comité Democrático Haitiano) in Argentinien koordiniert, sieht die Ereignisse aus einer gänzlich anderen Perspektive: Was in Haiti stattgefunden habe, sei keine Wahl im eigentlichen Sinne gewesen, sondern „gewisse Bewohner des Landes“ hätten „eine Art Selektion durchgeführt, und zwar eine Gruppe mit enormer wirtschaftlicher Macht und Schlagkraft“.
Martelly habe selbst gesagt, er habe keine Probleme damit, den Ex-Diktator Jean Claude Duvalier in den Kreis seiner Berater*innen aufzunehmen und zugegeben, dass er sich mit 15 oder 17 Jahren der „Tonton Makoute“, der Schlägertruppe des Diktators angeschlossen habe, aus Selbstschutz, wie Martinelly sagte.
Offenes Ende
„Die Situation bleibt komplex, zumal Martelly nicht einmal in der Lage ist, unsere dringendsten Probleme zu lösen, mit denen sich die Mehrheit unserer Bevölkerung herumschlägt“, so Boisrolin. Für ihn sei die Wahl des Popsängers zum Präsidenten ein Schritt in Richtung Re-Kolonialisierung des Landes, erklärte der Bürgerrechtler abschließend.
Anm. der Redaktion: Die Bekanntgabe der endgültigen Wahlergebnisse war für den 16. April vorgesehen und musste zwei Mal verschoben werden. Am gestrigen 20. April ist der Wahlsieg von Michel Martelly endgültig bestätigt worden.
* Der Originalartikel erschien am 6. April unter dem Titel „Final abierto“ in der uruguayischen Tageszeitung „La diaria“.
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