von Maria Luisa Mendonza
(Quito, 18. August 2010, alai).- Ein bekanntes Kindermärchen handelt vom kleinen Juan, der sehr arm war und nichts zu essen hatte. Seine Mutter bat ihn, in die Stadt zu gehen und ihre letzten Habseligkeiten gegen Essen einzutauschen. Doch Juan kehrte nur mit ein paar Samen für Bohnen zurück. Diese jedoch, einmal ausgesät, begannen zu keimen und verwandelten sich in eine riesige Pflanze, die bis in die Wolken hinauf wuchs. Der kleine Juan kletterte bis ganz nach oben und fand in den höchsten Höhen einen Riesen, der eine magische Harfe und ein Huhn mit goldenen Eiern bewachte. Mit seinem unglaublichen Mut besiegte Juan den Riesen und nahm die Harfe, aus der eine wundersame Melodie erklang und das Huhn mit sich. Von da an musste er nie mehr Hunger leiden.
Die Bohnensamen
Eine der zentralen Debatten auf dem Amerikanischen Sozialforum befasste sich mit den geopolitischen Kämpfen um strategische Ressourcen auf unserem Kontinent. Die Ressourcen können wir auch als den Schatz beschreiben, den der kleine Juan vom Riesen eroberte. Die Bohnensamen könnten mit der Vielzahl von Analysen und Aktionen verglichen werden, die mit der Kampagne gegen die amerikanische Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) im Zusammenhang stehen. Das Zusammenwirken verschiedener Kräfte und Erfahrungen auf diesem Weg hat uns schließlich an den heutigen Punkt von Reflexion und Analyse geführt.
Die Gegenbewegung zum Freihandelsabkommen hat es geschafft, unterschiedlichste Themen aufzugreifen und mit einzubeziehen. Dadurch wurde es möglich, verschiedene Facetten imperialistischer Dominanz in der heutigen Zeit zu verstehen und die Widersprüche der kapitalistischen Auseinandersetzungen wahrzunehmen und das hat uns auch in die Lage versetzt, Einigkeit zwischen den verschiedenen organisierten sozialen Sektoren der Bewegung herzustellen.
Heutzutage ist uns die Verbindung zwischen Wirtschaftsverträgen, wie etwa den Vorschlägen für die geplante Freihandelszone ALCA, der Initiative für Regionale Südamerikanische Infrastrukturprojekte IIRSA (Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regional Suramericana), der US-amerikanischen militärischen Dominanz – in Form von US-Militärbasen, Manövern, Überwachung etc. – und finanzieller Dominanz durch eine Verschuldungstaktik klar: Mit diesen Mechanismen wollen transnationale Konzerne und Kapitalmonopole ihren Einflussbereich über strategische Ressourcen ausweiten; und dafür ist es notwendig, die Repression gegen soziale Bewegungen und Proteste zu verstärken.
Huhn mit goldenen Eiern
Die Energieressourcen Erdöl, Bodenschätze, Erdgas, Wasser, Land und Biodiversität stehen deshalb im Zentrum der Auseinandersetzungen, weil sie die Grundlage für die Produktion und Reproduktion von Kapital bilden. Insofern können wir diese Energiequellen als ‚das Huhn mit den goldenen Eiern‘ des Kapitalismus beschreiben. Der Widerstand der Bevölkerung gegen Großprojekte wie Staudämme, die industrielle Landwirtschaft mit Monokulturen, die Ölförderung und den Bergbau ist immens wichtig, um das Fortschreiten des Monopolkapitalismus zu bekämpfen.
Die heutigen Macht- und Dominanzmechanismen in Südamerika unterscheiden sich im Wesentlichen nicht von den kolonialen Verhältnissen. Ihre Grundlagen sind in gewisser Weise dieselben geblieben: Land, das sich in den Händen weniger Personen befindet und eine Ökonomie, die auf externer Nachfrage basiert. Deshalb besteht kein großer Unterschied zwischen dem alten Großgrundbesitz und den neuen transnationalen „modernen“ Agrarbetrieben. Das Neue an diesen Verhältnissen ist die Vergötterung neuer Technologien, die zu einen positivistischen und funktionalistischen Denken hinzukommt, das sich in dem unerschütterlichen Glauben an eine fortschrittliche Entwicklung der Produktionsmittel niederschlägt. Diese Ideologie passt wie angegossen zum konservativen Diskurs von ‚Entwicklung‘, dem neoliberalen Verständnis von Effizienz sowie internationalen Kapitalinteressen.
Gleiche Produktionsverhältnisse
Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Struktur der Zuckerrohrindustrie in Brasilien. In der Kolonialzeit wurde nicht Zuckerrohr sondern Zucker exportiert, der in lokalen Produktionsstätten hergestellt worden war. Der Zucker war zu jener Zeit eine der wichtigsten Waren und veränderte auch die Essgewohnheiten in Europa. Demnach ändert das Vorhandensein moderner Produktionsmittel noch lange nichts an den Produktionsverhältnissen.
Nicht viel anders sieht das gegenwärtige brasilianische Produktionsmodell der Ethanolgewinnung aus. Es stützt sich ebenfalls auf das alte System des Großgrundbesitzes, der so genannten Latifundien, und auf die brutale Ausbeutung von Arbeitskräften. Einen neuen Aspekt in der Ethanolindustrie, die mit dem Projekt Pro-Alcool der siebziger Jahre verglichen werden kann, stellt jedoch die Allianz von Bereichen der industriellen Landwirtschaft mit Erdöl- und Minenunternehmen, Autoherstellern, Biotechnologiefirmen, der Baubranche und Kreditinstitutionen dar. Diese Entwicklung steht keinesfalls im Widerspruch zur Oligarchie der Großgrundbesitzer*innen, denn diese profitieren erheblich, sowohl vom stärkeren Kapitaleinsatz als auch vom Scheitern einer Agrarreform.
Staatlich subventionierter Reichtum
Der Anteil ausländischer Investitionen in der Zuckerrohrindustrie ist von einem Prozent im Jahr 2000 auf etwa 25 Prozent im Jahr 2010 angestiegen – gefördert durch staatliche Subventionen. Es wird geschätzt, dass die Bereiche, die mit der Zucker- und Alkoholgewinnung in Verbindung stehen, zwischen 2008 und 2009 etwa zwölf Milliarden Reais (5,378 Milliarden Euro) von der Brasilianischen Nationalbank für Entwicklung BNDES (Banco Nacional de Desarollo) erhalten haben. Diese Subvention stammt in großen Teilen aus dem Fonds für zur Unterstützung von Arbeiter*innen FAT (Fondo de Amparo al Trabajador). Abgesehen von dieser übertriebenen Subventionierung profitieren Großgrundbesitzer*innen auch von der unrechtmäßigen Aneignung von Landflächen mithilfe gefälschter Besitzurkunden, der Aufweichung der Umwelt- und Arbeitsgesetze sowie den weiterhin existenten sklaverei-ähnlichen Arbeitsverhältnissen.
Die Ausbreitung der auf Monokulturen basierenden Landwirtschaft führt zur Vertreibung der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, verhindert die Weiterentwicklung anderer wirtschaftlicher Sektoren und kreiert abhängige Arbeitsverhältnisse für Zeitarbeiter*innen und prekär Beschäftigte. Der Exodus der Landbevölkerung lässt die Zahl jener Arbeitskräfte auf dem Land und in der Stadt anwachsen, die den Ausbeutungsmechanismen besonders ungeschützt gegenüberstehen. Darüber hinaus verstärkt sich dadurch die Lebensmittelkrise. Heute arbeiten 70 Prozent der Bauern und Bäuerinnen in der landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion und sie stellen 80 Prozent der Arbeitskräfte auf dem Land. Damit ist ihr Widerstand von strategischem Wert.
Extreme Widersprüche
Die Prozesse des antiimperialistischen Widerstands in Lateinamerika konzentrieren sich vor allem auf die Verteidigung der strategischen Ressourcen. Ein wichtiges und symbolhaftes Beispiel stellt hier der Kampf um Wasser dar, der in Cochabamba, Bolivien, begann. Dort führte er zu einem politischen Wandel im Land und fand seinen vorläufigen Höhepunkt in der landesweiten Mobilisierung für die Verstaatlichung der Gasressourcen. Die bolivarianische Revolution in Venezuela wurde erst mit der Wiederverstaatlichung der Erdölgewinnung und -Produktion möglich. Deshalb besteht die imperialistische Strategie darin, mit militärischer Präsenz die Kontrolle über die Ressourcen auf dem südamerikanischen Kontinent zu erlangen. Dies geschieht mithilfe von Militärbasen, Truppenkontingenten, Marineflotten sowie bilateralen militärischen Abkommen für gemeinsame Truppenübungen.
Wir leben in einer Zeit extremer Widersprüche und deshalb müssen wir die Kämpfe für unsere Unabhängigkeit auf der demokratischen, politischen, wirtschaftlichen und ernährungspolitischen Ebene gemeinsam führen. Dafür ist es unerlässlich, unsere Gemeinsamkeiten zu stärken und zu vertiefen und uns auf unsere reiche Erinnerung und auf unser kollektives Wissen zu stützen, dass wir in den langen Jahren auf diesem Weg bereits erworben haben.
Die Autorin:
Maria Luisa Mendonza ist Journalistin und Koordinatorin des Sozialen Netzwerkes für Gerechtigkeit und Menschenrechte (Red Social de Justicia y Derechos Humanos) in Asunción, Paraguay.
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