von Yásser Gómez Carbajal*
(Fortaleza, 20. Juni 2014, adital).- Mariátegui. Die Zeitschrift der Ideen im Interview mit Alicia Girón, Herausgeberin des lateinamerikanischen Wirtschaftsmagazins „Problemas del Desarrollo“ und Mitarbeiterin am Institut für Wirtschaftsforschung der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), das im Rahmen einer Studie die Auswirkungen des Freihandelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) bzw. TLCAN (Tratado de Libre Comercio de América del Norte) auf den mexikanischen Staat 20 Jahre nach der Unterzeichnung untersucht hat.
Revista Mariátegui – Wie sieht die Bilanz 20 Jahre nach der NAFTA-Unterzeichnung in Mexiko aus?
Alicia Girón – In dieses Abkommen wurden recht hohe Erwartungen gesetzt. Die vertragliche Verbindung mit einem internationalen Hegemonialstaat wie den USA und mit Kanada als ebenfalls hoch entwickelten Staat sollte Mexiko den schnellen Sprung auf die Seite der entwickelten Länder ermöglichen. Wie wir 20 Jahre später sehen, hat das Abkommen Gewinner und Verlierer hervorgebracht. Ich möchte mich im Folgenden vor allem auf die Verlierer beziehen.
Was genau meinen wir, wenn wir von Verlierern sprechen? Die Finanz- und die Steuerpolitik wurden nach den Interessen der US-amerikanischen Zentralbank, dem Federal Reserve System, ausgerichtet; damit hat sich die mexikanische Zentralbank einer kontraktiven Finanzpolitik verschrieben. Andererseits wurde verhindert, dass der Peso im Verhältnis zum Dollar drastische Bewegungen macht. Natürlich ist Stabilität ein ganz wichtiger Faktor, in diesem Fall hat diese Stabilität jedoch dazu geführt, dass die mexikanische Wirtschaft während der ersten Dekade dieses Jahrhunderts nicht in dem Maße gewachsen ist wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere den südlichen Staaten des Kontinents.
Gewinner dieser Entwicklung ist die Fahrzeugindustrie, die einen Großteil ihrer Produktion in die USA exportiert; letztendlich handelt es sich hier jedoch um Tochterfirmen großer transnationaler Konzerne und japanischer Unternehmen. 20 Jahre nach der NAFTA-Unterzeichnung steht fest: Es gibt Gewinner und Verlierer, aber was ganz klar ist: Die Situation auf dem mexikanischen Arbeitsmarkt hat sich durch das Abkommen nicht verbessert. So erklären sich vor allem die mehr als zehn Millionen Mexikaner*innen, die sich in den USA bessere Verdienstmöglichkeiten erhofften, gerade als in den USA Aufschwungstendenzen zu verzeichnen waren.
Revista Mariátegui – Welche Sektoren sind in Mexiko noch betroffen – in wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Hinsicht?
Alicia Girón – Auf jeden Fall die Landwirtschaft. Das sollte allen Staaten, die mit den USA ein Abkommen unterzeichnet haben, eine Lehre sein. Ländern wie Kolumbien, Chile, Peru. Mexiko hat die Zölle für die Maiseinfuhr abgeschafft, und nun überschwemmt der genetisch veränderte Mais der großen US-amerikanischen Konzerne den mexikanischen Markt und verdrängt die inländischen Produktionsbetriebe. Die brachliegenden ehemaligen Maisanbaugebiete haben sich inzwischen zu Zentren des Drogenhandels entwickelt.
Revista Mariátegui – Wieviel hat die Entwicklung des Freihandelsabkommen dazu beigetragen, dass die Mexikaner*innen weiterhin in die USA abwandern?
Alicia Girón – Es ging ja darum, Arbeitsplätze in Mexiko zu schaffen, besonders in der Landwirtschaft, aber wie wir heute sehen, besteht das Problem in allen Sektoren. Jede Familie in Mexiko hat mindestens einen Verwandten, einen Sohn, einen Onkel, der oder die in den USA lebt, wenn nicht sogar den Vater oder die Mutter. Und das macht in Mexiko viel aus. Die Geldsendungen aus dem Ausland stellen die zweitgrößte Deviseneinnahmequelle dar.
Revista Mariátegui – Bleiben wir beim Thema Finanzpolitik. Inwieweit ist die mexikanische Wirtschaft von den USA abhängig?
Alicia Girón – Man kann sagen, dass die Devisen aus den Ölexporten und den Auslandsüberweisungen kommen. Davon können wir dann wieder unsere Importe finanzieren.
Revista Mariátegui – Was ist mit den mexikanischen Banken, die von den Nordamerikaner*innen übernommen wurden?
Alicia Girón – Das NAFTA trat am 1. Januar 1994 in Kraft. Ein Jahr später hatten wir in Mexiko eine Bankenkrise. Weil es den Finanzinstituten nicht schnell genug gelang, wieder zahlungsfähig zu werden, wurden sie zu sehr niedrigen Preisen verkauft, vor allem an spanische Banken. Dies ermöglichte BBVA und der Santander Bank eine schnelle Ausbreitung in Mexiko, aber auch in anderen Ländern wie Peru, Brasilien, Argentinien, Venezuela, Bolivien und Ecuador. 20 Jahre nach dieser Bankenkrise zeigt die Bilanz, dass wir nun die spanischen Banken retten müssen, denn Mexiko leitet etwa 30 Prozent der Gewinne, die die Banken erwirtschaften, an den jeweiligen Mutterkonzern in Spanien weiter.
• Yásser Gómez Carbajal. Journalist. Herausgeber von Mariátegui. Zeitschrift der Ideen.
20 Jahre nach der NAFTA-Unterzeichnung: Mexiko steht als der große Verlierer da von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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