Zum unterschiedlichen Umgang mit der Diktatur

von Instituto Humanitas Unisinos

(Fortaleza, 17. Oktober 2012, adital).- Die brasilianische Historikerin Caroline Bauer (Jahrgang 1983) erklärt in einem Interview, warum Brasilien sich schwerer tut als Argentinien, die Diktatur aufzuarbeiten.

 

 

 

Sie forschen über die Militärdiktaturen in Brasilien (1964 bis 1985) und Argentinien (1976 bis 1983). Was lässt sich in beiden Fällen über die Praxis des Verschwindenlassens von Oppositionellen zwecks Errichtung eines Terrorregimes sagen?

Beide Diktaturen nutzten das Verschwindenlassen als eines der wichtigsten Mittel, um in der Gesellschaft eine „Kultur der Angst“ zu fördern. Es ging zum einen um Bestrafung, vor allem aber um eine Warnung an andere, sich tunlichst nicht mit der Diktatur anzulegen. Natürlich waren auch die Angehörigen und das soziale Umfeld der Opfer betroffen. Dies hatte einen Vervielfachungseffekt zur Folge hinsichtlich Angst und Terror.

Wie gingen Brasilien und Argentinien mit der Frage der Desaparecidos in der Übergangsphase zur wiederhergestellten Demokratie um?

Wir müssen zunächst einmal definieren, über welchen Zeitraum wir reden. In den Übergangsjahren beispielsweise, als noch immer die Diktaturen über das Geschehen wachten, wurden die Desaparecidos wie zuvor behandelt: Man bestritt schlicht ihre Existenz. Und als dann doch zugegeben wurde, dass Menschen verschwunden waren, wurden falsche und verdreht Darstellungen in der Öffentlichkeit verbreitet. Nachdem schließlich die Amnestiegesetze verkündet wurden, betrieben die Übergangsregierungen eine „Politik des Vergessens“: So wurden Dokumente zerstört, Täter*innen erhielten Straffreiheit und es gab ein regelrechtes „Verbot der Vergangenheit“ – in dem Sinn, dass bestimmte Debatten einfach untersagt wurden, „zum Wohle der künftigen Demokratie“.

In Argentinien jedoch ändert sich die Situation während der ersten zivilen Regierung nach der Diktatur einschneidend. Ab der Regierung von Raúl Alfonsín gilt die „Herrschaft des Gesetzes“, und die Befehlshaber der Militärjuntas werden vor Gericht gestellt. Außerdem wird die Nationale Kommission für das Verschwinden von Personen Conadep (Comisión Nacional sobre la Desaparición de las Personas) ins Leben gerufen. Sie soll Fälle von Verschwundenen untersuchen: die Umstände, die verwickelten Personen usw. Die Rückkehr Argentiniens zur Demokratie vollzieht sich also in Gestalt eines Bruchs mit der diktatorischen Vergangenheit. Das Recht auf Erinnerung wird ebenso garantiert wie das Recht auf Wahrheit und jenes auf Gerechtigkeit. Das neue politische Regime arbeitet unter neuen ethischen und moralischen Parametern.

In Brasilien hingegen, wo sich der politische Übergang in vielerlei Hinsicht stärker im Zeichen der Kontinuität vollzog, gab es unter der ersten Zivilregierung keine Veränderungen der Politik hinsichtlich der Diktatur. Präsident José Sarney war mit dem alten Regime verbunden. Außerdem wurde die brasilianische Verfassung erst 1988 verändert. In einigen Bundesstaaten dauerte es sogar bis Anfang der 1990er Jahre bis der Geheimdienst der Diktatur, der Nationale Informationsdienst SNI (Serviço Nacional de Informações) und die Abteilungen für politische und soziale Ordnung DOPS (Departamentos de Ordem Política e Social) aufgelöst wurden. Wie ist unter diesen Umständen an eine Politik der Erinnerung und Wiedergutmachung für die Desaparecidos der brasilianischen Diktatur zu denken?

Wie sehen Sie die Wiederaufnahme der Diskussionen über die Diktatur unter den Regierungen Lula und Kirchner? Wodurch wurde ihr jeweiliges politisches Handeln bestimmt?

Beide Präsidenten nahmen die Debatte wieder auf, zunächst einmal aufgrund der persönlichen Verbindung Lulas und Kirchners zur Thematik: Beide befanden sich in der Opposition gegen die Diktatur. Die Erinnerungsveranstaltungen zum 30. Jahrestag des Putsches in Argentinien 2006 und zum 40. Jahrestag des Beginns der Militärdiktatur in Brasilien 2004 waren von grundlegender Bedeutung dafür, dass die Gesellschaft von der Regierung eine echte Erinnerungspolitik bezüglich der Desaparecidos einfordern konnte.

Es kam zu einem sehr wichtigen Wechsel der Generationen, der dafür sorgte, dass neue Zweifel angemeldet wurden und über die Richtung nachgedacht wurde, die Argentinien und Brasilien bei der Förderung der Menschenrechte einschlagen sollten. Und erneut unterschieden sich die Maßnahmen ziemlich deutlich, die beide Länder in diesem Zusammenhang ergriffen. Während Präsident Kirchner die Eröffnung von Prozessen gegen Zivilisten und Militärs anordnete, die in die Finanzierung und die Repression der Diktatur verwickelt waren, nahm Präsident Lula gegenüber den brasilianischen Streitkräften eine versöhnlichere Haltung ein. Die Archive der Diktatur wurden geöffnet, eine Amnestiekommission und eine Sonderkommission für Desaparecidos und aus politischen Gründen ums Leben Gekommene eingerichtet.

Über welches politische und historische Gewicht verfügen die Militärs in Argentinien und Brasilien bei der Diskussion über die Diktatur?

Der große Unterschied zwischen Argentinien und Brasilien hinsichtlich der Diktatur-Darstellungen ihrer jeweiligen Militärs besteht in der gesellschaftlichen Legitimität, die ihre Diskurse aufweisen. In Argentinien ist es ein Verbrechen, die Diktatur zu rechtfertigen, zu leugnen oder einem Revisionismus zu frönen. In Brasilien hingegen genießen die repressiven Handlungen der Diktatur eine große Akzeptanz bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung. Diesem Verständnis nach waren die autoritären Praktiken und die Verletzung der Menschenrechte um einer „größeren Sache“ willen gerechtfertigt. Diese Sache trägt den Namen „Bekämpfung der Subversion“ – demnach ging es darum, Brasilien von der „kommunistischen Bedrohung“ zu befreien.

In welchem Maße konnte die Erinnerungspolitik dieses Zeitraums dazu beitragen, das Geschehen während der Diktatur aufzuklären?

Ein Beispiel macht die Unterschiede zwischen Argentinien und Brasilien sehr deutlich. In Argentinien wurde die Wahrheitskommission bereits wenige Tage nach Ende der Diktatur in ihre Arbeit eingesetzt. In Brasilien dagegen dauerte es – trotz der Arbeit der erwähnten Kommissionen – geschlagene 26 Jahre, bis eine Wahrheitskommission die Untersuchungen aufnahm. Und selbst hierfür musste erst einmal der Widerstand der konservativsten Kreise der brasilianischen Politik überwunden werden.

Wie sehen Sie die Einrichtung der Wahrheitskommission in Brasilien? Gibt es wirklich den Versuch, die Diktatur aufzuarbeiten?

Eine Wahrheitskommission hat nur dann Nutzen für eine Gesellschaft, wenn ihre Arbeit unter einer guten Führung steht, und ihre Empfehlungen von der Politik auch befolgt werden. Der Gesetzestext ist auf jeden Fall sehr eindeutig, was die Vorgabe betrifft, die vom Staat während der Diktatur begangenen Verbrechen aufzuklären. Von dieser Seite her unterliegt die Arbeit der Wahrheitskommission daher keinen Begrenzungen. Aus meiner Sicht bemühen sich die Mitglieder der Kommission, dass es bei der Aufarbeitung und der Klärung der Verantwortlichkeiten zu keinen anders gearteten Behinderungen kommt.

 

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