Das Permanente Völkertribunal im „Zentrum des Schmerzes“

von Gerold Schmidt, Mexiko-Stadt

(Berlin, 11. Juni 2012, npl).- Es war eine Schilderung des alltäglichen Horrors und gleichzeitig ein befreiendes Gefühl für viele der Sprechenden. Drei Tage lang trugen Ende Mai in der mexikanischen Ciudad Juárez verschiedenste Betroffene und Mitglieder sozialer Bewegungen aus dem ganzen Land einem sechsköpfigen Ethikgericht vor, welcher Art von Menschenrechtsverletzungen sie oder ihre Angehörigen ausgesetzt waren und sind.

Mit der allgemeinen Einführungsanhörung vor dem Permanenten Völkertribunal TPP (Tribunal Permanente de los Pueblos) versuchten die Teilnehmer*innen eine „reale mexikanische Geschichtsschreibung“.

Kontrapunkt in Ciudad Juárez

Es sollte ein Kontrapunkt gegen die offizielle Darstellung der Lage in Mexiko gesetzt werden. Ebenso sollte damit aufgezeigt werden, wie sehr der seit 1994 gültige Nordamerikanische Freihandelsvertrag mit den USA und Kanada (NAFTA) und Dutzende weitere von Mexiko abgeschlossene Abkommen mit einer humanitären Krise verschiedenster Facetten einhergegangen sind.

Mit Bedacht war gerade die Grenzstadt zu den USA im Bundesstaat Chihuahua für die Veranstaltung ausgesucht worden. Für so gut wie jedes der sieben vor dem Tribunal angesprochenen Themen lässt sich in Ciudad Juárez ein Beispiel finden. Die Stadt erlangte in den letzten zwei Jahrzehnten traurige Berühmtheit aufgrund der zahlreichen Feminizide und der Obstruktionspolitik der Behörden bei der Verfolgung dieser Verbrechen.

Aber ebenso präsent sind die Missachtung der Arbeitsrechte beispielsweise in den Teilfertigungsfabriken, die Gewalt gegen Migrant*innen, die Umweltzerstörung, die allgemeine Straffreiheit, das Morden im Kontext des so genannten Drogenkrieges, Zensur und physische Aggression gegen Medienmitarbeiter*innen. Wenn Chihuahua das Einfallstor für NAFTA war, dann ist Ciudad Juárez, nach den treffenden Worten eines Kollegen, das „Zentrum des Schmerzes“, in dem sich die verschiedensten Menschenrechtsverletzungen in Mexiko wie in einem Brennglas spiegeln.

Rückzug des Staates stärkt „Narcos“

Bewegend der ungeplante Auftritt einer Gruppe von 92 Frauen aus Ciudad Juárez, die erst über die Medien von der Anhörung erfahren hatten und dort um Gehör bat. Sie fügten den Schilderungen der Feminizide noch weitere erschütternde Fälle aus ihrem direkten Umfeld hinzu. Daneben gab es nüchterne Analysen, die auf die strukturelle Gewalt und die bewusste Fahrlässigkeit des Staates als Vorbedingung für die mörderische physische Gewalt eingingen.

So legte der Bauernvertreter Víctor Quintana dar, wie der Rückzug des Staates als Investor und Entwicklungsmotor in den ländlichen Gebieten die zunehmende territoriale Kontrolle durch den Drogenhandel ermöglichte. Das soziale Gewebe auf dem Land, die auf Maisanbau beruhende indigene und kleinbäuerliche Lebenskultur, sehen sich durch die offizielle Wirtschaftspolitik und dem vielfach existierenden Parallelstaat der „Narcos“ Attacken ausgesetzt, die ohne die zwingende Anwendung direkter Gewalt verheerend wirken.

„Staatsterrorismus“ in Mexiko

Das Permanente Völkertribunal wird erst Anfang 2014 ein Urteil sprechen. Bis dahin wird es für jeden Themenbereich noch detaillierte Einzelanhörungen geben. Dennoch bekamen die Mitglieder des Tribunals überreichlich Material für eine erste Einschätzung. Der argentinische Menschenrechtsexperte Alejandro Teitelbaum kritisierte die seiner Meinung nach irreführende Wortwahl „schmutziger Krieg“ für eines der sieben Themen.

Es handele sich nach dem Gehörten vielmehr um Aktionen eines Staates gegen eine wehrlose Bevölkerung. Für die Gesamtheit der in Mexiko ausgeübten Gewalt zögerten er und seine Kolleg*innen nicht, von „Staatsterrorismus“ zu sprechen. Dies bedeute nicht, dass der mexikanische Staat für alle Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sei. Er habe aber immer mehr die Rolle eines Wächters von Privatinteressen übernommen. Recht müsse jedoch anders gedacht und konstruiert werden, so dass es den Völkern gerecht werde.

Diskussion um kollektive Rechte

Diesen kollektiven Rechtscharakter betonte auch der Universitätsprofessor Andrés Barreda, der zu den treibenden Kräften gehörte, das Tribunal nach Mexiko zu bringen. Das Tribunal sei „ein Raum, unsere kollektiven Rechte zu diskutieren. Denn das ganze Institutionenwesen ist so angelegt, dass den Leuten vermittelt wird: ihr könnt eure Rechte nur individuell einklagen“. In Ciudad Juárez zeigten die Reaktionen vieler Teilnehmer*innen, wie wichtig es für sie war, ihre individuellen Erfahrungen erlittener Menschenrechtsverletzungen in einen kollektiven und übergeordneten Kontext einordnen zu können.

Das Permanente Völkertribunal ist eine Initiative, die in der ausdrücklichen Nachfolge der Russell-Tribunale steht. Letztere arbeiteten von 1966 bis 1967 die US-Verbrechen im Vietnamkrieg auf und hielten von 1974 bis 1976 über die lateinamerikanischen Diktaturen Gericht. Das Völkertribunal hat seit 1979 in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Themen fast 40 Sitzungen durchgeführt. Ihm gehören 130 angesehene und oft hochrangige Persönlichkeiten aus aller Welt an. Da seine Urteile keinen rechtlich bindenden Charakter haben, setzt das Tribunal auf seine moralische Autorität und seine Wirkung in der Öffentlichkeit.

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