Goldsuche. Umweltzerstörung, Sklaverei und ökonomisches Debakel

Goldsuche Umweltverschmutzung Ökozid
Goldrausch, Entwaldung, Wasserknappheit, Stromversorgung – alles hängt zusammen. Hier das Wasserkraftwerk Guri, wichtigster Stromerzeuger in Venezuela.
Foto: William A Contreras via wikimedia
CC BY-SA 3.0

(Caracas, 3. Juli 2023, servindi/Debates Indígenas).- Wirtschaftskrise und Perspektivlosigkeit im ganzen Land bilden den Nährboden für die aktuellen Migrationsbewegungen. Etliche Venezolaner*innen gehen gen Amazonas, um dort illegal nach Gold zu suchen. Ob Jugendliche ohne Ausbildung, Akademiker*innen oder Straftäter*innen ‑  aufgrund der fehlenden Möglichkeiten sehen die unterschiedlichsten Arten von Menschen in der Goldsuche eine Perspektive, trotz der gesundheits- und umweltschädigenden Folgen. Auch indigene Gemeinschaften bleiben nicht verschont. Sie wissen: Wer nicht aktiv mitmacht oder den Bergbau duldet, handelt sich Ärger mit den Banden ein. Wegen der Abholzungen und der Verschmutzung von Flüssen mit Quecksilber droht hunderten Gemeinschaften der Ökozid.

80-prozentiger BIP-Verlust innerhalb von zehn Jahren

Dass Venezuela die schwerste Etappe seiner jüngeren Geschichte durchmacht, ist für niemanden mehr ein Geheimnis. Es ist allgemein bekannt, dass Venezuela in den letzten zehn Jahren einen Großteil seines Bruttoinlandsprodukts verloren hat. Die Schätzungen liegen bei 80 Prozent, denn offizielle Zahlen fehlen. Gründe für den Einbruch der Wirtschaft sind unter anderem interne politische Konflikte, Sabotagen seitens der Opposition und wirtschaftliche Sanktionen der USA. Im Vergleich hat Venezuela mehr als das Doppelte von dem eingebüßt, was Kuba während des „período especial“  [Die Sonderperiode in Friedenszeiten: Wirtschaftskrise ab 1990 nach dem Zerfall der Sowjetunion als Unterstützerin] verloren hatte. Es ist viermal mehr als das, was Griechenland nach der Finanzkrise 2008 verlor. Mehr als die Verluste Syriens und Jemens addiert durch die Kriege der letzten Jahre. Das einzige Land, das in den letzten 50 Jahren noch mehr BIP eingebüßt hat als Venezuela, ist Libyen, das nach dem Bürgerkrieg 2011 fast ganz von der Weltkarte verschwand. Das makroökonomische Debakel in Venezuela steht in Korrelation zu den mikroökonomischen Entscheidungen und Krisen einzelner Familien. In einer Stadt wie Puerto Ayacucho, Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas, kosten Autoersatzteile, ein Liter Benzin oder ein Teller Essen das gleiche wie in Caracas – nur dass man in Puerto Ayacucho deutlich weniger verdient. Im Falle indigener Gemeinden ist die Situation noch gravierender: Unerschwinglich sind Flüge mit Kleinflugzeugen, die isolierte Gemeinschaften mit Proviant versorgen. Erfolgt die Reise auf Flüssen, kostet das Benzin (sofern verfügbar) deutlich mehr als der offizielle Preis. Hinzu kommen altbekannte Probleme: Unsicherheit durch Bandenkriminalität und Bestechungsgelder an Kontrollpunkten und Straßensperren. Ist die Situation in den Großstädten Caracas, Maracay oder Maracaibo schwierig, so muss sie im tiefen Landesinneren als schier hoffnungslos bezeichnet werden.

Erzwungene Mobilität

Im Großen und Ganzen ist die derzeitige wirtschaftliche Lage der Hauptgrund für die Emigrationswelle der Venezolaner*innen. Wie beim BIP gibt es auch hierzu keine offiziellen Zahlen. Nach Schätzungen von März 2023 der Plattform Interagencial R4V, die vom Hohen Flüchtlingskommissar der UN und der Internationalen Organisation für Migration koordiniert wird, haben  haben 7.239.957 Venezolaner*innen ihr Zuhause aufgegeben. Auch konservativere Schätzungen gehen von mindestens drei Millionen Menschen aus, die in den vergangenen Jahren Venezuela verlassen haben. Das wären laut Berechnungen des Zensus 2011 zehn Prozent der Bevölkerung von 2021. Zu der großen Zahl der Ausreisenden kommen die Fluchtbewegungen innerhalb Venezuelas, über die viel weniger berichtet wird. Tausende oder vielleicht Millionen Menschen ziehen von einer Zone, Stadt oder Region in eine andere, wechseln Beruf und Arbeitsplatz, um ihre Lebensqualität zu verbessern. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass dieser interne Migrationsfluss deutlich vielschichtiger  ist als der aus Venezuela heraus. „Interne Migration” meint dabei beispielsweise Familien und Einzelpersonen mit gehobenen Einkünften, die nach Caracas ziehen, um die Stromausfälle und prekären Lebensrealitäten ihrer Heimat hinter sich zu lassen, oder Leute auf der Suche nach einer Arbeit, die ihnen das Überleben ermöglicht, nach einem Job, der Perspektiven schafft angesichts einer Zukunft, die mindestens genauso ungewiss ist wie die Gegenwart. Genau diese Realität in Venezuela bildet den Nährboden für den illegalen Bergbau: eine Ausprägung der Devise „Rette sich, wer kann”. Einen Beweis dafür liefern die wachsenden Zahlen des illegalen Bergbaus inmitten der sich zuspitzenden allgemeinen Krise. Nach Schätzungen der sozialökologischen NGO Wataniba breitet sich die Goldsuche seit 2016 drastisch aus. Satellitenbilder und die direkte Feldarbeit belegen ein Wachstum von 294 Prozent: Waren 2019 knapp 34.000 Hektar betroffen, stieg die Zahl 2021 schon auf 134.000, eine Fläche so groß wie Hamburg und Bremen zusammen. Die sich verschärfende Krise und die Auswirkungen der globalen Pandemie spielen hier eine wichtige Rolle.

Auf der Suche nach dem El Dorado

Frauen und Männer aus allen Ecken des Landes wollen ihr El Dorado finden und betreiben deshalb illegale Goldgräberstätten im Amazonasgebiet: Kriminelle und junge Leute aus Caracas, aber auch Ärzte, Anwälte, Dozenten, Ex-Polizisten, Arbeiter, Fischer, Ex-Militärs und Buchhalter, Frauen, Mädchen und alte Menschen. Sogar Fälle ganzer Familien, die zu den Minen umzogen, sind bekannt. Am Standort „La Finca“ im Nationalpark Yapacana wohnen schätzungsweise 15.000 mehrheitlich nicht-indigene Personen. Nach seiner Hauptstadt Puerto Ayacucho ist diese Ansiedlung also die größte Stadt im Bundesstaat Amazons. Die Arbeiter*innen leben unter prekären Umständen und parallel zu den heimischen indigenen Gemeinschaften. Die irregulären Gruppen und Banden, die in der Zone mächtiger werden, beeinträchtigen massiv die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen der Indigenen. Wer in der Hoffnung kommt, sein Schicksal zu verbessern, wird oft bitter enttäuscht: Junge indigene und nicht-indigene Menschen fallen der Gewalt oder den prekären Arbeitsbedingungen zum Opfer. Frauen alle Altersklassen sind in der Zwangsprostitution gefangen. Menschen arbeiten unter sklavenähnlichen Bedingungen, um den (meist ausländischen) „Eigentümer*innen“ der Minen ihre Schulden abzubezahlen. Alle wissen, dass so die Wirklichkeit aussieht. Doch niemand spricht darüber, aus Angst vor den Konsequenzen. Der Sog der Minen hat etliche indigene Männer und Frauen angezogen. Manche kommen „freiwillig”, viele andere unter Zwang. Und die so genannte „Freiwilligkeit“ bleibt fragwürdig, weil die Betroffenen diese Arbeit nur aus Mangel an Alternativen wählen: entweder die Minen oder prekäre Perspektivlosigkeit.

Was bedeutet die Goldsuche und Ökozid für das indigene Leben?

Das Leben riskieren oder ein schlechtes Leben führen mit der Gewissheit, dass die eigene Familie Hunger und Verzicht erleiden wird, weil es keine Arbeit oder würdige Bezahlung gibt: Der indigenen Bevölkerung bleibt nichts anderes als selbst illegal Gold zu schürfen oder mit den kriminellen Banden zusammenzuarbeiten, aktiv wegzuschauen und später erpresst zu werden. Die erzwungene Migration der Indigenen hin zu den Minen als einzige wirtschaftlich sinnvolle Alternative hat nicht nur Auswirkungen auf die, die migrieren. Auch für diejenigen, die dortbleiben, verändert sich der Alltag. Immer weniger Menschen arbeiten im Yuca-Anbau und im Handel mit traditionellen Produkten. Auch ihre Lenkungsstrukturen drohen aufgrund der gegensätzlichen Meinungen zu den Minenaktivitäten auseinanderzubrechen. Die nun kleineren Gemeinschaften sind schwächer und können sich nur schwer gegen externe Gruppen wehren. All das wirkt sich auch negativ auf die Produktionskapazität der indigenen Gemeinschaften aus, auf ihre Felder, Territorien, Ressourcen und ihr Recht auf Eigenständigkeit und eigene Regierung. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der negative Umwelteffekt, der sich wiederum direkt auf indigene Gemeinschaften auswirkt. Die Mehrheit der Venezolaner*innen ist für Umweltschäden im Amazonas sensibilisiert. Sie erleben sie jedoch nicht direkt und haben auch nicht die gleichen kulturellen, emotionalen und weltanschaulichen Beziehungen zur Natur wie die indigenen Gemeinden. Es gibt unzählige Berichte über Quecksilbervergiftungen. Goldschürfer*innen trennen damit Gold von anderen Partikeln, vergiften so aber das Flusswasser und die Fische – eine Hauptnahrungsquelle für Indigene. Gleichzeitig schleppen Migrant*innen für Indigene noch unbekannte Krankheiten ein. Auch der Anstieg von Malaria-Fällen in den letzten Jahren ist auf den Bergbausektor zurückzuführen. Grund dafür ist, dass Entwaldungen und das Abtragen von Erde Pfützen und größere stehende Gewässer entstehen lassen, die Mücken anziehen.

Goldsuche, Entwaldung, Dürre, Stromversorgung – alles hängt zusammen

Erschwerend hinzu kommt, dass der venezolanische Teil des Amazonas Eigenschaften hat, die ihn besonders sensibel machen. Die urzeitlichen Böden bewirken, dass sich die reiche Biodiversität nur extrem langsam erholen kann – wenn überhaupt, da die Schäden oft irreversibel sind. Daher muss Venezuela sein Land nicht nur wiederaufforsten und das Flusswasser säubern, wie man das Bett eines gestauten Baches reinigen würde – es muss dringend verhindert werden, dass neue Schäden hinzukommen. Denn: Die Entwaldung des Amazonas ist auch für das Austrocknen von Wasserquellen verantwortlich – und das betrifft ganz Venezuela, besonders Großstädter*innen. Das ganze Land spürt die Konsequenzen bei der Ernte, weil Dürren häufiger auftreten und massiver werden. Und ohne Wasser weniger Strom: Ein Großteil des venezolanischen Stroms (der ohnehin schon knapp ist) stammt aus dem Wasserkraftwerk Guri im Bundesstaat Bolívar. Prognosen zufolge wird Venezuela noch dieses Jahr vom Wetterphänomen El Niño auf die Probe gestellt werden. Das Land erwartet ein Jahr voller Dürren, mindestens so schwer wie 2016 und 2009. Während der Ökozid für die meisten Venezolaner*innen schlussendlich nur indirekte Konsequenzen für das eigene Leben hat, bedeutet er für indigene Gemeinschaften das Ende ihrer Welt. Nicht nur ihr Lebensraum verschwindet. Auch ihre Auffassung vom Leben und ihre heiligen Orte könnten untergehen, weil andere Menschen vom Ehrgeiz getrieben werden. Der Großteil der venezolanischen Indigenen im Amazonas steht dadurch vor einer chancenlosen Alternative: Entweder sie stellen sich bewusst einem ungleichen Kampf, oder sie mischen mit beim Bergbau in der Hoffnung, wenigstens ein bisschen Gewinn für ihre Familien zu erzielen.

Übersetzung: Patricia Haensel

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