(Manaus, 11. November 2021, npla).- Die Corona-Pandemie hat Brasilien schwer getroffen. Gerade die Region rund um die Millionenstadt Manaus ist schwer gebeutelt. Mittlerweile hat sich die Infektionslage entspannt. Doch für viele indigenen Gemeinden sind die Auswirkungen der Pandemie dramatisch.
Lebensmittelspenden statt Einnahmen aus der Tourismusbranche
Genivaldo Castro Meira beugt sich vom Holzsteg in das Schnellboot herunter, schnappt sich ein Paket und gibt es an einen anderen Mann weiter. Dann ein weiteres Paket. Und noch eins. In den Paketen finden sich Reis, Bohnen, Öl und Nudeln. Die aufgereihten Männer sind Indigene des Tujuca-Volkes. Sie haben kunstvolle Zeichnungen auf den Körpern, tragen Perlenketten um den Hals und Blätterröcke um die Hüfte. Ihr kleines Dorf liegt am Rio Negro, rund eine Stunde von der Amazonas-Metropole Manaus entfernt. Hinter den kleinen Hütten des Dorfes erstreckt sich dichter Urwald. Bunte Papageien kreischen in der Luft.
„Die staatliche Indigenenbehörde hat uns vergessen.“
Die Lebensmittelpakete werden über Spenden finanziert und von der indigenen Organisation Copime mit dem Boot geliefert. Viele Indigene im Bundesstaat Amazonas sind darauf angewiesen, denn die Corona-Pandemie hat ihre Gemeinden hart getroffen. Genivaldo Castro Meira ist Cacique des Dorfes. So werden die Vorsteher*innen in indigenen Gemeinden genannt. In der maloca, einer traditionellen Versammlungshütte mit Dach aus Palmenblättern, macht er eine Pause und nimmt sich Zeit, mit uns zu sprechen. Ein paar Alte dösen in Hängematten, Kinder tollen herum. Vor der Pandemie haben sie hier Tourist*innen empfangen. Sie haben für sie getanzt, ihre Kultur präsentiert, Kunsthandwerk verkauft. „Der Tourismus wurde wegen der Pandemie gestoppt. Jetzt ist es sehr schwer für uns. Bis heute kommen die Touristen nicht. Seit einem Jahr und neun Monaten, seit fast zwei Jahren.“, so der Cacique. Die Corona-Pandemie hat Brasilien schwer getroffen. Mehr als 600.000 Menschen starben an dem Virus. Monatelang war Brasilien weltweites Epizentrum. Mittlerweile hat sich die Situation entspannt. Die Infektions- und Todeszahlen sind in den letzten Monaten stark zurückgegangen. Viele Brasilianer*innen sind geimpft. Doch die Auswirkungen der Pandemie sind verheerend, insbesondere für die indigenen Gemeinden. „Es gab Notfallhilfen, aber niemand hier hat sie erhalten. Die Funai hat uns nicht geholfen.“, erzählt Meira. Die staatliche Indigenenbehörde Funai habe viel versprochen, sei jedoch schon lange nicht mehr im Dorf aufgetaucht. „Viele Leute haben uns Hilfe zugesagt. Aber bis jetzt haben wir keine bekommen. Gott sei Dank kommt die Copime seit dem Beginn der Pandemie und hilft uns.“
Unterstützung kommt von der indigenen Selbst-Organisierung
Die Copime ist eine Indigenen-Organisation aus Manaus, die 2011 gegründet wurde. Mitbegründerin Marcivana Rodrigues gehört zum Volk der Sateré-Mawé. „Die Gemeinden rund um Manaus leben vom Tourismus. Als der Lockdown losging und die Touristen nicht mehr kamen, haben die Gemeinden gehungert“, berichtet die 50-Jährige. Die sozialen Auswirkungen der Pandemie sind dramatisch. Immer mehr Brasilianer*innen können sich nicht mehr selbst ernähren und sind auf Spenden angewiesen. Fast alle bekommen die Krise zu spüren. Doch wieder einmal sind die indigenen Gemeinschaften besonders stark betroffen. Dazu Aktivistin Rodrigues: „Die Copime hat mit Hilfe verschiedener Organisationen ungefähr 7.000 Lebensmittelpakete verteilt. Die indigenen Organisationen machen das, was eigentlich die Stadtverwaltung tun müsste.“
Abgeschirmt von der Stadt und vom Arbeitsplatz
Mit dem Boot der Indigenen-Organisation Copime geht es weiter auf dem Rio Negro. Die nächste Gemeinde kommt in Sicht. Ein kahler Abhang führt zu einer Ansammlung von kleinen Hütten. Das Boot legt an. Zuerst werden die Pakete ausgeladen. Ein Mann in Fußballtrikot und Surfshorts steht am Ufer, der die Aktion koordiniert. Es ist Joel do Nascimento, der Cacique des Dorfs. Hier leben rund 100 Familien, fast alle sind Indigene des Apurinã-Volks. Hier stellt der Tourismus keine Einnahmequelle dar. „Corona war sehr schwer für uns, weil viele von uns vorher Gelegenheitsjobs in Manaus gemacht haben. Wir konnten nicht mehr auf die andere Seite fahren, weil sie eine Barriere im Wasser hochgezogen haben“, so der Cacique Nascimento. Mit dem Boot sind es nicht einmal 30 Minuten nach Manaus. Doch mit dem Beginn der Pandemie durften sie nicht mehr dorthin. Ein harter Schlag für die Gemeinde. „Diejenigen, die festangestellt waren, wurde alle entlassen. Jetzt versuchen wir, Arbeit zu finden, aber es klappt nicht.“
„Die Regierung will nichts weiter als unser Land ausbeuten“
Für die Indigenen am Rio Negro war Corona in mehrerer Hinsicht eine Katastrophe. Neben der Pandemie macht den Indigenen auch die Bolsonaro-Regierung zu schaffen. Der Rechtsradikale polterte bereits im Wahlkampf, „keinen Zentimeter mehr“ als indigene Territorien ausweisen zu lassen. Regelmäßig beschimpft er Umweltschützer*innen. Er vergleicht Indigene mit „Zootieren“ und leugnet den Klimawandel. Auch Marcivana Rodrigues beobachtet die Bolsonaro-Regierung mit Sorge. „Keine Regierung hat sich jemals um unsere Rechte gekümmert. Aber mit Bolsonaro gab es große Rückschritte“, betont die Aktivistin der Indigenen-Organisation Copime. Zusammen mit der mächtigen Agrarlobby hat die Regierung wortwörtlich die Axt angelegt. Wenn es nach Bolsonaro ginge, würden durch den ganzen Regenwald Bagger rollen. Derzeit diskutiert der Oberste Gerichtshof die sogenannte Stichtagsregelung. Sollte diese durchgehen, droht vielen indigenen Gemeinden die Auslöschung. „Diese Regierung und fast alle Regierungen denken nur daran, die Region auszubeuten. Sie wollen zerstören, was wir, die indigenen Völker, in mehr als 500 Jahren aufrechterhalten haben“, empört sich Marcivana Rodrigues.
Einen Audiobeitrag zur indigenen Selbstorganisierung findet ihr hier.
Indigene Selbstversorgung und anhaltende Bedrohung von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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