Gesetzesentwurf bedroht die Rechte indigener Völker

(São Paulo, 21. Juni 2021, Brasil de Fato/servindi).- Der Schutz der indigenen Gebiete ist ein durch die Verfassung garantiertes Recht: Laut Artikel 231 sind „die traditionell von den indigenen Völkern genutzten Ländereien dazu bestimmt, in deren dauerhaften Besitz zu verbleiben. Böden, Flüsse und Seen sind der ausschließlichen Nutzung durch die indigenen Völker vorbehalten.“ Der kürzlich vorgestellte Gesetzesentwurf PL 490/2007 sieht  vor, die Verfassungsbestimmung aufzuweichen und die Öffnung von indigenem Land für den illegalen Bergbau voranzutreiben. Eine zunehmende Zerstörung des brasilianischen Amazonasgebiets wäre die Folge. Auch für die indigene Bevölkerung hätte die Ratifizierung des Gesetzes verheerende Konsequenzen.

Ende Juni reisten indigene Führungspersönlichkeiten aus dem Bundesstaat Roraima in die Hauptstadt Brasilia, um gegen den Angriff auf die Lebensgrundlage der indigenen Völker zu protestieren. Im Rahmen einer Pressekonferenz betonte Joenia Wapichana, Bundesabgeordnete und Koordinatorin des Frente Parlamentario Indígena, das exklusive Anrecht der indigenen Völker auf ihr Land sei durch die Verfassung garantiert und könne nicht durch individuelle Interessen verändert werden. „Der Gesetzentwurf würde die Demarkation der indigenen Territorien erheblich beeinflussen“, warnte Wapichana. Es gehe darum, Scheinlösungen für offene Konflikte wie die Bedrohung der indigenen Bevölkerung in Raposa Serra do Sol zu bieten, außerdem sehe der Entwurf den 5. Oktober 1988 als Stichtag für die Demarkation indigener Gebiete vor. Der Streit um die Forderung, nur solche Gebiete als indigene Territorien anzuerkennen, die bei der Verkündigung der chilenischen Verfassung am 5.10.88 bereits von Indigenen bewohnt wurden („Marco Temporal“), beschäftigt das Bundesverfassungsgericht bereits seit Jahren. „Die Stichtagsregelung, die dem Bundesverfassungsgericht zur Diskussion vorliegt, ist in dem Gesetzesentwurf explizit enthalten. Schon allein deshalb müssen wir seine Verabschiedung unbedingt verhindern“, so die Abgeordnete.

Warum gerade jetzt?

„Warum jetzt, und warum die Eile? Und wer trägt einen Nutzen davon, wenn die indigenen Völker ihrer Rechte beraubt werden, und das in Zeiten der Pandemie?“fragt Joenia Wapichana. „Die indigenen Völker offensichtlich nicht. Was wir brauchen, sind andere Sachen: zum Beispiel Sicherheit und dass wir unsere Situation selbst kontrollieren können. Dass die Demarkation der indigenen Territorien endlich zum Abschluss kommt, und dass wir es schaffen, die Minenarbeiter, Holzfäller und andere Eindringlinge, die permanent indigenes Land angreifen, aus unseren Gebieten rauszuhalten“.

„Wir sind hier, weil wir keine andere Möglichkeit haben.“

Etwa 450 indigene Vertreter*innen von 25 Völkern aus allen Regionen des Landes kamen in Brasilia zusammen, um zu erfahren, wie es mit ihren in den letzten Jahren mühsam erkämpften Rechten weitergehen soll. Die Bewegung „Levante pela Terra“ – „Steh auf für dein Land“ hat sich nun zusammengefunden, um Widerstand zu leisten. Jeden Tag finden Demonstrationen statt, die gegen die Indigenen-feindliche Politik des Kongresses protestieren und den Völkermord an den Ureinwohner*innen anprangern. Auch Kretã Kaingang, Koordinator der Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens (APIB), warnt vor den Gefahren, die der Gesetzesentwurf birgt. „Das geplante Gesetz legitimiert die Regierung, sich Gebiete anzueignen, die seit Jahrzehnten offiziell im Besitz der indigenen Völker sind. Räuberische Unternehmungen wie der illegale Bergbau sollen uneingeschränkten Zugang zu indigenem Land bekommen. Die Demarkationspolitik mit ihrer exakten Begrenzung der indigenen Territorien lag unter der Regierung Bolsonaro sowieso schon brach. Mit diesem Gesetz jedoch würde dieser Ansatz völlig lahmgelegt. […] Wir hatten angekündigt, dass wir lebend wiederkehren oder unser Leben geben werden für unser Volk. Dieser Tag ist nun gekommen! Wir sind hier, weil wir keine Wahl mehr haben“.

„Der Entwurf verstößt gegen 15 Gesetze“

Die indigenen Vertreter*innen demonstrierten friedlich vor dem brasilianischen Justizministerium. Bei einer Anhörung mit einigen Ministern forderte eine Delegation die verbindliche Demarkation der Territorien und den Rückzug aller illegal tätigen Eindringlinge sowie den Rücktritt des Präsidenten der Nationalen Indigenen Stiftung (Funai), Marcelo Xavier. „Der Gesetzentwurf verstößt gegen 15 Gesetze. Hier wird versucht, das Thema Demarkation indigener Territorien vom Tisch zu bekommen, indem die Abgeordnetenkammer über etwas entscheiden soll, das in den Zuständigkeitsbereich des Bundesverfassungsgerichts fällt. Seit Jahren arbeitet die völkermordende Regierung Bolsonaro daran, die illegalen Bergbaugeschäfte auf indigenem Land zu legalen wirtschaftlichen Unternehmungen umzumodeln. Faktisch ist der Gesetzesentwurf ein Versuch, dieses Thema ein für allemal abzuschließen“, erklärte die Bundestagsabgeordnete Fernanda Melchionna (PSOL).

Klare Mehrheit unterstützt das „Völkermord-Gesetz“

Dennoch wurde der Entwurf für das „Völkermord-Gesetz“ am 23. Juni von der Verfassungs- und Justizkommission der brasilianischen Abgeordnetenkammer mit 40 zu 21 Stimmen angenommen. Neben umfangreichen wirtschaftlichen Aktivitäten, Holzschlag und Bergbau sollen die indigenen Territorien nun auch für die Einrichtung von „Militärbasen, die Erweiterung des Straßennetzes und die Erforschung strategischer Energiealternativen“ in Betracht gezogen werden. Bereits demarkierte Gebiete, die die festgelegten Vorgaben der Gesetzesvorlage nicht erfüllen, sollen ihren Status verlieren; die Ausweitung der bereits demarkierten Gebiete hingegen künftig nicht mehr möglich sein.

Abgeordnetenkammer entscheidet über Ratifizierung

Brasiliens indigene Völker haben ihren entschiedenen Widerstand gegen das Gesetz mit Demonstrationen zum Ausdruck gebracht. Bei den Protestdemonstrationen wurden Teilnehmende durch Gummigeschosse und Tränengasbomben verletzt. Nachdem der Gesetzesentwurf nun die erste Hürde passiert hat, haben Indigenenverbände angekündigt, weiterhin für die Verteidigung ihrer hart erkämpften Rechte zu mobilisieren: Man werde nicht zulassen, dass die Stimmen der indigenen Bevölkerung widerstandslos zum Schweigen gebracht würden. Der genehmigte Gesetzentwurf wird nun der Abgeordnetenkammer zur Abstimmung vorgelegt, wo nach Aussage von Nacho Lemus, TelesurTV-Korrespondent in Brasilien, die Lobbyisten der Agrarindustrie das Feld dominieren.

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