(La Paz, 09. August 2020, Red Eco Alternativo).- „Ich möchte euch gern diese eine Frage stellen: Wer ist unser größter Feind? Die Bourgeoisie, die Oligarchie, das Militär, das Technokratentum? Nein, Kameraden, unser größter Feind ist die Angst, die wir in uns tragen.“ Eduardo Galeano zeigte sich tief beeindruckt von seiner Begegnung mit Domitla Barrios de Chungara, die als einzige Frau an einer Versammlung von Bergarbeitern teilnahm und die Genossen auf das tiefsitzende Problem der Bewegung aufmerksam machte. Die bolivianische Bevölkerung scheint ihre Angst überwunden zu haben. Über 120 Blockaden wurden bereits errichtet, um gegen die Entscheidung des Obersten Wahlgerichts TSE zu protestieren. Dieses hatte Ende Juli eine erneute Verschiebung der Präsidentschaftswahlen angekündigt. Nach und nach wird auch Unzufriedenheit über die durch Korruption und Misswirtschaft ausgelöste Wirtschaftskrise laut. Trotz zahlreicher Bedrohungen, Angriffen und falscher Anschuldigungen in den Medien setzen die Menschen ihren Protest fort.
Die Bewegung wächst
Verschiedene Organisationen, angeführt von den Gewerkschaftsverbänden COB (Central Obrera Boliviana) und CSUTCB (Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia), hatten zu den Blockaden aufgerufen. Nach fünf Tagen, am 8. August, erklärte Jeanine Añez Dialogbereitschaft, kurze Zeit später jedoch wurden die Blockaden angegriffen. In Samaipata im Departamento Santa Cruz de la Sierra ist die Rede von körperlichen Übergriffen und Verletzten. Trotzdem schlossen sich weitere Organisationen, darunter der Lobbyverband FEDECOR, der bereits im Wasserkrieg von Cochabamba aktiv gewesen war, sowie Verbände aus Tarijeño Ayopaya, die Roten Ponchos aus Achacachi, der Nachbarschaftsverband Fejuve El Alto und Verbände aus der Bergbauregion den Protesten und der Forderung nach dem Rücktritt von Jeanine Añez an und setzen den friedlichen Protest fort. Diese werden seitens der Regierung mit permanenten Drohungen quittiert. Innenminister Arturo Murillo, der kürzlich erklärte: „Waffen faszinieren mich einfach“, machte deutlich: „Unser Tränengasvorrat reicht für sechs Monate, da können sie sich auf was gefasst machen“. Verteidigungsminister Fernando López legte nach: „Unsere Geduld ist am Ende. Wir weden nun entsprechend durchgreifen. Nun ist Schluss mit diesen Gewaltakten”.
Erst Januar, dann Mai, dann September und nun Oktober
Mit dem Beschluss des Obersten Wahlgerichts TSE, die Wahlen vom 6. September auf den 18. Oktober zu verlegen, wird das Datum für die Präsidentschaftswahl nun zum dritten Mal verschoben. Ursprünglich hätte die Übergangsregierung nur 120 Tage im Amt sein dürfen, statt im Januar sollten die Wahlen jedoch im Juni stattfinden. Als sich im März die Corona-Pandemie in Bolivien ausbreitete, wurde der September-Termin für die Wahlen festgelegt. Ende Juli wurde er erneut verschoben mit dem Argument, der Höhepunkt der COVID-19-Krise sei im September zu erwarten.
Eine der Hauptforderungen: Wiederherstellung der Demokratie
In Whatsapp-Gruppen und sozialen Netzwerken werden seit Tagen Berichte aus den ländlichen Ortschaften und Indígena-Gemeinden der neun Departements gepostet. Zunächst wurden unter dem Hashtag #EleccionesYa sofortige Präsidentschaftswahlen gefordert, doch in den letzten Tagen ist nun auch #FueraAñez. („Añez muss weg“) hinzugekommen: Die Entscheidung der Präsidentin, ausgerechnet Branko Marinkovic Jovićevic zum Planungsminister zu ernennen, wurde insbesondere von der Landbevölkerung und den indigenen Bolivianer*innen als Kränkung aufgefasst. Als Präsident des Comité Cívico Pro Santa Cruz hatte sich Marinkovic zwischen 2007 und 2009 explizit für eine rassistisch motivierte Segregationspolitik und territoriale Abgrenzung der weißen Oberschicht von der indigenen Bevölkerung eingesetzt. Die Regierung Morales hatte den Unternehmer beschuldigt, wesentlich an der versuchten Abspaltung der Region „Media Luna“ beteiligt gewesen zu sein. Im Jahr 2008 war es deshalb zu rassistischen und gewalttätigen Eskalationen gekommen.
Die Bewegung eint das Misstrauen gegenüber der De-facto-Regierung
Den Forderungen der Protestierenden haben sich auch erklärte MAS-Kritiker angeschlossen, darunter der führende Aymara-Aktivist Felipe Quispe Huanca: „Diese Regierung will uns unserer Ressourcen berauben. Das sind doch alles keine Bolivianer*innen, sollen sie doch nach Europa gehen”, schimpfte Quispe einige Tage nach Beginn der Blockaden.
Aus der Stadt Parotani berichtete ein Aktivist in der Radiosendung Fe de Radio: „Es kommen täglich neue Leute dazu, die Bolivien gegen die Diktatur verteidigen wollen. Die De-facto-Regierung will uns mundtot machen und unseren Widerstand unterdrücken. Aber wir stehen zusammen. Es sind schon über 100 Straßen blockiert. So leicht lassen wir uns nicht zurückdrängen. Jetzt wollen sie angeblich verhandeln, aber wir wissen genau, dass die bolivianische Rechte und diese Clowns aus USA, die unser Land regieren, immer nur versuchen, uns auszutricksen, daher überlegen wir jetzt, was zu tun ist. Diese Minister*innen können auf alle Fälle schonmal ihre Koffer packen und sich darauf vorbereiten, das Land zu verlassen.“
Proteste werden als Menschenrechtsverletzungen diskreditiert
Währenddessen äußerte sich die De-facto-Kanzlerin Karen Longaric über die Plattform der Organisation Amerikanischer Staaten OAS mit schweren Anschuldigungen gegen die Protestierenden: „Die Blockaden behindern die Sauerstoffversorgung der Gesundheitszentren. Bereits 31 Tote gehen auf das Konto dieser Menschenrechtsverletzungen“, erklärte sie via Facebook. Anschließend erschien der als „Linkenfresser“ bekannte OAS-Generalsekretär Luis Almagro und ergänzte: „Die neue Wahlbehörde hat sich redlich darum bemüht, dass die nächsten Wahlen frei und gerecht vonstattengehen. Das Generalsekretariat der OAS kann das bestätigen. Druck ist kein probates Mittel in einer Demokratie oder in einem Rechtsstaat.“ Die Proteste der Bevölkerung weiter delegitimierend, fügte er an: „Aus dem Leiden der Menschen Kapital schlagen zu wollen im Sinne der eigenen politischen Ziele ist eine Gemeinheit. Ich wiederhole: Wir betrachten es als unwürdig und unmoralisch, für politische Machenschaften Menschenleben aufs Spiel zu setzen.“
Die im Netz kursierenden Anschuldigungen, dass Sauerstofflieferungen an den Blockaden aufgehalten und Tonnenweise Hühner von den LKWs gestohlen wurden, konnten durch unzählige Videos widerlegt werden, die deutlich zeigen, wie die Sauerstofflieferungen durchgelassen werden, andere Videos zeigen, wie die angeblich gestohlenen Hühner an die Menschen verkauft werden. Die Firma Praxair erklärte ebenfalls, dass die LKWs mit Sauerstoff problemlos durchgelassen und Lieferungen an die vorgesehenen Adressen zugestellt werden könnten. Offensichtlich geht es den regierungstreuen Medien um die gezielte Verbreitung von Fake News. Da ihre Argumente erfolgreich widerlegt werden konnten und immer mehr Menschen sich der Rücktrittsforderung anschließen, bleibt zu hoffen, dass Bolivien sich bald wieder auf einem guten Weg zu einem friedlichen Zusammenleben, dem Sumaq Kawsay, befindet.
Übersetzung: Lui Lüdicke
Wenn die Angst erst überwunden ist: Bereits über 120 Straßenblockaden von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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