(Managua, 28 April 2018, desinformémonos/el salto).- Niemand hat es vorhergesehen. Es ist in diesen neun Tagen viel zu viel passiert, und doch genug um zu wissen, dass in Nicaragua nichts mehr so sein wird wie vorher. Das Land trauert um die 39 bestätigten Todesopfer (von 28 weiteren gibt es noch keine Bestätigung) – vor allem junge Leute, die in den ersten vier Tagen einer Protestwelle gestorben sind, die die ganze Gesellschaft aufgeweckt hat. 500 junge Leute haben sich in einem Universitätsgebäude verschanzt und damit dem Regime des Präsidentenpaares Daniel Ortega und Rosario Murillo die Stirn geboten; sie haben enorm viel Unterstützung mobilisiert und einen nationalen Dialog mit verschiedenen Akteur*innen erzwungen.
Der Frente Sandinista, der einst die Hoffnung der Linken weltweit war, wird nun mit der Diktatur verglichen, die er einst gestürzt hatte, weil er die Armee gegen eine Jugend einsetzt, die nur mit Steinen und Wut bewaffnet ist.
Ruf nach Veränderung
Was am 18. April als friedlicher Protest gegen die Reform der Sozialversicherung begann, ist zu einem allgemeinen Ruf nach Veränderung geworden. Inzwischen wird gefordert, dass die „Ortega-Murillo-Diktatur“ von der Macht abtritt, dass die Repression aufhört und dass die Verantwortlichen für die Repression zur Rechenschaft gezogen werden. Die Leute wollen einen wirklichen Wechsel: von den Studierenden und den Bevölkerungsschichten, die sich mit Unterstützung der katholischen Kirche aufgelehnt haben, sozialen Organisationen bis hin zur Privatwirtschaft, die bis vor Kurzem noch mit der Regierung verbündet war.
Die vorangegangenen Wochen waren ein Vorgeschmack zu dem, was heute als „Bewegung der Studierenden des 19. April“ (Movimiento Nacional de Jóvenes Universitarios 19 de Abril) bekannt ist, ein Forum, das von jungen Frauen und Männern einberufen worden ist, die unter 30 Jahre alt sind und aus verschiedenen Regionen und gesellschaftlichen Schichten kommen.
Nicaragua ist wieder zu einem sozialen Experimentierfeld geworden, mit einer Jugend, die mit dem vorherigen Organisationsmodell gebrochen hat: Weder mit politischen Parteien noch mit einer zentralen Steuerung, die den Kampf anführt. Mit ihren Aktionen haben sie es geschafft, breite Teile der Gesellschaft unter der blau-weißen Flagge Nicaraguas zu vereinen. Für die Älteren ist das schwer zu verstehen. „Wir sind weder rechts noch links, wir sind das wütende Nicaragua“ hört man im ganzen Land.
Eine neue Generation
Es sind verschiedene Bewegungen und doch sind sie eins. Sie sind binnen Stunden entstanden. Keine Umfrage und kein Analytiker haben diese Überraschung vorhergesehen; sie hat eine Gesellschaft verblüfft, die sie zuvor als Millennials abgewertet hatte. Es gibt neue Gesichter, und die jungen Frauen sind genauso Protagonistinnen des Protests wie die jungen Männer.
Der Vorgeschmack war ein Feuer im Naturschutzgebiet Indio Maiz, einem UNESCO-Biosphärenreservat an der südöstlichen Grenze zu Costa Rica. Das Feuer wütete zehn Tage lang. Angesichts der Nichtbeachtung des Brandes seitens der Regierung protestierten junge Menschen und bekamen Repression zu spüren. Ihre Generation ist mit dieser Regierung aufgewachsen und hat ein größeres Umweltbewusstsein.
Sie kennen die jüngere Geschichte durch ihre Großeltern oder Eltern, so wie Paula, ein junges Ex-Mitglied der Sandinistischen Jugend. Für sie liegt es nahe, die aktuelle Situation mit den Gründen für den Kampf gegen Somoza zu vergleichen: „Ich habe sie (die Partei) verlassen, weil ich Korruption und Manipulation erlebt habe; das hat mir nicht gepasst. Sie benutzen die Jugend nur. Die Mächtigen sind sich ihrer Sache nicht mehr sicher und deshalb haben sich viele Sandinist*innen abgewendet“, findet sie.
Die am 16. April angekündigten Reformen beinhalteten einen Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge sowohl für die Unternehmer*innen als auch für die Arbeitnehmer*innen, sowie eine Senkung der Renten um fünf Prozent, um die Medikamente zu finanzieren. Das war der Knackpunkt. Damit sollte das Nicaraguanische Institut für Sozialversicherungen INSS (Instituto Nicaragüense de Seguridad Social) finanziert werden, da dessen Rücklagen zum Teil von der Regierung und für gescheiterte Investitionen zweckentfremdet wurden, ohne dass dafür Rechenschaft abgelegt wurde.
Die Repression
Die gesellschaftliche Aufschrei begann, als Aktivist*innen der Sandinistischen Jugend auf protestierende Rentner*innen einschlugen. Damit wiederholten sie dieselbe Form der Misshandlung wie schon 2013, als Rentner*innen geringere Ausgaben forderten (der Protest wurde als #OcupaINSS bekannt). Diese neuerlichen Schläge und die Missachtung des Rechts auf Protest haben Abscheu und Wut ausgelöst und wurde noch schlimmer, als junge Männer und Frauen, vor allem Studierende, zur Unterstützung der Rentner*innen in verschiedenen Städten des Landes auf die Straße gingen und brutal unterdrückt wurden.
Die Straßenschlachten begannen in den Straßen rund um die Universitäten der Hauptstadt Managua und an anderen öffentlichen Plätzen, als Mitglieder der Sandinistischen Jugend und von der Regierung finanzierte paramilitärische Gruppen über die Protestierenden herfielen und auf sie einschlugen. Dabei wurden sie von Polizeieinheiten unterstützt, die praktisch als Bodyguards dieser „Ortega-Mobs“ agierten. Sogar die Armee wurde eingesetzt. Protestierende und Journalist*innen wurden geschlagen und beraubt. Vier unabhängige Medien wurden abgeschaltet um zu verhindern, dass sie über die Repression berichten.
Die Repression begann mit Tränengas, Gummigeschossen und Prügel. Es gab illegale Festnahmen, die von Gewaltexzessen und Folter begleitet wurden; schließlich wurde scharf geschossen. Die vielen Überschneidungen mit dem Vorgehen der Nationalgarde unter Somoza haben zu noch mehr Empörung bei den Menschen geführt, die nicht damit gerechnet hatten, noch einmal solche Szenen zu erleben. Deshalb bekamen die Protestierenden überall im Land Zulauf.
Aus Tränen wurde Wut
Am 19. April wurden die ersten Studenten und ein Polizist getötet; deshalb hat die Bewegung ihren Kampf nach diesem Datum benannt. Aus den Tränen wurde Wut: Noch in derselben Nacht gingen Menschen auf die Straße und die Proteste verbreiteten sich auf mehrere Provinzen, was wiederum zu mehr Toten, Verletzten, Verhafteten und Verschwundenen führte. Monimbó, das indigene Viertel von Masaya, León und Estelí, legendäre Orte des sandinistischen Aufstands, waren Zentren der Proteste.
Währenddessen hat Rosario Murillo, Vizepräsidentin und Ehefrau Ortegas, die Protestierenden als „winzige rechte Gruppen“ diskreditiert (später behauptete sie, die Protestierenden seien von der CIA oder vom Movimiento Renovador Sandinista gesteuert). Im Kontrast zu ihrem sonst üblichen abgedroschenen Diskurs von Liebe und Frieden beleidigte sie die Demonstrant*innen als „kleine Lichter“, „giftig“, „Vampire“, „blutrünstig“ und „kriminelle Vandalen“. Die Angriffe ihrer Getreuen hingegen rechtfertigte sie als „Selbstverteidigung“.
Ihre Aussagen wurden von zu vielen Zeug*innen widerlegt: Die sozialen Netzwerke waren voll von krassen Szenen der Mobs und der Polizei die zeigen, wie sie Menschen verprügeln und berauben, ganz gleich, ob es alte oder junge Menschen waren, Kinder, Journalist*innen oder einfach nur Passant*innen. Ángel Gahona, ein Journalist von der südlichen Karibikküste, der live berichtete, wurde am 22. April getötet.
Die Menschen haben ihre Angst verloren
In Managua gab es eine sechs Kilometer lange Demonstration, die Bedeutendste der vergangenen Jahrzehnte, die am symbolischen Zufluchtsort der Revolte geendet hat: der Upoli, der Technischen Universität Nicaraguas. Man merkt, dass die Menschen die Angst verloren haben.
Die Szenen sind bereits im kollektiven Gedächtnis und werden nicht vergessen: junge Männer, die ein Auge verloren haben oder brutal verprügelt werden; Tote in einer Blutlache; Krankenhäuser, die die Verletzten nicht behandeln, weil die Regierung das so angeordnet hat; Mütter und Väter, die nach ihren Kindern suchen; Leute die plündern, während andere ihre Supermärkte und Geschäfte verteidigen; Polizeikräfte, die die Plünderungen unterstützen; Jugendliche, die berichten, wie sie von Wachleuten im Gefängnis ohne Wasser und Essen misshandelt wurden und schließlich beklaut, ohne Kleidung und Schuhe, auf den umliegenden Straßen der Hochsicherheitsgefängnisse ausgesetzt wurden…
El pueblo unido jamás será vencido
Als Hintergrundkulisse sind revolutionäre Slogans wieder aufgetaucht wie: „Das geeinte Volk wird niemals besiegt“, „freies Vaterland oder Tod“ und „soll sich doch deine Mutter ergeben“ (berühmter Ausspruch des Dichters Leonel Rugama, bevor er von der Nationalgarde erschossen wurde). Oder neuere Parolen wie „Ortega und Somoza sind genau dasselbe“, „ja zur Demokratie, nein zur Diktatur“ und „wir haben keine Angst“, um nur einige zu nennen. Auf den Demos und Versammlungen waren auch wieder berühmte Lieder zu hören wie „Que vivan los estudiantes“ von Los Guaraguao, Lieder der Brüder Mejía Godoy und sogar die Nationalhymne, die schon fast nicht mehr benutzt wurde.
Es war beeindruckend, wie sich Netzwerke bildeten, um die Helfer*innen der Proteste zu unterstützen. Medizinstudent*innen haben improvisierte Krankenstationen in der Politechnischen Universität und an anderen Brennpunkten der Proteste überall im Land aufgebaut und das Personal vieler Krankenhäuser hat sich der Anweisung verweigert, keine Krankenwägen rauszuschicken oder Verletzte aufzunehmen. Die Kirchen haben ihre Tore geöffnet. Die Leute haben Wasser, Essen, Medikamente, Kleidung, Geld und alles was sie gerade hatten geteilt, um zu helfen, und sogar die Gefängnisinsassen haben die Misshandlungen der verhafteten Protestler*innen dokumentiert. Die Solidarität bleibt ein Wert dieses Volkes.
Der Ton hat sich verändert
Nach dieser sozialen Mobilisierung hat die Regierung eine Rolle rückwärts gemacht: Sie hat zu einem Dialog mit dem Unternehmerverband Cosep aufgerufen; und als dieser sich geweigert hat, solange nicht andere Gruppen teilnehmen, hat die Regierung auch die Studierenden eingeladen. Einen Tag danach hat Präsident Ortega das Gesetz widerrufen.
Inzwischen geht es bei diesem Kampf nicht mehr nur um die Sozialversicherung; es geht auch um Gerechtigkeit angesichts der Getöteten und der Repression; die Kriminalisierung der sozialen Bewegungen, die gegen den Interozeanischen Kanal kämpfen, der durch das Gebiet von Indigenen und Landwirt*innen führen soll; die Bergbaukonzessionen; die Femizide und andere Formen von Gewalt gegen Frauen; die Morde an Zivilpersonen; die staatliche Korruption; der politische Klientelismus; die betrügerischen Wahlen und vieles mehr. Ein nationaler Dialog mit der Kirche als Vermittlerin und Zeugin reicht nicht aus, wenn nicht zuerst die Verantwortlichen für die vielen Toten vor Gericht gebracht werden.
Auch wenn die Scharfschützen inzwischen von den Straßen verschwunden sind, so manipuliert die Regierung doch weiterhin die Medien, um den Kampf zu kriminalisieren und in Verruf zu bringen und die entstehende Bewegung zu spalten. Es ist viel passiert und die Zukunft ist unklar. Nicaragua will einen Schritt weiter gehen, damit sich die Vergangenheit nicht wiederholt – so wie in diesen Tagen, in denen sich das Land wieder polarisiert hat und sich viele Familien zerstritten haben.
Die Jugend ist eine große Hoffnung, auch wenn sie sich dem Druck von Provokateuren ausgesetzt sieht, die die Bewegung spalten wollen. Und ja, es gibt etwas, in dem sich viele Menschen einig sind – so wie es die Feministinnen in Matagalpa gerufen haben: „Wir wollen in einem freien Land leben!“ Der Ausbruch geht weiter.
Tania Montenegro ist unabhängige nicaraguanische Journalistin
Nicaragua: Der unerwartete Ausbruch von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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