Die Demontage des plurinationalen Staats

Die De-facto-Regierung in Bolivien ist mit dem Vorsatz aufgetreten, Neuwahlen auf nationaler Ebene einzuläuten und das Land zu befrieden. Derzeit unternimmt sie jedoch eine Reihe von Maßnahmen, die die Demontage des plurinationalen Staats zum Ziel haben.
(ANRed, 01. Dezember 2019).- Zusammen mit der Bibel seien auch Faschismus und Tod in den Regierungspalast eigenzogen, denn das Kreuz sei das Symbol des Todes, mahnt der argentinische Theologe und Historiker Enrique Dussel. Seine treffende Formulierung erinnert an die Worte des Zimmermanns aus Nazareth: „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten Gräber! Von außen glänzt ihr schön, aber nach innen seid ihr voller toter Knochen und voller Fäulnis. So seid auch ihr, nach außen gebt ihr euch als die Frommen, aber nach innen seid ihr voller Heuchelei und Bosheit.“ (Matth. 23, Vers 27,28)
Heuchelei und Bosheit manifestieren sich in allen Erklärungen der Minister*innen, ja selbst schon in ihrem Gebrauch des Begriffs „Aufstand“, bei ihnen ein Synonym für die ‚Masistas‘ (Anhänger*innen der Partei der vorherigen Regierung MAS), die als Teufel bzw. als das Böse schlechthin gelten. Der religiöse Anstrich kann die perverse faschistische Sprechweise nicht verbergen. Sie zeigt sich in all ihrer Schärfe, wenn zum Beispiel Listen der „Schuldigen“ aufgestellt oder Personen entgegen der Rechtslage festgenommen werden und die Unschuldsvermutung ignoriert wird.

„Die Indios können nicht regieren“
Eine weitere Heuchelei ist die tägliche Behauptung der De-facto-Regierung, ihre einzige Mission sei die Ausrichtung von Neuwahlen, während sie die Demontage des ökonomischen Modells vorantreiben. Sie nutzen sprachliche Tricks, um darzustellen, dass die Wirtschaft „über 13 Jahre“ einem desaströsen Management unterlegen habe, obwohl alle internationalen Institutionen, einschließlich der Weltbank, der Regierung Evo Morales eine sehr gute Bilanz und Wirtschaftswachstum bescheinigen. Nun versuchen sie zu „beweisen“, was sie bereits vor 13 Jahren gepredigt hatten: „Die Indios können nicht regieren.“
Nur wenige Tage nach der unrechtmäßigen Übernahme der Regierungsgeschäfte wurden bereits wieder Beziehungen mit den ‚Herren‘ im Norden aufgenommen. So präsentiert sich die De-facto-Präsidentin stolz neben dem frisch nominierten diplomatischen Vertreter Boliviens in den USA und bricht gleichzeitig die Beziehungen zu Kuba, Nicaragua und Venezuela ab. Dahinter steht ganz klar die Botschaft, dass demokratische Beziehungen auf internationaler Ebene ohne Schulterschluss mit den USA nicht denkbar seien.

Jagd auf MAS-Anhänger*innen
Die Demontage des ökonomischen Modells begann mit dem Einfrieren der zur langfristigen Absicherung sozialpolitischer Maßnahmen bestimmten Projekte. Stufe zwei wird wie in Argentinien der Diskurs der Ressourcenverknappung sein, die keine Bereitstellung von Mitteln für die Sozialpolitik, Kernelement sozialer Gerechtigkeit, zulässt.
Die De-Facto-Regierung hält keine Details zurück. So spricht der Regierungsminister offen davon, dass er MAS-Anhänger*innen „jagen“ werde. Niemanden verwundert diese Erklärung, die Presse, die die Strategie des Putsches befürwortet, schweigt dazu. Der Jagd auf die MAS-Anhänger*innen sind weder zeitliche noch räumliche Beschränkungen auferlegt; viele lokale Amtsinhaber*innen wurden bereits zum Rücktritt gezwungen. Wie in den früheren Zeiten der Militärputsche in Lateinamerika wird auch heute mit faschistischem Terror gearbeitet.
Demokratisch und mit hoher Stimmenmehrheit gewählt Gouverneure und Bürgermeister*innen werden „präventiv“ festgenommen, während man auf spitzfindige Weise Anklagen zu konstruieren versucht, um sie zu verurteilen.
Die Angst hat sich des Bewusstseins der Menschen ermächtigt; selbst Parlamentarier*innen, die man für Revolutionär*innen gehalten hätte, helfen dabei, dass der Putsch sich konsolidieren kann. Die Würde der Revolution kapituliert angesichts der fehlenden ideologischen Geschlossenheit.

Heuchlerischer Diskurs
Wie schon 1492 bedroht das Kreuz als Synonym für den Tod alle indigenen Völker und alle freidenkenden und demokratischen Kräfte, die einen anderen Staat aufbauen wollten, einen wirklichen Staat und nicht einen Schein-Staat, wie er gerade hochgezogen wird. Die Putschisten kommen nicht um der Demokratie und auch nicht um des Friedens willen wie die Urchristen. Sie kommen mit einem heuchlerischen Diskurs wie die Pharisäer, um einen laizistischen Staat zu beenden, der sich gerade auf dem Weg befand, ein plurinationaler Staat zu werden.
Wie in jedem faschistischen Projekt gibt es offensichtliche Anzeichen: Sie scharen Indigene um sich und behaupten,  sie respektieren die Wiphala (Fahne der Völker der Anden), nachdem sie wenige Stunden vorher angeordnet hatten, diese öffentlich zu verbrennen, um eine Lektion zu erteilen. Die Geister des verwüsteten Palasts wurden entfesselt, um Terror in die Häuser all jener Bolivianerinnen und Bolivianer zu tragen, die von einem gerechten, interkulturellen und revolutionären Land träumten.

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