(Bogotá, 4. Juli 2021, lanzas y letras/poonal).- Umweltschützerin und Menschenrechtlerin Francia Márquez ist zum Symbol eines Volks geworden, das um seine Befreiung kämpft. Die Afrokolumbianerin, der 2018 der renommierte Goldman-Umweltpreis verliehen wurde, stammt aus der Region Cauca, die durch immer neue Wellen der Vertreibung und Gewalt gegen die Bewohner*innen von sich reden macht. Auch Márquez selbst ist von Vertreibung betroffen: 2014 sah sich die Aktivistin gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Vor etwa einem Jahr kündigte Márquez an, bei den Präsidentschaftswahlen 2022 anzutreten. Ihre politischen Forderungen betreffen Umweltthemen, Frieden und die Rechte von Schwarzen und von Frauen. Wie verbinden sich diese Kämpfe in der kolumbianischen Realität? Und welche Rolle spielt der Fußball? Ein Interview mit einer der eindringlichsten Stimmen der aktuellen Mobilisierungsprozesse.
Wie nehmen Sie die besondere Situation wahr, in der sich Kolumbien seit zwei Monaten befindet? Was können Sie uns über die soziale Bewegung erzählen, und wie empfinden Sie die Gesellschaft allgemein?
Wir befinden uns in einer echten Umbruchsituation. In einem Moment, wo viele Menschen schon fast zu müde geworden sind, um an Veränderung zu glauben, beispielsweise die Menschen, die in der Peripherie leben, die verarmt sind, Menschen, die schon immer von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden – in einem solchen Moment passiert endlich was. Wie der gesellschaftliche Aufbruch zeigt, gibt es immer noch Menschen, die nicht mehr bereit sind, die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Sie wollen versuchen, für dieses Land eine Veränderung herbeizuführen. Was jetzt passiert, ist die Antwort auf ein Übermaß an systematischer und struktureller Gewalt. Gewalt, die permanent ausgeübt wird und die historisch ausgeübt wurde. Die Mehrheit der Kolumbianer*innen lebt quasi in einem Zustand der Rechtlosigkeit. Für uns gab und gibt es kein Wohlergehen, keinen Wohlstand, keine Würde, dafür gehören Tragödien und Leid zu unserem Alltag. Wir haben einfach genug davon, und viele ziehen aus der Frustration die Kraft für diesen Aufruhr. Menschen, denen der Krieg zugesetzt hat, sagen Ja zum Frieden, auch wenn wir dazu gezwungen wurden, weiter Krieg zu führen. Dass die Waffen nun schweigen, ist ein stummer verzweifelter Schrei der Mütter, die ihre Kinder verloren haben, es ist der Schrei der Völker, der Jugend, die nicht weiter als Manövriermasse in diesem Krieg benutzt werden will, der Schrei der Frauen, die nicht noch mehr Kinder mehr für den Krieg gebären wollen. Nicht nur diese Regierung, sondern auch die davor hat sich immer derselben gewalttätigen Mechanismen bedient, um das Volk zu unterjochen: Hunger, Terror, Ausgrenzung, Rassismus, Patriarchat. Die heutige Generation jüngerer Leute sagt nun: Halt, Stopp, wir ertragen das nicht mehr. Wir müssen eine Veränderung herbeiführen. Insofern ist es eine Bewegung von unten, überwiegend getragen von jungen Menschen, die sich in direkter Konfrontation befinden und schon immer befunden haben. Eine Compañera von mir hat es vor kurzem so ausgedrückt: Es sind nicht einfach die jungen Leute, die sich in der direkten Konfrontation befinden, es sind junge schwarze Leute, die da, wo sie stehen, dem Tod direkt ins Auge blicken. Das ist nicht erst jetzt seit dem Streik so, für uns als Schwarze heißt dieses Level der Konfrontation schon immer auch Konfrontation mit dem Tod.
Nach Ansicht vieler Menschen bedeutet Transformation in Kolumbien vor allem einen institutionellen Wandel. Wichtig sei, dass der Kongress sich neu zusammensetzt und neue Volksvertreter*innen einbezieht. Wie betrachten Sie diesen Ansatz auf dem Hintergrund Ihrer eigenen Präsidentschaftskandidatur? Glauben Sie, dass Veränderung vor allem eine institutionelle Angelegenheit ist, oder wo müsste diese Veränderung stattfinden?
Das Vordringen in den politischen Raum der Volksvertretung ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Umsetzung notwendiger Veränderungen. Diese muss jedoch in der Gesellschaft, in den Menschen stattfinden. Wenn wir Veränderung wollen, müssen wir an der Wurzel ansetzen, das heißt, bei den Menschen. Der Tag, an dem wir uns unserer Macht bewusst werden, die wir als Völker, als Männer, als Frauen, als Jugendliche in den Händen halten- das wird der Tag sein, an dem sich viele Dinge ändern werden. Und meiner Meinung nach sind wir gerade dabei, uns unserer Macht bewusst zu werden. Institutionen sind keine seelenlosen Gebilde. Sie werden von Menschen getragen, von ihren Visionen, Gedanken und Interessen. Natürlich müssen wir uns unseren Raum auch in den Institutionen nehmen, das gilt auch für die Institution Staat, die traditionell von Männern besetzt wurde, von weißen Männern, die das weiße Privileg verinnerlicht haben. Es ist an der Zeit, dass das Volk sich selbst rettet, und um sich zu retten, muss das Volk erkennen, was Macht bedeutet, und es muss vor allem erkennen, dass es sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. Und da kommt die Transformation der Institutionen ins Spiel. Wir müssen die Herausforderung annehmen, von unten stark sein und uns der Macht des Volkes, der Macht der Jugend bewusst werden und innerhalb des kolumbianischen Staats unseren Raum behaupten.
Bekanntermaßen war es für Frauen noch nie leicht, sich ihren Platz in der Politik zu erobern, weder in der Politik von unten noch in den Institutionen. Könnten Sie uns ein wenig über Ihre Erfahrungen erzählen?
In meinem Fall sind es nicht nur die Probleme als Frau, sondern als Repräsentantin eines historisch rassifizierten, ausgegrenzten, marginalisierten Volkes, die es schwierig machen, einen Platz in der politischen Landschaft zu behaupten. Platz innerhalb des Staats zu besetzen ist schon allein deshalb kein Kinderspiel, weil der Staat von der Elite selbst aufgebaut wurde, und wann immer wir versuchen mitzuspielen, werden die Spielregeln geändert. Wir müssen eigene Spielregeln aufstellen, um innerhalb des Staats Macht zu erlangen, darin liegt die große Herausforderung. Dass das für eine Frau wie mich nicht einfach ist, liegt an der Gewalt, die uns umgibt: physische, narrative, systematische und integrale Gewalt. Formen von Gewalt, die an die Gesellschaft weitergegeben und von der Gesellschaft reproduziert werden. Ich sage: Es ist nicht einfach, und ich meine nicht: Es ist unmöglich. Wir müssen dafür kämpfen, die Dinge zu ändern, die wir falsch finden, die wir für ungerecht halten, und ich glaube, dass wir einen anderen Platz verdient haben. Gestern sagte eine Compañera: „Uns blieb nichts anderes übrig als in diesem Land voller Ungewissheiten aufzuwachsen, in diesem Kolumbien, das seine Bevölkerung ermordet, das die Träume der Jugendlichen instrumentalisiert und die Körper von Frauen als Kriegsbeute benutzt“. Wir wuchsen auf in diesem Land, das Menschen enteignet und den Krieg dem Frieden vorzieht, denn Krieg eröffnet die Möglichkeit, Sicherheit entsprechend einer selbst geschaffenen Vision von Demokratie zu verkaufen. Alle Regierungen haben uns Sicherheit verkauft, doch diese Sicherheit ist nicht real. Mit ihrem Diskurs haben sie es geschafft, ihre Vormachtstellung zu bewahren, sich im Staat als mächtige Elite zu behaupten und sich als Mehrheit zu konstituieren, obwohl sie in Wirklichkeit eine Minderheit sind: Seit 200 Jahren gibt es diese Republik, und es waren nicht mehr als 40 Familien, die uns regiert haben. Wir wurden in diesem Land geboren, und wir haben die Verantwortung, unseren Kindern, unseren Enkeln und den nächsten Generationen einen besseren Ort zu hinterlassen.
Kommen wir zum Fußball. Wir haben vorhin über das Projekt „Wir machen das Spiel“ gesprochen, bei dem es um Frieden im Fußball geht. Wie sind Sie auf diesen Ansatz gekommen, und wie betrachten Sie die Rolle der Frauen in dieser Männerdomäne?
Ich bin in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der viele fußballerische Talente gefördert wurden. Die Geschichte meiner Familie ist eng mit der Geschichte des Fußballs verbunden. Bis auf meinen Cousin Steven Lucumi hat es zwar niemand von uns bis in die Profiliga geschafft, aber meine Brüder waren alle sehr gute Fußballspieler und meine Cousinen auch. In meiner Gemeinde wuchsen wir mit den Fußballmeisterschaften auf, die mein Onkel organisierte. Wir wurden immer Meister, sowohl im Männer- als auch im Frauenfußball. Eine Nichte von mir trainiert heute beim Erstligisten Club América de Cali, und meine Brüder hätten alle Profifußballer werden können. Weil wir aber in einer ländlichen Gegend lebten und sie nicht das Geld hatten, zum Training nach Cali zu fahren, haben sie es nie in eine professionelle Liga geschafft. Einer meiner Brüder kam immerhin bis in die C-Liga, aber dann wurde ihm der gesamte Aufwand zu viel, außerdem hatte er keine Sponsoren. Trotzdem, der Fußball war auch für uns ein Weg, uns in die Gemeinschaft einzubringen und starke Verbindungen zu schaffen. Mannschaftszugehörigkeit war bei uns nie ein Grund, sich zu zerstreiten, sondern Fußball war schon immer ein Mittel, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen, eine Verbindung zwischen jungen Menschen herzustellen und Frieden zu schaffen. Wir lieben diesen Sport, nicht wegen der Aufstiegschancen, sondern weil er uns zusammenbringt. Weil er eine Basis schafft, von der aus wir gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten und uns durchsetzen.
Die Gespräche mit meinen fußballbegeisterten Genossinnen und Genossen, und davon habe ich im Laufe der Zeit einige kennengelernt, haben mich zu einer Vision inspiriert. Ich wünsche mir, dass unsere Unterschiede eines Tages nicht mehr dazu führen, dass wir uns gegenseitig umbringen, denn Unterschiedlichkeit kann eine große Bereicherung sein, wenn wir gemeinsam etwas aufbauen. Dass jemand auf die Idee kommt, einen Menschen zu töten, weil sein Trikot eine andere Farbe hat, geht zurück auf die Kultur des Krieges, des Drogenhandels, die in diesem Land gesät wurde und natürlich auch den Fußball und seine Fans geprägt hat. Wir müssen dieses Muster durchbrechen und sagen: „Wir machen das Spiel“, wie Sie es vorhin schon erwähnt haben, denn es geht um unser Leben, um unsere Würde, um Gerechtigkeit und nicht zuletzt darum, das wir zu einer großen Gemeinschaft zusammenwachsen.
Wenn América oder Cali spielen, scherzen wir miteinander, die Caleños, die Americanos, aber ganz ohne Aggression. Ich habe noch nie erlebt, dass sich die jungen Leute da, wo ich herkomme, wegen eines Fußballspiels gegenseitig angreifen. Fußball hat in unserem Leben einen wichtigen Stellenwert, auch der Frauenfußball erhält immer mehr Beachtung. Meine Nichte sagt: „Ich werde Fußballerin“, sie trainiert im Club América und setzt alles daran, Profifußballerin zu werden, um den Frauenfußball zu repräsentieren, und ich bin allen Menschen dankbar, die dazu beigetragen haben, dass das heute möglich ist. Sie ist mit dieser Vision aufgewachsen, denn bei uns ist es immer so, dass wir auch eine Frauenmeisterschaft haben. Ich war nie eine gute Fußballerin, aber in meiner Familie gab es davon einige: Torhüterinnen, Stürmerinnen und Verteidigerinnen.
Wenn die kolumbianische Nationalmannschaft spielt, und wir alle das Trikot anziehen und diese Freude spüren, dann habe ich das Gefühl, Teil einer geeinten Nation zu sein. Ich glaube fest daran, dass wir diese Leidenschaft und Energie einsetzen können, um unser Land zu einen, den Schmerz zu heilen und den Krieg und die Gewalt zu beenden. Ich vertraue in unsere Macht, die der Fans und die der Fußballer. Als Umweltschützerin fand ich zum Beispiel die Aktion von Cristiano Ronaldo super [Bei einer Pressekonferenz Mitte Juni schob der Fußballer die bereitgestellten Colaflaschen zur Seite und griff nach einer Flasche Wasser. Darauf gingen bei Coca-Cola die Aktien zeitweilig in den Keller. Anm. d. Übers.]. Das war ein echter Ausdruck von Macht. Vor kurzem hatte ich noch einer Compañera von meinem eigenen Coca-Cola-Boykott erzählt, ich habe nämlich vor vielen Jahren aufgehört, Coca Cola zu trinken, und Ronaldo hat mit seiner Geste mal eben etwas geschafft, was uns in all‘ diesen Jahren nicht gelungen ist.
Es wird Zeit, dass Sportlerinnen und Sportler, ob nun im Fußball und in anderen Sportarten, ihre Macht erkennen. Sie sind tatsächlich in der Lage, positive Veränderungen zu bewirken, für Gerechtigkeit zu sorgen, hier in Kolumbien und überall auf der Welt. Nehmen Sie zum Beispiel Yerry Mina aus Guachené. Sehen Sie, wie er sich bewegt und was für eine Inspiration das ist für die jungen Leute. Und mich freut es besonders, dass so jemand in einem Gebiet wie Guachené im Cauca aufgewachsen ist. Diese Region ist so von Gewalt geprägt und macht auch immer nur aufgrund der Gewalt von sich reden. Dass dieser begnadete Fußballspieler aus so einer Gegend stammt, gibt den Kindern und Jugendlichen im Cauca Hoffnung. Mein großer Traum ist, dass die Fans der verschiedenen Mannschaften einander nicht mehr als Feinde betrachten. Wir wurden darauf getrimmt, uns so wahrzunehmen, das ist ein Produkt des Krieges. Ich wünsche mir, dass wir an unseren Unterschieden wachsen, dass wir auf unserer Verschiedenheit etwas aufbauen können, sie als Tugend wahrnehmen und als Kraftquelle für eine wirkliche Veränderung. Dass wir unsere Macht erkennen und lernen, sie zu nutzen.
Übersetzung: Lui Lüdicke
„Das Volk muss seine Macht erkennen. Nur so ist Veränderung möglich“ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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