(Bogotá, 10. Januar 2022, open democracy).- Für die Menschen in Arauca begann das Jahr 2022 mit Blutvergießen. Das Departement an der Grenze zu Venezuela war jahrelang Kriegsgebiet. Wie schon bei früheren Auseinandersetzungen lässt der Staat die Bevölkerung weitgehend im Stich. Auch wenn es noch keine genauen Zahlen gibt, die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Nationalen Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Nacional, ELN) und einem Ableger der aufgelösten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, FARC) in Arauca haben eine traurige Bilanz hinterlassen: mehrere Tote und Verletzte und tausende Familien auf der Flucht. Nach Angaben von Juan Carlos Villate, Beamter der Gemeinde Tame, wurden am 2. Januar, dem Tag der schwersten Gefechte, 24 Todesopfer gezählt. Darunter vermutet er viele Zivilist*innen. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl weiter steigt. Am selben Tag veröffentlichte die ELN eine Stellungnahme, in der sie die Abtrünnigen der FARC beschuldigt, in der Region Drogenhandel zu betreiben. Angeführt würden sie dabei vom Ex-Guerillero Arturo Paz. „Wir sahen uns in der Pflicht, das Gebiet zu verteidigen“, heißt es in der Erklärung.
Staatliche humanitäre Hilfe bleibt aus
Die Ereignisse waren zunächst nur über soziale Netzwerke und nicht durch traditionelle Medien bekannt geworden. Seit dem ersten Januar hatten Twitter-Nutzer*innen auf die Situation der vor den Kämpfen fliehenden Zivilist*innen aufmerksam gemacht. Die Regierung und insbesondere ihren Präsidenten Iván Duque forderten sie auf, einzugreifen. Eine der Hauptforderungen an die Regierung war die Errichtung von Unterkünften für die Geflohenen. Humanitäre Hilfe blieb jedoch aus; Präsident Duque beschränkte sich auf eine militärische Antwort, indem er zwei Militärbataillone in die Region schickte. Außerdem kündigte er an, militärische Geheimdiensteinheiten personell zu verstärken und die Luftstreitkräfte öfter über die Konfliktregionen fliegen zu lassen. Auch Drohnen sollen zum Einsatz kommen. Duque ist der Ansicht, Ausgangspunkt des Konflikts sei das Nachbarland Venezuela: „Diese Gruppen werden von einem diktatorischen Regime unterstützt und begehen in dem Konfliktgebiet Verbrechen, um sich anschließend in ihre Komfortzone in Venezuela zurückzuziehen“, so der kolumbianische Präsident. Eine gewagte Behauptung, denn damit wird die Verantwortung für die Ereignisse an das Nachbarland weitergereicht. Die Generalstaatsanwaltschaft teilte unterdessen mit, sie habe Beamt*innen beauftragt, die Arbeit der örtlichen Staatsanwaltschaft zu unterstützen und die institutionelle Infrastruktur zu stärken.
Die Laissez-faire-Haltung der Regierung hat Tradition
Dass erst die jüngste Eskalation den Staat bewogen hat, militärische Präsenz zu zeigen, ist überraschend. Denn schon seit Langem kämpfen verschiedene, aus der Illegalität operierende Gruppen um die Kontrolle über die Gebiete. Zwischen 2004 und 2011 lieferten sich die ELN und die damalige FARC bereits Gefechte, weil die ELN sämtliche Kokafelder in der Region vernichten wollte. Mehr als 500 Zivilist*innen fielen der Auseinandersetzung zum Opfer, hunderte Menschen wurden vertrieben. Beendet wurde der Konflikt mit einem Pakt, der die Region zwischen ELN und FARC aufteilte. Als sich der Großteil der FARC im Zuge des Friedensvertrags 2016 auflöste und über bestimmte Territorien in Arauca keine Kontrolle mehr hatte, machte der Staat keine Anstalten, das so entstandene Machtvakuum zu füllen. Stattdessen beanspruchten verschiedene kriminelle Gruppen die Gebiete für sich. Heute ist die größte Angst der Bewohner*innen Araucas, dass sich der Konflikt weiter zuspitzt und die Ausmaße von damals annimmt. Dazu Mayerly Briceño, Studentin und Aktivistin aus Tame: „Wir befürchten, dass sich die Ereignisse von vor dreizehn Jahren wiederholen. Damals mussten Bäuer*innen sterben in einem Krieg, mit dem sie nichts zu tun hatten.“ Briceño äußert klare Kritik: Statt die Gemeinden zu verteidigen, sei die Regierung immer für die Interessen der Ölfirmen in der Region eingetreten. Eine aktuelle Karte der Nationalagentur für fossile Brennstoffe (Agencia Nacional de Hidrocarburos, ANH) zeigt, dass Arauca in Kolumbien zu den Regionen zählt, in denen am meisten Öl gefördert wird. Wie in anderen Regionen auch, setzt sich der Staat hier für die Interessen der Ölwirtschaft ein, überlässt aber die Bevölkerung ihrem Schicksal.
Der Friedensvertrag mit der FARC wurde bisher viel zu nachlässig umgesetzt
Für Briceño und andere Aktivist*innen sind die aktuellen Ereignisse eine weitere Episode eines sehr langen Kampfs um die Kontrolle über die Region. Arauca gehört zu den Departamentos, die am schwersten und längsten von bewaffneten Konflikten betroffen sind. Seit 40 Jahren kontrollieren verschiedene Guerillas die Gebiete. Die Entsendung von Militär wird wohl kaum ausreichen, um einen so langen Konflikt zu beenden. Einen realistischen Lösungsansatz sieht Briceño in der Umsetzung des Friedensvertrags von 2016, der unter anderem festlegt, was mit ehemals von den FARC kontrollierten Gebieten und illegalen Plantagen geschehen soll. In seinem letzten Bericht vom Mai 2021 kommt das Kroc Institut für Internationale Friedensforschung allerdings zu dem Schluss, dass bisher nur 28 Prozent der im Friedensvertrag vereinbarten Maßnahmen umgesetzt wurden. Das ist natürlich frappierend wenig, wenn man bedenkt, dass seit der Unterzeichnung mehr als fünf Jahre vergangen sind.
Menschenrechtsorganisationen entsenden Beobachter*innen
Gegen die Untätigkeit der Regierung und die Gewalt der Banden organisierten die Bewohner*innen der Region (vor allem die Bäuerinnen und Bauern) ab dem dritten Januar friedliche Protestzüge und gewannen so die Aufmerksamkeit der staatlichen Ombudsstelle (Defensoría del pueblo) und anderer Menschenrechtsorganisationen, die daraufhin Vertreter*innen nach Arauca entsandten, um mit den Menschen vor Ort über die verschiedenen Bedrohungen zu sprechen und sich selbst ein Bild zu machen. Nach Darstellung der Bewohner*innen ereignen sich die Gefechte im gesamten Departamento, vor allem jedoch in den ländlichen Gemeinden Tame, Saravena, Arauquita und Fortul. Außerdem seien nicht alle bisher gezählten Todesopfer bei den direkten Auseinandersetzungen umgekommen, es gebe auch gezielte Tötungen unbeteiligter Personen, aber alle hatten definitiv der ländlichen Bevölkerung angehört. Präsident Duque hatte zwar behauptet, zivile Opfer gebe es nicht, aber dem widerspricht Staatsanwalt Francisco Barbosa mit Verweis auf die Gerichtsmedizin. Diese kommt zu dem Ergebnis, mehrere Bäuer*innen seien aus ihren Häusern getrieben und aus kurzer Distanz erschossen worden. Außerdem seien unter den Opfern vier Venezolaner*innen.
Sämtliche Eskalationen gehen vor allem zu Lasten der Landbevölkerung
Hier zeigt sich einmal mehr, dass Bäuer*innen in den kolumbianischen Konfliktregionen stets zu den ersten Opfern gehören. Sie sind den Gefechten am unmittelbarsten ausgesetzt und werden am wenigsten geschützt. Ihnen bleibt nur der Protest gegen einen Staat, der keine Präsenz vor Ort zeigt, das Friedensabkommen nicht durchsetzt, keine Pläne für regionale Entwicklung und soziale Investitionen hat und stattdessen zulässt, dass Arauca abermals zu einem Kriegsgebiet wird, in dem Guerillagruppen zu mafiösen Banden werden und in ihrem Kampf um die Kontrolle des Gebiets und des Drogenhandels nicht davor zurückschrecken, die Landbevölkerung zu töten.
Übersetzung: Patrick Schütz
Arauca. Die bewaffnete Gewalt kehrt zurück von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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