Wer ist Livía Sant’Anna Vaz?

(Salvador, 27. Mai 2023, Brasil de Fato).- Die Staatsanwältin des brasilianischen Bundesstaates Bahia, Lívia Sant’Anna Vaz, hat durch ihr politisches und institutionelles Engagement wichtige Debatten zur Verteidigung der Menschenrechte angestoßen. Als Autorin des Buches „Quotas Raciais“ (etwa: ethnische Quoten) hat sie sich mit sozialen Bewegungen beschäftigt und sich im akademischen, juristischen und kulturellen Umfeld mit der Politik des brasilianischen Staates zur Förderung der ethnischen Gleichheit auseinandergesetzt. Die gebürtige Salvadorianerin absolvierte einen Master-Abschluss in Öffentlichem Recht an der Staatlichen Universität von Bahia und erlangte einen Doktortitel in Rechts- und Politikwissenschaften in Lissabon. Sie ist Spezialistin für afro-lateinamerikanische und karibische Studien und koordiniert eine Gruppe zur Bekämpfung von Rassismus beim Nationalen Rat des öffentlichen Dienstes, wo sie seit 2004 tätig ist. Außerdem ist sie Autorin des Buches Justice is a Black Woman und wurde im vergangenen Jahr zu einer der 100 einflussreichsten Personen afrikanischer Abstammung in der Welt gewählt. Die Nichtregierungsorganisation Educafro, die sich auf die pädagogische Unterstützung der afro-brasilianischen Gemeinschaft konzentriert, hat sie nun als Bundesrichterin  vorgeschlagen. Durch das Ausscheiden von Richter Ricardo Lewandowski und Richterin Rosa Weber werden im Oktober am Obersten Gerichtshof Brasiliens (STF) gleich zwei Stellen frei. Die Organisation Most Influential People Of African Descent (MIPAD) sprach sich ebenfalls in einem offenen Brief an Präsident Lula für die Ernennung der Bahianerin in den STF aus und sammelt Online-Unterschriften für das Dokument.

Brasil de Fato: Wie ist es für Sie, mit dem Erbe von Patriarchat, Sexismus und Rassismus in Räumen institutioneller Macht zu leben?

Lívia Sant’Anna Vaz: In Anlehnung an die Lehren von [Frantz] Fanon würde ich sagen, dass es in der Tat ein Nicht-Ort ist. In Brasilien sind Schwarze Frauen in den Räumen der institutionellen Macht nicht nur unterrepräsentiert, sondern quasi nicht existent. Das ist die Realität sowohl in öffentlichen als auch in privaten Einrichtungen. Und die brasilianische Gesellschaft naturalisiert diese Abwesenheit einfach als Folge des fortbestehenden patriarchalen Rassismus. Es ist normal, dass es keine Schwarze Frau als Managerin eines großen Unternehmens oder als Abgeordnete im Nationalkongress gibt; es ist normal, dass der Oberste Gerichtshof selbst in den mehr als 130 Jahren seines Bestehens noch nie eine Schwarze Ministerin hatte. Eine vom Nationalen Justizrat 2021 veröffentlichte Studie über Schwarze Männer und Frauen in der Justiz zeigt, dass Schwarze Menschen nur 12,8 Prozent der brasilianischen Richterschaft ausmachen. Aus einer intersektionalen Perspektive ist das Ergebnis sogar noch aussagekräftiger: Schwarze Frauen stellen nur fünf Prozent der Richter*innen und Staatsanwält*innen unseres Landes, obwohl sie mit 28 Prozent der brasilianischen Gesellschaft die größte gesellschaftliche Gruppe darstellen. Vor diesem Hintergrund ist eine Schwarze Frau im Amt der Staatsanwältin die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Es geht um die Erfahrung einer institutionellen Einsamkeit, die krankhaft sein kann. Wir sind immer noch die einzigen Schwarzen in vielen sozialen Räumen, und dieser Zustand verursacht nicht nur institutionelle Gewalt, sondern stellt auch schwere Hindernisse im Kampf gegen Rassismus, Sexismus und alle Formen der Unterdrückung dar. Aber gleichzeitig bedeutet dies, eine gegenhegemoniale Haltung einzunehmen, pluriversal Gerechtigkeit zu schaffen; es bedeutet, eine altehrwürdige Mission zu übernehmen, um weiterhin Wege für diejenigen zu öffnen, die noch kommen und die Schritte derer zu ehren, die zuvor gekommen sind.

BdF: Ihr Buch „Cotas Raciais“ hat in akademischen und politischen Kreisen ein großes Echo ausgelöst. Wie wichtig ist diese Debatte zehn Jahre nach dem Gesetz 12.711/2012, das sich mit diesem Thema befasst?

LSAV: Wie ich in meinem Buch darlege, stellt die Quotenregelung für Schwarze – die eine Form der Fördermaßnahmen ist – einen kleinen, aber wichtigen Schritt in Richtung ethnische Gleichheit und Demokratie in Brasilien dar. Denn obwohl sie die erfolgreichste öffentliche Politik der Wiedergutmachung in unserer Geschichte  und die erste wirksame Antwort des brasilianischen Staates auf die fast 400 Jahre andauernde Versklavung von Schwarzen Personen darstellt, bleibt sie weit hinter dem zurück, was zur Förderung der ethnischen Gleichheit getan werden sollte. Wir haben zwar Quoten für den Zugang zur Hochschulbildung und zu öffentlichen Wettbewerben, aber das waren nicht die einzigen Rechte, die uns in der Vergangenheit verwehrt wurden. All unsere Rechte wurden verweigert, unsere Menschlichkeit wurde verleugnet. Daher müssen wir die Debatte über Fördermaßnahmen vertiefen und Mechanismen zur Kontrolle der Wirksamkeit der bereits durchgeführten öffentlichen Politik sicherstellen. Aber es ist auch notwendig, diese Maßnahmen zu erweitern, um Rechte und Chancen für die Schwarze Bevölkerung zu gewährleisten.

BdF: Welche Fortschritte und Grenzen können Sie in der Politik zur Förderung der ethnischen Gleichstellung in Bahia, einem Mitgliedstaat mit einer großen Schwarzen und indigenen Bevölkerung, erkennen?

LSAV: Im Hinblick auf die Politik der ethnischen Gleichstellung ist in Bahia das Statut der ethnischen Gleichheit und der Bekämpfung religiöser Intoleranz in Kraft, was als wichtiger gesetzgeberischer Fortschritt angesehen werden kann. Das Statut, das durch das Gesetz Nr. 13.182/2014 eingeführt wurde, zielt darauf ab, der Schwarzen Bevölkerung Chancengleichheit, den Schutz der individuellen, kollektiven und allgemeinen Rechte und den Kampf gegen Diskriminierung sowie andere Formen der ethnischen und religiösen Intoleranz zu gewährleisten. Das Gesetz lehnt sich in mehreren Aspekten an das Nationale Statut (Gesetz Nr. 12288/2010) an, wie z. B. den Leitlinien für das Recht auf Gesundheit, Bildung, Sport, Freizeit, Wohnen, Arbeit und Glaubensfreiheit, und hat darüber hinaus ein eigenes System zur Förderung der ethnischen Gleichheit entwickelt. Zusätzlich passt das Statut von Bahia die nationale Politik an die Bedürfnisse der Schwarzen Menschen des Bundesstaates Bahia an und investiert ebenfalls in die Förderung der Gleichstellung. Besonderes Augenmerk sollte auf die Einrichtung von Quoten für ethnische Gruppen gelegt werden, die Schwarzen Personen mindestens 30 Prozent der bei öffentlichen Auswahlverfahren und staatlichen Auswahlverfahren für Personal in der direkten und indirekten öffentlichen Verwaltung angebotenen Stellen vorbehält. Trotz der Fortschritte in der Gesetzgebung wissen wir, dass Bahia zu den föderalen Einheiten mit dem höchsten Anteil Schwarzer Menschen im Land gehört- die Bundeshauptstadt Salvador gilt als die „Schwärzeste Stadt außerhalb Afrikas“. So gesehen ist der im Statut festgelegte Anteil von 30 Prozent immer noch unverhältnismäßig zu dem Anteil Schwarzer Menschen in der bahianischen Gesellschaft.

Eine weitere wichtige Frage betrifft die Anwendung des Gesetzes auf staatliche Auswahlverfahren. Es wird festgestellt, dass viele Gemeinden in Bahia in der Praxis keine Quoten für ethnische Gruppen in ihren öffentlichen Wettbewerben haben. Ein weiterer besorgniserregender Aspekt betrifft die Überwachung der Quoten. Erst in jüngster Vergangenheit hat der Bundesstaat Bahia damit begonnen, in seinen Auswahlverfahren einen Ausschuss zur Vielfaltsermittlung einzusetzen, um den Betrug mit ethnischen Quoten zu verhindern, was in der Vergangenheit dazu geführt hat, dass viele weiße Personen in die reservierten Plätze gekommen sind. Dies stellt eine ernstzunehmende Abweichung von den Zielen der öffentlichen Politik dar und führt zu einer erheblichen Verzögerung bei der Stärkung von Schwarzen Menschen in Räumen institutioneller Macht. Ein ähnliches Problem tritt an staatlichen Universitäten auf, darunter auch an der Staatlichen Universität von Bahia – UNEB, die zu den Pionieren bei der Einführung von ethnischen Quoten für den Zugang zur Hochschulbildung in Brasilien gehört. Zwar wurden in den Wettbewerben mit ethnischen Quoten bereits Ausschüsse zur Vielfaltsermittlung eingesetzt, aber noch nicht in Bezug auf die Zulassung von Student*innen mit Quoten, was den Quotenbetrug gefördert hat, insbesondere in hoch angesehenen Studiengängen wie Jura und Medizin. Was die indigenen Völker anbelangt, so ist die öffentliche Politik zur ethnischen Gleichstellung im Bundesstaat Bahia noch sehr zaghaft.

Generell kann man also sagen, dass die Gleichstellung der ethnischen Gleichheit in Bahia noch lange nicht erreicht ist, vor allem wenn man sich anschaut, wie unterrepräsentiert Schwarze und indigene Menschen in den verschiedensten Bereichen der institutionellen Macht sind. In Salvador wurde zum Beispiel noch nie ein*e Schwarze*r Bürgermeister*in gewählt. Derzeit ist erst die zweite Schwarze Frau in der gesetzgebenden Versammlung des Bundesstaates Bahia vertreten. Auch im Justizwesen, das mehrheitlich von Weißen besetzt ist, sieht die Realität nicht viel anders aus.

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