(Rio de Janeiro, 6. November 2023, apublica.org).- „Der Präsident der FAFEG – der Föderation der Favela-Vereinigungen des Bundesstaats Guanabara – regt stets den subversiven Aktivismus unter den Bewohnern der Favelas an.“ So beschrieb die Abteilung für politische und soziale Ordnung (DOPS) von Guanabara die Aktivitäten von Etevaldo Justino. Der Präsident der FAFEG und Aktivist der Favela Esqueleto im Norden Rio de Janeiros versuchte im Dezember 1964, eine Volksabstimmung zu organisieren, um zu zeigen, dass die Bewohner*innen nicht wegziehen wollten. Etevaldo wurde verhaftet, das Plebiszit fand nicht statt, die Bewohner*innen wurden gewaltsam vertrieben, und die Favela wich der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro (UERJ) in Maracanã. Heute verlangt die Föderation der Favela-Vereinigungen von Rio de Janeiro (FAFERJ), Nachfolgeorganisation der FAFEG seit dem Anschluss von Guanabara im Jahr 1975, vom brasilianischen Staat die Anerkennung und Wiedergutmachung für die Verfolgung, die die Organisation während dieser Zeit erlitten hat.
Favela-Verband stellt kollektiven Antrag auf Wiedergutmachung
Seit 2006 wird in Brasilien am 4. November der Nationale Favela-Tag begangen. Am Montag den 6. November reichten die FAGERJ und die Menschenrechtsorganisation DPU einen Antrag auf kollektive Wiedergutmachung bei der Amnestiekommission des Ministeriums für Menschenrechte und Staatsbürgerschaft ein. Die 2002 gegründete Amnestiekommission hat in mehr als 50 000 Fällen Rechtsverletzungen aus ausschließlich politischen Gründen anerkannt und die Betroffenen entschädigt. Die Organisation wurde während der Regierung Bolsonaro aufgelöst und Anfang 2023 neu gegründet. Zu den vorgeschlagenen Änderungen gehört eine neue Regelung, wonach auch Vereinigungen und Kollektive Wiedergutmachung beantragen können. In dem ersten von der Staatsanwaltschaft verfassten Antrag auf kollektive Wiedergutmachung fordert FAFERJ die Anerkennung der Tatsache, dass die schweren Menschenrechtsverletzungen des Militärs nicht auf Einzelfälle beschränkt waren, sondern dass sich die Gewalt auch gegen die Föderation richtete, und zwar aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, gesellschaftlichem Status und Gebietsstreitigkeiten. In der 28-seitigen Petition fordern FAFERJ und DPU eine Reihe symbolischer Wiedergutmachungen, die ein neues Kapitel in der brasilianischen Übergangsjustiz aufschlagen.
Die Politik der Zwangsräumungen
Die Wahrheitskommission des Bundesstaats Rio de Janeiro (CEV-Rio) hatte den von der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen in den Favelas in ihrem im Dezember 2015 veröffentlichten Abschlussbericht ein ganzes Kapitel gewidmet. Die Menschenrechtsorganisation DPU setzt die Arbeit nun fort. Laut CEV-Rio war eine der Hauptformen der Gewalt die Politik der Zwangsumsiedlungen, von denen zwischen 1962 und 1973 mehr als 140.000 Menschen betroffen waren. Dies sei „eine systematische schwere Menschenrechtsverletzung“, so die DPU. Der Versuch, die Favelas ein für alle Mal aus dem Stadtbild von Rio de Janeiro zu tilgen, begann 1962. „Jahrzehntelang erstellten mit dem Immobilien- und Baukapital verbundene Unternehmen Studien zur Beseitigung der Favelas und zur Finanzierbarkeit des „Projekts“, wobei sie stets betonten, dass der Schwerpunkt auf dem Süden der Stadt und dem Tijuca-Viertel liegen sollte“, erklärt der Historiker Marco Pestana. Nach Ansicht des Forschers bekam das Projekt durch den Putsch und die Diktatur den entscheidenden finanziellen und personellen Auftrieb, so dass sich die Vertreibungen in der Folge vertieften und radikalisierten. Pestana, Autor des Buchs „Remoções de favelas no Rio de Janeiro: empresários, estado e movimento de favelados“, das 2022 vom Nationalarchiv veröffentlicht wurde, weist auf die vielfältigen Auswirkungen der Umsiedlungen auf das Leben der Bewohner*innen hin. „Die Folge war die totale Auflösung einer bereits organisierten Lebensweise, einhergehend mit dem Abbruch von sozialen und familiären Bindungen, die seit Generationen bestanden hatten“, nicht zu vergessen die Zunahme der wirtschaftlichen Belastung, da die Familien Ratenzahlungen für die umgesiedelten Häuser leisten und mehr Geld für Transport aufwenden mussten.
Staatliche Brandstiftung und Verhaftungen
In diesem Zusammenhang wurde 1963 die FAFEG gegründet: „Die Idee war, eine Organisation aufzubauen, deren Protagonisten die Favela-Bewohner selbst sein sollten“, erklärt die Historikerin Juliana Oakim, die ebenfalls mit CEV-Rio zusammengearbeitet hat. „1962, als sich die Politik für die Favelas änderte, entstand FAFEG als Versuch der Bewohner, sich selbst zu organisieren, um mit dem, was auf sie zukam, fertig zu werden.“ Im Jahr 1965 wurden die Zwangsräumungen vorübergehend eingestellt. 1968 schuf Diktator Costa e Silva die Koordinierung des sozialen Wohnungsbaus im Großraum Rio (Chisam). Die neue Organisation, die mit dem Innenministerium verbunden war, reaktivierte das Projekt. „Ab 1968 war die Vertreibungspolitik nicht mehr nur eine Angelegenheit der Staatsregierung, sondern wurde zu einer Politik des Militärregimes selbst“, erklärt Oakim. Die FAFEG reagierte auf ihrem zweiten Kongress mit dem Leitspruch „Urbanisierung ja, Räumung nein“. Im Januar 1969 begannen die symbolträchtigsten Vertreibungen dieser Zeit, betroffen waren unter anderem die Favelas rund um die Lagune Rodrigo de Freitas, ein Gebiet, in dem heute Wohnungen im Wert von Millionen Reais stehen. Gemeinden wie Ilha das Dragas, Catacumba und Praia do Pinto wurden dezimiert, was zur Vertreibung von Tausenden von Menschen führte. In diesem Zusammenhang kam es zu einem zweiten Angriff auf die FAFEG und ihre Protagonist*innen: Im Februar desselben Jahres wurden die Sprecher der Bewohner*innenvereinigung der Ilha das Dragas entführt und als vermisst gemeldet. Die FAFEG mobilisierte und brachte die Entführungen mit dem Widerstand der Bewohner*innen in Verbindung, worauf vier ihrer Wortführer verhaftet wurden: Vicente Ferreira Mariano, Abdias José dos Santos, José Maria Galdeano und Ary Marques de Oliveira. Neben den Verhaftungen drückte sich die staatliche Gewalt in Brandstiftung aus. In der Favela Praia do Pinto ebnete ein Brand am Muttertag 1969 den Weg für die vollständige Räumung der Gemeinde.
Kontrolle der Föderation
Die Verhaftung von Protagonisten der Bewohner*innenvereinigungen und der FAFEG, die sich gegen die Räumungen wehrten, ist eine der repressiven Eskalationen während der Diktatur. Aus den der Petition beigefügten Dokumenten geht hervor, dass die Verfolgung der Organisation auch nach den großen Zwangsräumungen weiterging. Zu dieser Zeit gab es mehrere Versuche, den Verband zu reaktivieren, indem die politische Öffnung und der Aufschwung der sozialen Bewegungen im ganzen Land genutzt wurden. Auch der Philosoph und Journalist Irineu Guimarães engagierte sich für die Wiederbelebung der Organisation. Die Abteilung für politische und soziale Ordnung (DOPS) erkannte Guimarães als „Aktivisten, der sich gegen das derzeitige Regime auflehnt“, und stufte ihn als gefährlich ein: „Er hält regelmäßig Versammlungen bei der ‚Lichtkommission‘ und der Anwohnervereinigung ab und hetzt die Bevölkerung auf“. Die DOPS registrierte zahlreiche Bewegungen von Guimarães: „Er war bei der Volksversammlung auf den Stufen der ALERJ (Legislativversammlung des Bundesstaats Rio de Janeiro) gegen den Rechtsterrorismus und für den Abbau der Repressionsorgane anwesend, wobei er den Namen der DOI/CODI (Abteilung für Informationsoperationen – Zentrum für interne Verteidigungsoperationen) erwähnte“, heißt es in einem Polizeibericht. Im Juli 1980 wurde Guimarães verhaftet und von der Polizei untersucht. Im Jahr 2012 erkannte die Amnestiekommission seine politische Verfolgung an und stimmte der Wiedergutmachung zu, ebenso wie in den Fällen Etevaldo Justino und Abdias José dos Santos, die 1964 bzw. 1969 verhaftet worden waren.
Kollektive Amnestie gegen kollektive Amnesie
Im Jahr ihres 60-jährigen Bestehens bemüht sich die FAFERJ um die Anerkennung der Tatsache, dass der gesamte Verband vom Regime verfolgt wurde. „Für uns ist es sehr wichtig, dass die Geschichte des Kampfs und des Widerstands der FAFERJ bekannter wird und in Erinnerung bleibt“, erklärt Derê Gomes, Historiker und Koordinator für institutionelle Beziehungen der Organisation. „Favelas tauchen in der Regel weder in Lehrbüchern noch in der etablierten Geschichtsschreibung oder in offiziellen Rückschauen auf“, betonte Gomes, der an der Ausarbeitung des Antrags an die DPU maßgeblich beteiligt war. „Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung, dass ein Organ des brasilianischen Staats offiziell erklärt, dass die Diktatur die Favela-Bewohner und ihre Organisationen wie die FAFERJ systematisch unterdrückt hat“, erklärte er abschließend. Die kollektive Amnestie ist ein Novum im Reglement der Amnestiekommission, und bisher wurden noch keine Anträge bearbeitet. Eneá de Stutz e Almeida, die Anfang des Jahres zur neuen Präsidentin des Instituts ernannt wurde, erklärt, dass diese Idee bereits vor 2016 in Fällen diskutiert wurde, die indigene Gebiete betrafen, aber die Änderung kam erst in diesem Jahr, als das Institut ihre Arbeit tatsächlich wieder aufnahm. „Dies soll zeigen, dass der autoritäre Staat nicht nur Einzelpersonen verfolgt, sondern auch bestimmte Kollektive als Feinde auserkoren hat.“ Diese Fälle seien ein Beweis dafür, „wie systematisch die Verfolgung durch die Diktatur war“.
Wiedergutmachungspolitik ausweiten
Expert*innen auf dem Gebiet der Übergangsjustiz sind sich einig, dass die Ziele der Anerkennungs- und Wiedergutmachungspolitik des brasilianischen Staates ausgeweitet wurden sollen. „Bislang beschränkte sich die Wiedergutmachungspolitik in Brasilien auf die Anerkennung der Schäden, die Einzelpersonen zugefügt wurden. Diese Dimension ist von grundlegender Bedeutung, bezieht aber nicht die verschiedenen Gruppen ein, die in dieser Zeit von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren“, sagt der Jurist Paulo Abrão, ehemaliger Präsident der Amnestiekommission. „Die Gewalt, die das Regime in den Favelas, auf dem Land und in den Gebieten der indigenen Bevölkerung ausgeübt hat, wurde beispielsweise im Rahmen der brasilianischen Übergangsjustiz nur sehr wenig berücksichtigt.“ Abrão ist derzeit Vorsitzende des Vorstands der Brasilianischen Koalition für Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Demokratie, einer Organisation, die an den Verhandlungen zwischen Staatsanwaltschaft und FAFERJ teilnahm, um den Antrag zu stellen. „Der Ansatz der kollektiven Amnestie ebnet dem brasilianischen Staat den Weg, diese Verstöße endlich anzuerkennen und wiedergutzumachen“, so Abrã0.
FAFERJ fordert öffentliche Entschuldigung des brasilianischen Staats
„Wenn der Staat anerkennt, dass die Rechte der Favela-Bewohner systematisch verletzt wurden, bekommen die Dimensionen von Rassismus und Feindschaft gegenüber armen Leuten den Raum, der ihnen im Kontext der Erinnerung an die Diktatur zusteht“, begründet Abrão die Initiative. Im Gegensatz zu Einzelfällen vor der Amnestiekommission führen Anträge auf kollektive Amnestie zu keinerlei Entschädigung, sondern lediglich zu symbolischen Formen der Wiedergutmachung. In ihrem Antrag fordert die FAFERJ „die öffentliche Anerkennung der Menschenrechtsverletzungen, die an den Randgemeinden begangen wurden, in diesem Fall durch die politische Verfolgung unserer Organisation“ sowie „eine offizielle Entschuldigung des brasilianischen Staats bei der FAFERJ und den Bewohnern der Favelas von Rio de Janeiro für die während der brasilianischen Diktatur erlittene politische Verfolgung“. Staatsanwalt Bruno Arruda, der den Antrag auf kollektive Wiedergutmachung für FAFERJ verfasst hat, weiß um die Bedeutung dieser Maßnahme. „Wir wollen, dass die gewalttätige öffentliche Politik, mit der eine ganzen Gemeinschaft mit ihren sozialen Forderungen mundtot gemacht wurde, diskutiert wird und in Erinnerung bleibt und dass es zu einer Entschuldigung kommt.“ Um seine Arbeit auszuweiten, gründete Arruda die Beobachtungsstelle für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit bei der DPU. Der Fall FAFERJ ist die erste Arbeit des noch jungen Teams. „Die Beobachtungsstelle ermöglicht es der DPU, noch substanziellere und dauerhafte Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft einzugehen, um die Debatten in Gang zu bringen, die für den Fortschritt der brasilianischen Übergangsjustiz notwendig sind.“
Die Militarisierung des Alltags und die Permanenz der Gewalt
„Ich habe viel Zeit damit verbracht, Gefangene aus den Slums zu verhören […]. Wir haben also Übung bekommen. Ich hatte Erfahrung“, so Riscala Corbage, Major der Militärpolizei von Rio de Janeiro, gegenüber der Bundesstaatsanwaltschaft (MPF) über seine Arbeit. Seine Aussage illustriert den zweiten Schwerpunkt der Entwicklung während dieser Zeit: die Militarisierung des täglichen Lebens in den Favelas und den Randgebieten. „Die offene Militarisierung der institutionellen Architektur der öffentlichen Sicherheit ist ein Erbe der Diktatur“, erklären dazu die DPU und die FAFERJ. Neben der symbolischen Anerkennung fordert die Organisation die Amnestiekommission auf, dem brasilianischen Staat als eine Form der Wiedergutmachung Maßnahmen zu empfehlen, um die Zahl der Todesopfer durch Polizeigewalt zu verringern. Wichtig seien die Einführung von Kameras an Polizeiuniformen, Autonomie der Forensik, mehr externe Kontrolle der Polizeiarbeit durch die Staatsanwaltschaft, die Regelung des Einsatzes von Hubschraubern bei Polizeieinsätzen und die Priorisierung von Ermittlungen in Fällen, in denen Kinder und Jugendliche Opfer sind, wie im Staatsgesetz Ágatha Félix vorgesehen. Die 8-jährige Afrobrasilianerin Ágatha Félix wurde 2019 bei einem Polizeieinsatz in einer Favela in den Rücken geschossen und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. „Während ein Teil der Gesellschaft die Rückkehr der Demokratie feierte, gab es in den Favelas weiterhin Menschenrechtsverletzungen“, betont Derê Gomes. „Die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wie die Verfolgung in den Favelas während der Diktatur aussah, ist ein Weg, um zu zeigen, dass staatliche Gewalt für uns die Regel ist, nicht die Ausnahme. Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung, den gegenwärtigen Völkermord an Schwarzen und Jugendlichen in den Favelas in Beziehung zu setzen zu dem, was in anderen historischen Epochen geschah“, argumentierte der Historiker und derzeitige FAFERJ-Vorsitzende. Der Präsident der Amnestiekommission hofft, dass weitere Anträge dieser Art eingereicht werden. „Wir hoffen, dass die verschiedenen Gruppen, die in dieser Zeit verfolgt wurden, ihre Forderungen nach symbolischer Wiedergutmachung geltend machen werden“, sagt Eneá. „Das ist wichtig für die gesamte Gesellschaft. Nur so kann die Bevölkerung verstehen, wie gefährlich Faschismus und staatlicher Autoritarismus sind.“
Übersetzung: Fabiana Raslan
Rios Favela-Verband fordert Entschädigung für Diktaturverbrechen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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