(Port-au-Prince, 20. Dezember 2020, ANRed).- Massaker, Entführungen, Morde an Oppositionellen: Wie Ermittlungen internationaler Menschenrechtsorganisationen beweisen, versinkt Haiti durch eine Allianz von staatlicher Macht und kriminellen Banden in einer Welle gewalttätiger Angriffe. Washington sanktionierte kürzlich zwei dem Präsidenten Jovenel Moïse nahestehende Personen und einen Paramilitär. Die staatlichen Institutionen Haitis sind währenddessen wie paralysiert, Demonstrationen gewinnen immer mehr an Kraft.
Sanktionen gegen drei Schlüsselakteure
Die USA, entscheidender politischer Akteur in Haiti, hat sich schließlich dafür entschieden, etwas zu unternehmen. Seit 2016 hatte das Weiße Haus Präsident Moïse und seine Verbündeten bedingungslos unterstützt, obwohl das Land kollabierte. Dieses Mal ist die Drohung ernst gemeint: Am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, kündigte das US-amerikanische Finanzministerium Sanktionen gegen drei Schlüsselakteure der organisierten Kriminalität an: zwei Beamte und einen paramilitärischen Kommandeur. Im Rahmen des Magnitsky Act wurden ihre Vermögen in den USA eingefroren und die Ausstellung jeglicher Visa verboten. Diese Entscheidung hat insofern Gewicht, als dass sie das heutige Wesen der Präsidentschaft von Moïse mitten ins Herz trifft – eine Allianz zwischen autoritärer Regierungsmacht und kriminellen Banden, die die Bevölkerung terrorisieren und die seit zwei Jahren anhaltenden Demonstrationen im Land zerschlagen.
Die nun erlassenen Sanktionen stehen in enger Verbindung zu einem der größten Massaker der letzten Jahre, das am 13. November 2018 in La Saline, einer Gegend nahe der Hauptstadt Port-au-Prince, verübt wurde. An diesem Tag wurden 72 Personen mit Macheten, Äxten oder durch Schüsse getötet. Elf Frauen wurden Opfer von Gruppenvergewaltigungen, Dutzende weitere Menschen wurden verletzt. Auch Kinder wurden getötet. Einige Leichen wurden auf eine Mülldeponie geworfen, andere verbrannt und zerstückelt. 400 Häuser wurden in Brand gesetzt und zerstört. Viele der Bewohner*innen von La Saline hatten an den Aktionen der Protestbewegung gegen die Regierung teilgenommen. Sie waren es wohl, die bestraft und in Angst und Schrecken versetzt werden sollten.
Zahlreiche Morde mit staatlicher Beihilfe
Das US-amerikanische Finanzministerium bestätigte außerdem zahlreiche Ermittlungsergebnisse einer UN-Menschenrechtsmission und haitianischer Menschenrechtsinstitutionen. Die entsprechende Pressemitteilung greift im Wesentlichen die Schlussfolgerungen vorheriger Berichte auf, die von den Machthabern bisher als „Lügen und Verfälschungen“ abgewiesen wurden. Die Mitteilung des US-Finanzministeriums benennt Joseph Pierre Richard Duplan als Vertreter Moïses auf Bundesstaatsebene als den „strategischen Architekten“ des Massakers in La Saline. Die Planung und Organisation führte Fednel Monchery aus, während er den Posten als Generaldirektor des Ministeriums für Inneres und Kommunales innehatte. Duplan und Monchery sorgten für die Beschaffung von Feuerwaffen, Fahrzeugen und Polizeiuniformen für die beteiligten Gang-Mitglieder. Die Umsetzung selbst konnte mithilfe bewaffneter Banden stattfinden – angeführt von Jimmy Cherizier, einem ehemaligen Polizeibeamten, der inzwischen einer der wichtigsten Bandenführer in Port-au-Prince ist.
Cherizier hatte danach noch weitere Morde in anderen Teilen von Port-au-Prince organisiert. Er bekam den Spitznamen Comandante Barbecue („Kommandant Grill“) und steht heute an der Spitze eines Zusammenschlusses der Anführer der neun Todesschwadronen in der Hauptstadt – einer Allianz, die sich selbst „G9“ nennt. Erst im November 2020 führte Cherizier eine viertägige Serie von Morden und Brandanschlägen im Arbeiterviertel Bel Air durch. „Die weit verbreitete Gewalt und Zunahme der Kriminalität durch bewaffnete Banden in Haiti wird durch ein Justizsystem verstärkt, das die Verantwortlichen für die Angriffe auf Zivilisten nicht strafrechtlich verfolgt“, folgert das US-Finanzministerium. „Diese Banden unterdrücken mit Unterstützung bestimmter haitianischer Politiker politische Dissidenten in Port-au-Prince, weil sie an Anti-Regierungs-Demonstrationen teilgenommen hatten. Sie erhalten Geld, politischen Schutz und genug Schusswaffen, um besser bewaffnet zu sein als die Haitianische Nationalpolizei (PNH).“
Was Washington bisher geleugnet oder geheim gehalten hatte, wird dieses Mal ausdrücklich geäußert. Trotz des vielfachen Drucks von Seiten der internationalen Gemeinschaft und haitianischen NGOs wurden die Ermittlungen im Fall des Massakers von Le Saline jedoch immer noch nicht abgeschlossen. Es sind nun mehr als zwei Jahre vergangen, in denen ganz Port-au-Prince weiß, was passiert ist. Die „Makoutisierung“ des Staates ist in vollem Gange, wie der Schriftsteller Lyonel Trouillot seit Längerem postuliert – und sich damit auf die sogenannten tontons-macoutes („Onkel Umhängesack“) bezieht, jene Paramilitärs unter Diktator François Duvalier, die den Terror im Land organisierten.
Demonstrationen gegen Entführung, Angst und allgemeine Unsicherheit
Die am 10. Dezember angekündigten US-Sanktionen hatten in Haiti bemerkenswerte Reaktionen zur Folge. Am Internationalen Tag der Menschenrechte demonstrierten tausende Menschen in mehreren Städten des Landes gegen die allgemeine Unsicherheit und Bandenkriminalität. An der „Demonstration für das Leben“ in Port-au-Prince nahmen so gut wie alle zivilgesellschaftlichen Organisationen der Hauptstadt teil. Zwei Tage zuvor waren schon tausende Menschen zur traditionellen religiösen Prozession der Unbefleckten Empfängnis zusammengekommen und hatten das Ereignis zu einem „Marsch gegen Unsicherheit, Entführung, Angst und für die Hoffnung“ werden lassen.
Die aktuellen Demonstrationen richten sich nach den Massakern vor allem gegen den neuen Modus Operandi der organisierten Kriminalität: Banden entführen ihre Opfer und fordern Lösegeld oder verletzen und töten sie. Am 17. Dezember waren zwei Jugendliche im Zentrum von Leogane in der Nähe von Port-au-Prince gekidnappt worden. Die Entführer verlangten eine Million US-Dollar Lösegeld. Laut Zeugenaussagen trugen sie Polizeiuniformen und waren schwer bewaffnet. Beide Opfer sind jedoch arbeitslos und ihre Familien arm. Am 6. Dezember wurden der Orchesterdirigent Dickens Princivil und die Jugendliche Magdala Louis von einem halben Dutzend bewaffneter Männer entführt. Nach einer Scheinhinrichtung wurden sie freigelassen.
Der Herausgeber der unabhängigen Nachrichtenseite Ayibopost, Widlore Mérancourt, schildert seine eigene Entführung und spätere Freilassung in einem Artikel: „G9, die größte kriminelle Organisation in diesem Land seit 1986, entstand auf Betreiben der aktuellen Regierung. Die Paraden in den Straßen, die Entführungen, Morde, Plünderungen, Vergewaltigen und Bedrohungen der Gegner der regierenden Macht kennzeichnen sie. Und sie sind gewillt, die anstehenden Wahlen zugunsten der Präsidentenpartei PHTK (die haitianische Partei der Kahlköpfigen, Anm. der Übers.) zu lenken.“ Er fragt sich weiter: „Was bedeutet es, vorsichtig zu sein, wenn die Behörden ausgezeichnete Beziehungen zu kriminellen Netzwerken pflegen, ja sogar mit ihnen verschmelzen?“
Eindringliche Appelle von kirchlicher und juristischer Seite
Am 10. Dezember, dem Tag der Demonstration und der Ankündigung von US-Sanktionen, versammelten sich außerdem dutzende Personen, unter ihnen Minister*innen und Beamt*innen, vor der Kirche Iglesia de Cristo Rey zum Staatsbegräbnis von Gérard Gourgue. Der Anwalt war unter anderem Gründer der Haitianischen Liga für Menschenrechte im Jahr 1978, noch unter der Herrschaft von Duvalier. Der Erzbischof von Port-au-Prince, Max Leroy Mésidor, nutzte die Zeremonie für einen Appell an die Machthabenden: „Angesichts der Zunahme von Entführungen, Bandenkriminalität und Terror stehen wir vor der Vergiftung des sozialen Zusammenhalts. Der Gründer der Haitianischen Liga für Menschenrechte hätte sich den katholischen Bischöfen angeschlossen und Nein gesagt: Nein zum Chaos, Nein zur Gewalt, Nein zur Unsicherheit und Nein zum Elend. Wir haben genug. Zu viel ist zu viel.“ Monatelang hatte sich die Kirche um eine Vermittlerrolle zwischen Regierung und Oppositionsparteien bemüht.
Man konnte auch eine andere Stimme hören, die von Marie Suzy Legros, Präsidentin der Anwaltskammer von Port-au-Prince. Ihr Vorgänger Monferrier Dorval, der sich Moïse widersetzt hatte, indem er behauptete, Haiti würde weder regiert noch geführt, wurde am 28. August 2020 in der Nähe seines Wohnsitzes erschossen. Am 1. November wurde das Land vom Mord an der 22-jährigen Studentin Évelyne Sincere erneut erschüttert. Drei Tage nach ihrer Entführung hatte man ihre Leiche auf einem Haufen Abfall gefunden. Während die Familie versucht hatte, das Lösegeld aufzutreiben, entschieden ihre drei Entführer, sie zu töten. Wahrscheinlich wurde sie vergewaltigt, bevor sie vergiftet, unter Drogen gesetzt, mit einem Kissen erdrückt und dann erwürgt wurde. Vor den Ministern beschuldigte Legros den Präsidenten direkt, indem sie „tyrannische und freiheitsfeindliche Texte in Vorbereitung“ anprangerte und den Entwurf für eine neue Verfassung als „ein Verbrechen des Hochverrats, eine schwere Verletzung der demokratischen Ordnung und eine illegitime Amtsanmaßung“ bezeichnete. Denn im weit verbreiteten Chaos, das von der obersten Macht gefördert wird, befindet sich Moïse nun in der Position, das Land alleine zu regieren.
Regierung Moïse auf dem Weg zu einem autoritären Regime
Schon seit Januar 2020 finden in Haiti keine Parlamentssitzungen mehr statt, weil die seit Oktober 2019 fälligen Wahlen immer noch nicht stattgefunden haben. Moïse regiert somit per Dekret und hat eine kleine Armee aus Söldnern erschaffen, die einer Präsidentenmiliz ähnlich sieht. Kürzlich beschloss er per Dekret die Einrichtung eines Nationalen Geheimdienstes, der ebenso charakteristische Merkmale einer Präsidentenmiliz aufweist. Außerdem hat er persönlich die Mitglieder für den Wahlrat bestimmt, der für die anstehenden Wahlen zuständig ist. Er kündigte weiterhin an, dass ein von ihm ernanntes Komitee eine neue Verfassung ausarbeiten wird.
Als wäre dies nicht genug, beschloss Moïse Anfang September, den haitianischen Rechnungshof mundtot zu machen, indem er forderte, dass Stellungnahmen innerhalb von höchstens fünf Tagen abzugeben seien und von nun an lediglich beratende Funktion hätten. Dabei war es gerade die Arbeit des Rechnungshofes, die den großen Finanzskandal von Petrocaribe aufdeckte, der es Politiker*innen ermöglicht hatte, bis zu vier Milliarden Dollar zu veruntreuen. Der Petrocaribe-Skandal hatte vor zwei Jahren die Demonstrationen und sozialen Revolten gegen die Korruption der haitianischen Eliten ausgelöst. Unzählige Gegner*innen des Regimes meinten schon damals, alles deute darauf hin, dass diese auf entfesselter Gewalt beruhende Präsidentschaft auf dem Weg zu einem autoritären, diktatorischen Regime sei.
Bis dahin hatte sich die internationale Gemeinschaft in Schweigen gehüllt. Die sogenannte „Core Group“, die in Port-au-Prince die wichtigsten europäischen Länder umfasst, fordert nun einen „inklusiven Dialog“ und die Organisation von Wahlen. Die Sanktionen der USA könnten das erste Signal dafür sein, dass Washington und die baldige Biden-Administration dieses Mal beschlossen haben, das duvalieristische Abdriften eines Regimes aufzuhalten, dessen Ansehen vor dem ganzen Land bereits ruiniert ist.
Übersetzung: Miriam Blaimer
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