Präsidenschaftswahlen, politische Gewalt und Drogenhandel

(Quito, 19. August 2023, El Salto).- Nur elf Tage vor den Wahlen wurde das Land durch die Ermordung von Fernando Villavicencio, Präsidentschaftskandidat des Movimiento Construye-Bewegung, erschüttert. Das Verbrechen erregte großes Aufsehen, weil es einen Präsidentschaftskandidaten betraf, und doch ist Villavicencio nicht die erste politische Führungspersönlichkeit, die in der jüngeren Vergangenheit einem Mordanschlag zum Opfer fiel: Agustín Intriago, Bürgermeister von Manta und Vertreter der lokalen  Bewegung „Mejor Ciudad“, wurde am 23. Juli ermordet. Ryder Sánchez, der bei den Parlamentschaftswahlen von Esmeraldas für das Rechtsbündnis Actuemos kandidiert hatte, erlag eine Woche zuvor einer Schussverletzung. Die politischen Morde machen deutlich, welche Rolle kriminelle Banden, die häufig mit dem internationalen Kokainhandel in Verbindung stehen, in dem südamerikanischen Land spielen. Die Häfen von Manta und Esmeraldas sind für den Drogenhandel von zentraler Bedeutung. Bürgermeisterkandidat Omar Menéndez von der Partei Revolución Ciudadana in der Küstenstadt Puerto López wurde einen Tag vor den Kommunalwahlen ermordet. Fünf Tage nach dem Mord an Villavicencio wurde sein Parteigenosse Pedro Briones in der nördlichen Provinz Esmeraldas erschossen. Am selben Tag wurde im Fernsehen die Debatte zwischen den Präsidentschaftskandidaten übertragen, dabei ging es vor allem um die „Rettung des Landes aus der allgemeinen Unsicherheit“, wie es einer der Kandidaten ausdrückte. Die letzte Schießerei während einer Wahlveranstaltung ereignete sich am 17. August in Durán, im Großraum Guayaquil, bei der Abschlussveranstaltung der Kampagne des Geschäftsmanns Daniel Noboa, Präsidentschaftskandidat der Alianza Acción Democrática Nacional. Innenminister Juan Zapata versicherte öffentlich, diesmal habe es sich nicht um einen Anschlag auf den Kandidaten gehandelt.

Mehrere Verhaftungen nach dem Mord an Villavicencio

Mittlerweile stehen nach dem Mord an Villavicencio mehrere Männer unter Tatverdacht. Sechs der Verhafteten sind Kolumbianer, einige sind in Kolumbien wegen Mordes und Drogenhandels vorbestraft. Alle festgenommenen Kolumbianer waren bereits einen Monat zuvor wegen anderer Straftaten verhaftet und wieder freigelassen worden. Der Attentäter selbst, auch ein Kolumbianer, wurde bei einer Schießerei mit der Polizei verwundet, der Staatsanwaltschaft vorgeführt und verhört. Einige Stunden später erlag er seinen Verletzungen. Der ermordete Präsidentschaftskandidat stand dem rechtsgerichteten Präsidenten Guillermo Lasso nahe und war ein erklärter Feind von Rafael Correa. Im Wahlkampf hatte er die Bekämpfung der Bandenkriminalität zu seinem Thema gemacht und war unter anderem für die Militarisierung der Häfen und den Bau eines Hochsicherheits-Megagefängnisses in einem abgelegenen Gebiet eingetreten.

Villavicencio – politischer Gegner Rafael Correas

Eigentlich sollte die Amtszeit des neoliberalen Präsidenten Guillermo Lasso bis 2025 andauern. Im Mai 2023 verfügte er jedoch die Auflösung der Nationalversammlung und rief Neuwahlen aus – ein verfassungsrechtlicher Mechanismus, der als „Muerte Cruzada“ bekannt ist und hier als Ausweg aus dem Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder genutzt wird. Fernando Villavicencio war im Kongress entscheidend daran beteiligt, die Amtsenthebung des Präsidenten zu verhindern und ihm die Möglichkeit zu vorgezogenen Neuwahlen zu geben. Politische Differenzen hatte er sowohl mit Präsident Guillermo Lasso als auch mit dem ehemaligen Präsidenten Lenin Moreno, viel wichtiger jedoch war, was sie miteinander verband: ihre Ablehnung gegenüber der fortschrittlichen und antiimperialistischen Politik der Revolución Ciudadana. Im beklemmenden Kontext des Ausnahmezustands und der Militarisierung des Landes war die wichtigste Achse der Präsidentschaftsdebatte das Thema Sicherheit und die Auswirkungen der Kriminalität. Villavicencio hatte Ex-Präsident Rafael Correa (2007 bis 2017) Korruption vorgeworfen, während sich Correa stets als zu Unrecht Verfolgter und als Opfer von Lawfare, der Zermürbung durch juristische Kriegsführung, die mehrere lateinamerikanische Präsidenten erlitten haben und weiterhin erleiden, betrachtet hatte. Einer der von Villavicencio während der Amtszeit von Lenin Moreno untersuchten Fälle endete mit einem Haftbefehl gegen Correa, woraufhin dieser nach Belgien ins Exil ging. Villavicencio selbst war schon 2014 von der ecuadorianischen Justiz wegen Verleumdung zu anderthalb Jahren Haft verurteilt worden (die er niemals absaß). Seinerzeit hatte er Correa ohne jede Grundlage beschuldigt, Verbrechen gegen die Menschheit begangen zu haben. In einer seiner letzten Interventionen in den sozialen Netzwerken versuchte Villavicencio, die Revolución Ciudadana-Kandidatin Raiza Vulgarín mit dem Verfahren in Verbindung zu bringen, das die kolumbianische Staatsanwaltschaft gegen Nicolás Petro wegen illegaler Bereicherung und Geldwäsche eröffnet hat. Vulgarín wurde auf der Grundlage von Berichten des Staatsanwalts Francisco Barbosa als angebliche Vermittlerin von Geldtransporten beschuldigt, wobei es für diese schwerwiegenden Anschuldigungen als Beweis nur ihre private Verbindung zu einem Cousin von Nicolás Petro gab. Der ermordete Politiker erklärte, er werde den ecuadorianischen Generalstaatsanwalt bitten, die Verbindungen zwischen der Revolución Ciudadana und der Partei von Gustavo Petro in Kolumbien zu untersuchen. In einem anderen Beitrag sagte er ohne weitere Erklärung:  „Fast immer, wenn in Lateinamerika vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts die Rede ist, gibt es eine Verbindung zum Drogenhandel.“

Der Erfolg der Revolución Ciudadana sorgt für Beunruhigung in den USA

Im Februar dieses Jahres hatte Rafael Correas Revolución Ciudadana bei den Sektionswahlen im vergangenen Februar mit mehr als 23 Prozent die meisten Stimmen  erzielt und neun der 23 Präfekturen und 50 Bürgermeisterämter gewonnen, darunter die von Quito und Guayaquil. In allen seit Juni veröffentlichten Umfragen erreicht die von Rafael Correa geführte Partei Revolución Ciudadana mit Präsidentschaftskandidatin Luisa González 29 Prozent der Stimmen, dann folgt Yaku Pérez, Kandidat der indigenen Bewegung Somos Agua (14 Prozent), Villavicencio lag mit etwas mehr als sieben Prozent auf dem vierten oder fünften Platz. Für die Rückkehr Correas nach Ecuador sah es unter diesen Umständen ganz gut aus, außerdem wollte Luisa González ihn zu ihrem wichtigsten Berater machen. Die Ermordung eines Politikers, der den Ex-Präsidenten immer wieder öffentlich verunglimpft, wirkt sich für ihre Partei jedoch äußerst destabilisierend aus. Auf internationaler Ebene beunruhigt der mögliche Wahlsieg der Revolución Ciudadana die Vereinigten Staaten schon seit Monaten. Die Erschöpfung des neoliberalen Projekts, ins Leben gerufen von Lenin Moreno und in den letzten zwei Jahren von Guillermo Lasso noch verstärkt, rückte die wirtschaftsstrategischen Unterschiede zwischen den gegnerischen Sektoren in den Mittelpunkt der politischen Debatte. So sollte es bis zu den Wahlen bleiben, doch mit der Ermordung Fernando Villavicencios verlagerte sich der Fokus Richtung Sicherheit. Vor dem Hintergrund des Ausnahmezustands und der Militarisierung des Landes standen im Zentrum der Präsidentschaftsdebatte, die ebenfalls immer deutlichere militärische Züge annahm, das Thema Sicherheit und die Auswirkungen der Kriminalität. Ganze 50 Minuten ging es um nichts anderes.

Drogenhandel und kriminelle Banden

Seit einigen Jahren ist die Drogenkriminalität die entscheidende Kraft auf den Straßen Ecuadors. Nach offiziellen Schätzungen wird derzeit etwa die Hälfte des Kokains, das Kolumbien verlässt, durch Ecuador geschmuggelt. Das Land habe sich zu „einem der Hauptumschlagplätze für den weltweiten Kokainhandel“ entwickelt, schreibt InsightCrime in ihrem Jahresbericht 2023. In einem anderen Bericht über den internationalen Kokainhandel heißt es: „Die Grenze Ecuadors zu Kolumbien ist einer der Hauptumschlagplätze für Kokain. Es gibt etwa 70 illegale Grenzübergänge. Kokain, Treibstoff, Chemikalien, Waffen und Munition fließen ungehindert zwischen den beiden Ländern, und während ecuadorianische und kolumbianische Gruppen um die kriminelle Wirtschaft konkurrieren, nimmt die Gewalt zu.“ Ecuador erzeugt keine Kokablättern, hat sich aber zu einem wichtigen Transit-, Lager- und Verteilungspunkt für die wichtigsten Konsumzentren für kolumbianisches und peruanisches Kokain entwickelt. Die Hauptlieferungen gehen von den Häfen von Guayaquil aus, die von verschiedenen Mafias kontrolliert und umkämpft werden, von kolumbianischen paramilitärischen Organisationen bis hin zur albanischen Mafia. Die Häfen von Manta in der Mitte des Landes, Esmeraldas im Norden und Puerto Bolivar im Süden spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Vor diesem Hintergrund scheint es plausibel, dass viele der in letzter Zeit getöteten Politiker zur Zielscheibe wurden, weil sie gegen den Drogenhandel vorgingen, doch dies scheint bei Villavicencio nicht der Fall zu sein. In einem Bericht der Staatlichen Polizei vom Januar 2022 wurden angebliche Verbindungen zur albanischen Mafia-Regierung untersucht. Der Bericht zählt auch einen Polizeigeneral zu den Verdächtigen. Seitdem gibt es immer wieder journalistische Anspielungen auf die „Narko-Generäle“, die sich bei den Sicherheitskräften tummeln. Der Drogenhandel hat seine Fühler auf allen Ebenen der Macht ausgestreckt und die Institutionen korrumpiert. Die albanische Mafia hat ihre Aktivitäten in der ganzen Welt in kurzer Zeit ausgeweitet. Seinen Anfang nahm der Drogenhandel in Europa mit dem Heroinhandel während der Balkankriege, zusammen mit der terroristischen Gruppe Kosovo-Befreiungsarmee UCK, die von den USA im Rahmen der NATO-Operation in der Region finanziert wurde. In den letzten zehn Jahren haben sie ihre Operationen nach Lateinamerika verlagert, um den weltweiten Kokainhandel zu kontrollieren, der hauptsächlich über ecuadorianische Häfen abgewickelt wird. Es ist eine Tatsache, dass Ecuador in Südamerika „das Land ist, das kein Kokain produziert und die meisten Drogen beschlagnahmt“.

Rafael Correa vermutet Komplott

Die Ermordung Villavicencios wurde von einigen Medien einer kriminellen Bande namens Los Choneros zugeschrieben, die sich nach ihrer Gründung in den 1990er Jahren von Erpressung und Raub auf den Kleinstdrogenhandel ausgeweitet hat und in den letzten Jahren in den internationalen Drogenhandel eingestiegen ist. Wenige Tage vor seinem Tod sprach Villavicencio von Drohungen, die er aus dem Gefängnis von Fito, dem Anführer der Bande, erhalten hatte, der mit dem mexikanischen Sinaloa-Kartell in Verbindung steht. Der Kandidat hatte sich im Wahlkampf als Vorkämpfer gegen Korruption und Drogenhändler präsentiert: „In anderthalb Jahren werden wir den Drogenhandel besiegt haben. Ich habe keine Angst vor ihnen“, hatte er erklärt. Als Täter wurden auch Los Lobos genannt, eine andere kriminelle Bande, die mit dem mexikanischen Kartell Jalisco Nueva Generación verbunden ist und mit diesem im weltweiten Kokainhandel konkurriert. Tatsächlich lassen sich keinerlei Verbindungen zu den mexikanischen Clans nachweisen. Vielmehr bieten die lokalen Banden kriminelle Dienstleistungen für ihre mexikanischen, aber auch für andere zahlungswillige Kunden an.

Villavicencios Frau Veronica Sarauz kehrte nach der Tat aus den Vereinigten Staaten zurück. Die Eheleute hatten sich Jahre zuvor getrennt. Sarauz kritisierte die Regierung und erklärte, diese habe es versäumt, ihren Mann angemessen zu schützen (er war in einem ungepanzerten PKW ohne Fahrer unterwegs) und beschuldigte aber ohne Beweise seine politischen Gegner. Auf die Frage, wer hinter der Ermordung stecke, antwortete sie: „Ich will ganz deutlich sein: der Correísmo“. Der „Correísmo“ habe Verbindungen zu kriminellen Banden im Land, so Sarauz. Anschließend kam sie auf den angeblichen Einfluss Kolumbiens zu sprechen, indem sie die Senatorin Piedad Córdoba vom Pacto Histórico beschuldigte: „Piedad Córdoba hat meinem Mann gedroht, dass sie ihn verschwinden lassen werde“. Präsident Lasso hingegen entlastete sie: „Die Regierung Lasso ist schwach und macht vieles falsch, aber ich käme nie auf die Idee zu sagen, dass Lasso ein Mörder ist“. Der ehemalige Präsident Rafael Correa, der den Tod seines politischen Gegners öffentlich beklagte, reagierte auf diese Aussagen in einem Interview mit dem Radiosender Caracol. Villavicencio sei eine Falle gestellt worden, so Correa, und ergänzte: „Um ein Verbrechen aufzuklären, muss man zuerst fragen, wer davon profitiert. Und es nützt den Rechten, uns zu schaden und einen zweiten Wahlgang zu erreichen“.

Die Hintergründe der Ermordung Villavicencios geben weiter Rätsel auf

Zur Eskalation der Gewalt in Ecuador seit dem Ende seiner Amtszeit im Jahr 2017 sagte Correa: „Ich habe in der jüngeren Geschichte noch nie eine so schnelle und tiefgreifende Zerstörung in Zeiten des Friedens gesehen (…) Aber Ecuador, das mit 5,6 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner als zweitsicherstes Land Lateinamerikas galt, hat sich innerhalb von sechs Jahren zu einem der gewalttätigsten Länder der Welt entwickelt, mit 25,3 Tötungsdelikten pro 100.000 Einwohner im Jahr 2022, Tendenz steigend. Vermutlich werden wir bald zu den 15 gewalttätigsten Ländern der Welt gezählt.“ Hinsichtlich der Ursachen dieser ausufernden Gewalt erklärte Correa: „Und warum haben sie alles zerstört? Wegen des politischen Hasses. Was heute in Ecuador geschieht, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Hass, von Unfähigkeit und von der Gier derer, die uns an der Macht abgelöst haben.“ Die gerichtliche Untersuchung der Ermordung Villavicencios ist noch lange nicht abgeschlossen, und es wäre verfrüht, sich auf Verdachtsmomente festzulegen. Es sollten keine voreiligen Schlüsse darüber gezogen werden, wer die Anstifter oder Drahtzieher des Verbrechens waren. Präsident Guillermo Lasso selbst bezeichnete den Mord als „politisches Verbrechen“ und erklärte: „Wir zweifeln nicht daran, dass dieser Mord ein Versuch ist, den Wahlprozess zu sabotieren. Es ist kein Zufall, dass diese verwerfliche Tat wenige Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen stattfindet“. Es gibt einige Übereinstimmungen mit der Ermordung des haitianischen Präsidenten im Juli 2021 durch kolumbianische Kommandos: Die meisten der festgenommenen Attentäter und derjenige, der den Kandidaten erschossen haben soll, sind junge kolumbianische Staatsangehörige, von denen einige bereits vorbestraft sind. Man weiß jedoch mittlerweile auch, dass auch vier Ecuadorianer beteiligt waren, die bisher noch nicht identifiziert wurden. Nach Angaben der Ehefrau von Villavicencio hatten die Attentäter Kontakt zu mindestens drei ecuadorianischen Politikern.

In den von der ecuadorianischen Regierung vorgelegten Informationen über die kolumbianischen Gefangenen hieß es, sie gehörten einer illegalen Organisation an, Einzelheiten wurden nicht genannt. Nach der ersten Woche gab es keine weiteren Informationen in dieser Angelegenheit. Dies würde die Hypothese bestätigen, dass die Gruppe kolumbianischer Auftragskiller, die bereits in Ecuador lebte, von ecuadorianischen Mittelsmännern und nicht von Drogenhändlern angeheuert wurde. Doch wer hat sie beauftragt? Diese Frage wird noch einige Zeit unbeantwortet bleiben, aber wie Oppositionsführer Rafael Correa zu Recht sagt, ist die erste Frage, die man sich angesichts eines politischen Verbrechens stellen muss, wer davon profitiert (und wer nicht).

 

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