(Santiago, 28. November 2024, rebelión).- Seit einiger Zeit wird es immer verwirrender zu verstehen, was in Bolivien vor sich geht. Das Land, das einst ein Beispiel für einen radikalen lateinamerikanischen Progressivismus war, ist heute in seiner politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung undurchsichtig. Aber das Schweigen in den Anden kann mit Argumenten und Verstand gebrochen werden.
Antonio Abal ist ein bolivianischer Journalist und Analyst, der regelmäßig von lokalen und internationalen Medien konsultiert wird. Wir haben uns an ihn gewandt um herauszufinden, was die Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse in seinem Land sind.
Was passiert politisch in Bolivien?
Antonio Abal: Um diese Frage zu beantworten, muss man die „Urform“ der bolivianischen Gesellschaftsstruktur berücksichtigen. Diese „Urform“ hat mit der Entstehung des Kolonialstaates und seiner bis heute andauernden Herrschaftsform zu tun. Der Kolonialstaat zeichnet sich durch eine hierarchische, rassistische, patriarchalische und tief religiöse Struktur sowie regionale Oligarchien aus.
Der Nationalstaat Bolivien wurde auf der Grundlage dieses Systems von den Nachkommen derer gegründet, die die Nischen der kolonialen Macht geführt haben. Im Laufe der Geschichte wurden diese Eliten von den Erben der Kolonialherrschaft zu den Ausübenden der politischen Macht – mit Ausbrüchen oder Impulsen der Macht der Bevölkerung oder der Indigenen, wie die zahllosen indigenen Rebellionen, die Streiks im Bergbau, die 1952 grundlegende Veränderungen herbeiführten, obwohl sie die allgemeinen Merkmale des kolonialen Staates beibehielten.
Erst im 21. Jahrhundert entstand eine mächtige Bürger*innenbewegung, die mit dem „Wasserkrieg“ der neoliberalen Privatisierungspolitik und 2003 mit dem „Gaskrieg“ den neoliberalen Regierungen ein Ende setzte. In diesem Szenario gewann die aus der Bewegung der indigenen Völker hervorgegangene MAS-IPSP die Wahlen 2005 mit einem indigenen Präsidenten.
Die traditionellen Sektoren, die von der politischen Macht verdrängt wurden, orchestrierten eine Reihe von Ereignissen, um die Regierung von Evo Morales zu beenden, was ihnen 2019 nach einer langen Unterwanderung der MAS und der persönlichen Zermürbung von Evo Morales über die Medien gelang.
Nach der Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 2020 setzten die Rechten ihre Strategie fort, die politische Kraft der indigenen Völker und der Basisorganisationen durch die Aktionen von „Maulwürfen“ auszuschalten, die bereits in Schlüsselpositionen in der Regierung installiert waren und die Aufgabe übernahmen, zunächst die politische Organisation und dann die Bewegung der indigenen Völker zu spalten.
Die Form, die dieser Kampf annimmt, um die politische Macht der indigenen Völker zu zerstören, erscheint als Kampf um die Führung, gerade um das politische Image von Evo Morales zu schwächen. Diese Strategie hat dazu geführt, dass es heute eine „offizielle“ Bewegung zum Sozialismus MAS (Movimiento al Socialismo) gibt, die rechtlich nicht mehr dem Kommando von Evo Morales untersteht. Evo Morales hat keine Partei.
Was passiert im sozioökonomischen Bereich?
Die Putschregierung von Jeanine Áñez hat die Wirtschaft zerstört, indem sie Plünderungen durch ihre Kabinettsmitglieder zuließ und staatliche Unternehmen in den Bankrott trieb. Dann kam die COVID-Periode, und die neue demokratische Regierung versuchte, die Wirtschaft zu stabilisieren, aber ohne Erfolg. Wir verloren den argentinischen Gasmarkt und damit die Deviseneinnahmen, die für die Subventionspolitik, insbesondere für Treibstoffe, notwendig waren. Die Treibstoffknappheit hat die Preise für Grundnahrungsmittel in die Höhe getrieben, und es gibt keine Maßnahmen, um die Spekulation mit Grundnahrungsmitteln wie Reis, Mehl und Gemüse zu kontrollieren, ganz zu schweigen von Importgütern.
Die aktuellen Straßenproteste haben mit dieser Forderung zu tun, die aber nicht kanalisiert und auf die politische Ebene getragen werden konnte, aufgrund der Schwäche von Organisationen wie dem Gewerkschafts-Dachverband COB (Central Obrera Boliviana), die früher die Forderungen der Bevölkerung vertrat. Heute ist die COB von der politischen Bühne verschwunden.
Welche Kräfte stehen sich gegenüber?
Als Folge einer allmählichen Schwächung der Basiskräfte, die durch die Aktivitäten der Regierung und eine reine Wahlkampfstrategie kooptiert wurden, haben wir es heute mit einer entpolitisierten und entideologisierten Basisbewegung zu tun, die sich darauf beschränkt, sich an die persönlichen Galionsfiguren der politischen Führer*innen zu klammern. Die revolutionären Programme und Ziele sind in Vergessenheit geraten.
Auf der anderen Seite ist der rechte Flügel, der nie zur Ruhe gekommen ist, sehr stark auf die Wiederherstellung des „alten Regimes“ ausgerichtet, d.h. auf die traditionelle bolivianische Politik, die mit den wirtschaftlichen Eliten verbunden ist. Mit einer Vielzahl von Parteien, die die spezifischen Interessen der verschiedenen regionalen Oligarchien in Bolivien vertreten.
Die marxistische „Linke“ ist von der politischen Bühne verschwunden und die aktuellen linken politischen Gruppierungen sind sowohl in der „Regierungs-MAS“ als auch im sogenannten „Evismo“ vertreten. In beiden Fällen gelingt es ihnen nicht, die politischen Strategien und Aktionen entscheidend zu beeinflussen.
Welche Rolle spielen die sozialen, indigenen und Basisbewegungen?
Die Zersplitterung aller gewachsenen Strukturen hat die revolutionäre Kraft der Bewegungen der indigenen Völker und der Basisbewegungen geschwächt, da sie sich in die traditionelle politische Praxis integriert haben, in der Partikular- und Familieninteressen im Vordergrund stehen, was den klientelistischen Bürokratismus als Form des politischen Handelns festigt.
Welche Rolle spielt der US-Imperialismus in der gegenwärtigen Situation?
Es besteht kein Zweifel, dass in diesem Szenario der Spaltungen und Verschiebungen die USA ihre Finger im Spiel haben. Was in Bolivien und in einem großen Teil des Kontinents geschieht, ist nichts anderes als der geopolitische Krieg der USA, die heute nicht mehr mit Marinesoldaten einmarschieren, sondern sich unserer Gehirne bemächtigen. Und angesichts dieser Art von Aggression sind wir wirklich unbewaffnet, denn die Entideologisierung der bolivianischen Gesellschaft, die seit 20 Jahren vom Neoliberalismus durchgeführt wird, hat unter der Regierung von Evo Morales keine Gegenoffensive erfahren. Der ‚kulturelle Wandel‘ ist das perverse Instrument der Aggression, das unserem Kontinent aufgezwungen wird.
Wie sieht die Perspektive der antikapitalistischen Kräfte inmitten der Krise aus?
Die Gruppen des Widerstands und der Selbstkritik in der Linken sind sehr klein. Die Guevaristische Bewegung selbst ist gespalten. Die linken Aktivist*innen innerhalb des MAS, sowohl in der Regierung als auch in der Opposition (Evistas), reduzieren ihre Rolle und ihre Perspektiven ausschließlich auf den Wahlkampf. Bis heute gibt es keinen Vorschlag für einen wirklich revolutionären Kurs, der die sozialen Bewegungen zur Beendigung des kolonialen Staates führen sollte.
Übersetzung: Deborah Schmiedel
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