Wir dokumentieren – Ermittlungskommission legt die Arbeit nieder

(Mexiko-Stadt, 26. Juli 2023, Tlachinollan).- Die Mütter und Väter der Verschwundenen setzten bei ihrer Suche nach Wahrheit große Hoffnungen in die Berichte der „Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Expert*innen“ (GIEI – Grupo Interdisciplinario de Expertos y Expertas Independientes). Nun hat diese ihre Arbeit eingestellt. Für seriöse Ermittlungen wäre es notwendig, dass der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) die Herausgabe aller den Fall betreffenden Informationen und Dokumente ermöglicht, insbesondere des Nachrichtendienstes Centro Regional de Fusión de Inteligencia (CRFI) und des Militärs. Die Menschenrechtsorganisation Tlachinollan ist in der Region la Montana aktiv. Sie begleitete die Angehörigen der 43 Verschwunden von Ayotzinapa von Beginn an, vertritt sie vor Gericht und unterstützt die Proteste.

 

 

„Der Präsident darf nicht vergessen, was er uns versprochen hat!“

Am 26. Juli 2023 formierten sich die Mütter und Väter der Verschwundenen gemeinsam mit sozialen Organisationen, Gewerkschaften und Kollektiven zur monatlichen Großdemonstration in Mexiko-Stadt. Seit fast neun Jahren fordern sie die lebendige Übergabe ihrer vermissten Söhne und die Herausgabe der relevanten Dokumente von Militär und Nachrichtendienst (CRFI), die bis heute unter Verschluss gehalten werden. „Die Armee besitzt mehr Macht als der Präsident“, erzählen die Demonstrierenden. Unmittelbar zu Beginn des Marschs begann es heftig zu regnen. Doch die Familien zogen unbeirrt weiter. Zum Schutz vor dem kalten Regen wurden Schirme und Regenponchos an die Demonstrierenden verteilt. Parolen wie ¡Vivos se los llevaron, vivos los queremos! („Lebendig haben sie sie genommen, lebendig wollen wir sie zurück!“) hallten weiter durch die breiten Straßen der Metropole. Bei der Kundgebung vor dem Antimonument für die 43+ sprach Doña Joaquina, die Mutter eines Verschwundenen, unter strömendem Regen von der Wahrheit, nach der sie sich sehnen: „Heute, am 26. Juli, empfinden wir immer noch Hoffnung auf die Wahrheit über das, was mit unseren Kindern geschehen ist. Aber wir fühlen uns nach dem letzten Bericht der Expertenkommission allein gelassen. Sie haben viel Zeit der Suche nach Wahrheit gewidmet, um uns eine Perspektive zu geben. Aber die Voraussetzungen für ihre Arbeit wurden nicht erfüllt. Wir wissen nicht warum, wir wissen nicht, was der Präsident verbirgt, der ein Dekret unterzeichnet und uns versprochen hat, die Wahrheit herauszufinden. Der Präsident darf nicht vergessen, was er in Iguala versprochen hat. Jetzt, wo die GIEI-Kommission abreist, verlangen wir, dass ihre Richtlinien für die Ermittlungen befolgt werden. Es wurden viele der vorgeschlagenen Ermittlungslinien nicht verfolgt. Warum sagen sie uns nicht die Wahrheit über unsere Kinder? Wo sie sind, damit sie uns zurückgegeben werden?“.

„Wir sind es leid, so viele Lügen zu hören“

Es waren vor allem die Mütter die die anwesenden Organisationen, Kollektive und Kommiliton*innen der Verschwundenen aufforderten, so lange weiterzumachen, bis der Aufenthaltsort ihrer Kinder geklärt ist, und die vom Präsidenten die Herausgabe der Akten des Nachrichtendienstes verlangten. Sie betonten, dass „dieser Fall nicht ungestraft bleiben wird, denn wir werden diesen Kampf weiterführen, die Liebe zu unseren Kindern ist groß. Wir sind müde, aber wir sind es leid, so viele Lügen zu hören, und wir werden nicht müde werden zu suchen, wir werden weitermachen“, sagte Doña Joaquina. Doña Hilda Legideño bedauerte in ihrer Rede, dass sich die Expertengruppe zurückzieht, „aber sie haben etwas hinterlassen, das von der mexikanischen Regierung eingefordert werden sollte. Die Akten des CRFI wurden bis jetzt versteckt. Als Mütter und Väter werden wir weiterhin nach unseren Kindern suchen, sie sind Menschen, die uns genommen wurden. Es handelt sich nicht um materielle Gegenstände. Wir werden so lange weitermachen, bis wir sie gefunden haben.“

Bericht der Expert*innengruppe macht Hoffnung

Kurz vor der Großdemonstration hielten die Mütter und Väter um 13:00 eine Pressekonferenz ab, nachdem die GIEI am Vortag ihren sechsten und letzten Bericht vorgelegt hatte. Die Familien forderten vom mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador eine Dringlichkeitssitzung, um die Gründe zu erklären, warum das Verteidigungsministerium sich weigert, die geforderten Akten herauszugeben, die entscheidende Informationen über das Verschwinden der Jugendlichen und deren Aufenthaltsort enthalten könnten. Die Mütter und Väter würdigten die Arbeit der unabhängigen Expertengruppe (GIEI) über die letzten acht Jahre und versicherten, dass sie keinen alternativen Bericht der Regierung akzeptieren werden, sondern ausschließlich den Empfehlungen der Expertengruppe folgen werden. Sie forderten, dass die zuständigen mexikanischen Behörden, den von der GIEI vorgegebenen Ermittlungsrichtlinien folgen müssen, „weil sie eine solide Grundlage haben, bei der sich die Beteiligung aller Polizeibeamten auf die Aussagen des Verteidigungsministeriums selbst stützt. Wir glauben, dass wir die Wahrheit herausfinden können, wir haben Hoffnung mit diesem Bericht, der Beweise und Grundlagen hat“, so Mario, einer der Väter.

Angehörige kritisieren den Umgang mit relevanten Informationen

Sie bedauerten auch, dass die Expertenkommission Mexiko verlässt, weil die Streitkräfte nicht bereit sind, wichtige Informationen preiszugeben, um die Wahrheit herauszufinden. Dies verunmöglicht die Arbeit der GIEI-Kommission. Sie stellten fest, dass die Bundesregierung „alle Archive, alle Informationen, die es zu dem Fall gibt, preisgeben muss, um es der Sonderstaatsanwaltschaft zu ermöglichen, die vorgeschlagenen Ermittlungslinien zu verfolgen, die dazu führen können, den Aufenthaltsort unserer Jugendlichen zu finden. Obwohl wir wissen, dass die Expertenkommission von der Internationalen Menschenrechtskommission ernannt wurde und die Regierung ihre Anwesenheit in unserem Land akzeptiert hat, wurde ihre Arbeit verunmöglicht. Obwohl sich die Regierung offen zeigte, war es nicht einfach. Es gab Behinderungen. Zwei Experten hatten die Kommission (GIEI) und das Land bereits zuvor verlassen, da sie keine ernsthafte Bereitschaft erkennen konnten, alle relevanten Informationen zu teile, und sie der Staatsanwaltschaft zu übergeben“, sagte Don Emiliano empört. Laut Vidulfo Rosales, dem Anwalt der Angehörigen, „wirft der Bericht viele relevante Fragen auf, aber der wichtigste Punkt ist der Aufenthaltsort der Jugendlichen. Der Bericht hat uns bereits gesagt, wohin sie gebracht worden sein könnten. Die Hinweise dafür befinden sich in den CFRI-Akten. Wir brauchen die Armee, um diese der Ermittlungsbehörde zur Verfügung zu stellen. Dazu ist sie gesetzlich verpflichtet. Wir verstehen nicht, warum sie so zögerlich ist, diese wichtigen Informationen zur Verfügung zu stellen. Wenn aus den Akten des CRFI hervorgeht, dass 17 Schüler an einen Ort namens Brecha de los lobos („Wolfsschanze“) gebracht worden sein könnten, worauf warten wir dann noch, um diesen Bericht zugänglich zu machen? Das Verteidigungsministerium hat seinerzeit den Dekrets zugestimmt, das mit der Gründung der Wahrheitskommission (COVAJ – Comisión para la Verdad y Acceso a la Justicia) unterzeichnet wurde“.

Der Anwalt der 43 betonte auch, dass ein Treffen mit dem Präsidenten der Republik dringend notwendig sei, „um die Gründe auf den Tisch zu legen und zu überprüfen, was die wirklichen Hindernisse sind, die verhindern, dass diese Informationen der untersuchenden Behörde zur Verfügung gestellt werden“. Cristina Bautista drückte die Gefühle der Mütter und Väter aus, die bis heute nicht in der Lage waren, ihre Kinder zu finden oder zu erfahren, was in dieser dunklen Nacht von Iguala geschah, weil die Lügen und Hindernisse der militärischen Institutionen weiterhin die Wahrheit verbergen. „Wir sind sehr traurig, sehr wütend und besorgt, dass die Wahrheit nicht gefunden wird. Präsident Andrés Manuel López Obrador hält nicht Wort, er sagte uns, dass die GIEI die Untersuchung durchführen würde und die Regierung mit ihnen zusammenarbeiten würde. Aber es gibt Hindernisse. Sie überlassen uns dennoch gute Werkzeuge, um die Ermittlungen voranzutreiben, und das werden wir fordern. Diese acht Jahre und zehn Monate auf der Suche nach unseren Kindern waren nicht einfach, und wir wissen ganz genau, dass wir nicht die einzigen sind, sondern wir leiden gemeinsam mit Tausenden, die nach ihren Angehörigen suchen“. Trotz aller Hindernisse versichern die Mütter und Väter, dass ihre Füße nicht müde werden, bis der Weg zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit, zu den Gesichtern ihrer Kinder führt.

Übersetzung: Marijan Schreckeis

 

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