
(Berlin, 11. Juli 2025, npla).- Am 22. März 2025 fand in der Sporthalle von La Plata, der Hauptstadt der argentinischen Provinz Buenos Aires, ein denkwürdiger Festakt statt. Zwei Tage vor dem Jahrestag des Militärputsches in Argentinien ernannte der Fußballverein Gimnasia in einer Gedenkveranstaltung 34 Vereinsmitglieder und Fußballfans, die während der Militärdiktatur ermordet worden waren, offiziell zu Ehrenmitgliedern und übergab die Ehrenmitgliedschaft feierlich an die Angehörigen.
Während der Militärdiktatur wurden in La Plata, einer bedeutenden Universitätsstadt und politisches Zentrum, besonders viele Menschen verschleppt und ermordet. Auch der argentinische Sportverein Club de Gimnasia y Esgrima La Plata, kurz: Gimnasia, war davon betroffen. Seit 2023 hat Gimnasia bislang 63 Diktaturopfer aus den eigenen Reihen ermittelt. Nach einer ersten Gedenkveranstaltung hat der Verein weitere 34 ermordete Vereinsmitglieder und Fans identifiziert und am 22. März posthum geehrt. Zu ihnen gehört Carlos Esteban Alaye Dematti, der Sohn von Adelina Dematti de Alaye, eine der späteren Gründerinnen der argentinischen Menschenrechtsorganisation Madres de Plaza de Mayo. Ein weiteres Vereinsmitglied, das der Diktatur zum Opfer gefallen ist, ist Héctor Federico Bacchini Gomila.
63 Diktaturopfer aus den Vereinsreihen
Der 1937 geborene Héctor Bacchini war Musiker und Komponist – und Priester. Er organisierte eine Volksküche in La Plata und leitete Alphabetisierungskurse. Das war in der Kirche nicht gern gesehen. Bacchini entfremdete sich von der Kirche und heiratete. Im November 1976 wurde er von der argentinischen Polizei aus seinem Haus entführt, zwei Monate später erschossen und in einem namenlosen Grab verscharrt.
Auf der Gedenkveranstaltung nahm seine Tochter Clara die Ehrenmitgliedschaft entgegen. Bei dem Festakt applaudierten die 600 Anwesenden, Tränen flossen. Clara Bacchini hat ihren Vater nie kennengelernt: „Ich bin immer mit der abwesenden Anwesenheit meines Vaters groß geworden“, so Bacchini, die gerade mal zwei Monate alt war, als er verschleppt wurde. Doch seine Gestalt, seine Geschichte und die Erinnerungen an ihn seien ihr ganzes Leben lang da gewesen. Über die späte Ehrung zeigt sich Bacchini glücklich: „Die Anerkennung der Existenz einer Person, obwohl sie nicht mehr da ist, ist von unschätzbarem Wert und lässt sich mit nichts vergleichen.“
Bacchinis Leiche erst 2010 identifiziert
Erst im Jahr 2010 konnte das renommierte argentinische Team für forensische Anthropologie die Identität und damit den Tod von Hector Bacchini feststellen. „Extrem wichtig“ sei das gewesen, sagt Clara Bacchini: „Für meine Mutter war es sehr traurig, weil sie irgendwie immer noch gehofft hatte, dass sie ihn doch nicht ermordet hätten, dass er irgendwo doch noch am Leben wäre“, erzählt sie. „Für mich hingegen war es der erste wirkliche, physische Kontakt mit meinem Vater, auch wenn es nur seine Überreste waren. Das ist natürlich super traurig, aber es hat mir ermöglicht, anzufangen zu trauern und eine Antwort auf die Fragen zu bekommen, die ich 30 Jahre lang nicht verstehen konnte: Zum Beispiel, wo er ist, was mit ihm passiert ist und ob er wieder zurückkommt.“
Fußballverein mit eigener Menschenrechtsgruppe
Der Fußballverein Gimnasia, der in der ersten argentinischen Fußballliga spielt, hat eine eigene Menschenrechtsgruppe. Die Subcomisión de Derechos Humanos setzt sich aktiv mit der Aufarbeitung der

Vergangenheit und den Opfern aus den eigenen Vereinsreihen auseinander. Zwei Jahre lang recherchierte sie in Zusammenarbeit mit anderen Fußballvereinen, Menschenrechtsorganisationen und Universitäten nach den Schicksalen der Verschwundenen. So konnte sie die 34 Biografien der ermordeten Vereinsmitglieder und Fans recherchieren und veröffentlichen. Clara Bacchini war 2022 eine der Gründerinnen der Menschenrechtskommission und vertritt sie inzwischen als Vorsitzende: „Ich liebe diesen Club und es ist eine tolle Möglichkeit, politische Aktionen für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit mit Hilfe eines Fußballclubs durchzuführen.“ Die Gedenkveranstaltung am 22. März hat ihre Verbundenheit mit Gimnasia weiter gestärkt, erzählt sie: „ Hier sind wir viele, wir haben viele unterschiedliche Lebensgeschichten und politische Ansichten. Doch was uns eint, sind die Vereinsfarben, die Liebe für den Fußballclub, und über diese Gemeinsamkeit bekommen wir einen besonderen Zugang zu Themen wie Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit.“
Fasziniert von der Fußballleidenschaft
Auch ein Deutscher ist in der Gruppe aktiv. Max Gippert ist zum ersten Mal vor zehn Jahren nach La Plata gekommen. Fasziniert von der Fußballleidenschaft kam er immer wieder und beschäftigte sich schließlich auch mit der argentinischen Militärdiktatur. Ihm ist dabei schnell aufgefallen, wie viele Berührungspunkte es zwischen Fußballvereinen und Diktaturverbrechen gibt. 30.000 Menschen seien damals verschleppt und ermordet worden, so Gippert, von denen viele als Fans, Vereinsmitglieder oder Sportler*innen zu den Vereinen dazu gehörten.
Inzwischen arbeitet Gippert in La Plata für die Menschenrechtsorganisation Comisión por la Memoria. Seit Jahren ist er zudem Teil der Menschenrechtsgruppe, die aus aktiven Fans und Vereinsmitgliedern besteht und sich gemeinsam mit anderen Clubs für mehr Teilhabe im Fußball einsetzt. Die Nachforschungen zu den Diktaturopfern aus dem Verein liefen zunächst über persönliche Kontakte, dann über Flyer und Social Media. So konnten schließlich die über 60 Namen der verschleppten und ermordeten Fans, Mitglieder und Sportler*innen identifiziert werden. Das Beispiel hat Schule gemacht:
„Der erste Verein mit einer Menschenrechtsgruppe war 2015 Ferrocarril Oeste aus der Hauptstadt Buenos Aires“, erzählt Gippert. „Eine größere Dynamik hat das Thema dann ab 2018/2019 rum in der Regierungszeit von Mauricio Macri bekommen. Und da begann das dann auch, dass Vereine angefangen haben, Diktaturopfer zu Ehrenmitgliedern zu erklären. Immer mehr Vereine haben das Modell übernommen und angefangen, die Gedenkinitiativen der Fans zu unterstützen, und dann Menschenrechtsgruppen als Subkommission in Vereinen institutionell zu unterstützen.“
Positives Echo bei Fans und Medien
Inzwischen hat sich in Argentinien eine Koordinierungsstelle Menschenrechte im Fußball gebildet, die die Basisarbeit der Fans in den verschiedenen Vereinen ermöglicht und vernetzt. Dass Gimnasia die in der Diktatur Verschleppten und Ermordeten zu Ehrenmitgliedern ernannt hat, ist in den Medien und auch bei den Fußballfans auf ein positives Feedback gestoßen. Für Max Gippert gibt es dafür vor allem zwei Gründe: „Zum einen ist Gimnasia hier als großer Traditionsverein dafür bekannt, sich auch sozial und kulturell einzubringen und eine Rolle zu spielen, vielleicht mehr als das bei deutschen Fußballvereinen normal ist; und zum anderen ist schnell deutlich geworden, dass diese Initiative aus der Freiwilligenarbeit der Fans entstanden ist, von der Basis, und nicht politisch an den Verein herangetragen wurde.“
Gimnasia war die letzte Trainerstation von Diego Maradona
Gimnasia war übrigens auch die letzte Trainerstation von Diego Maradona. Die argentinische Fußballlegende war dort von 2019 bis zu seinem Tod 2020 als Trainer aktiv. Zeit seines Lebens verurteilte Maradona die Gräueltaten der argentinischen Militärdiktatur.
Argentinien hat in der jüngeren Vergangenheit international viel Anerkennung für seine umfassende Diktaturaufarbeitung erfahren. Unter den Regierungen Kirchner Anfang der 2000er Jahre sei der Staat seiner Verantwortung gerecht geworden, meint Gippert; die Regierung trieb Gerichtsprozesse gegen Schwerverbrecher der Diktatur voran, ließ in ehemalige Folterzentren staatliche Erinnerungsstätten entstehen und finanzierte Bildungsprojekte.
Doch unter der aktuellen Regierung hat sich das geändert: „Der Amtsantritt von Javier Milei hat für die Erinnerungsarbeit in Argentinien dramatische Auswirkungen gehabt“, so Gippert. „Die Regierung versucht, sämtliche staatliche Diktaturaufarbeitung abzuschaffen, es werden zu Hunderten Mitarbeitende in Erinnerungsstätten und Menschenrechtssekretariaten entlassen, und die Menschenrechtsverbrechen werden verharmlost und relativiert.“
Forderung nach Erinnerung und Gerechtigkeit

Auch Clara Bacchini betrachtet die Entwicklung mit Sorge: „Die aktuelle Politik in Argentinien wird von Leuten angeführt, die wie zu Zeiten der Diktatur handeln und viele Verfolgungsmaßnahmen wieder aufleben lassen, und das mitten in der Demokratie. Deshalb ist es wichtiger denn je, in allen gesellschaftlichen Orten an der Forderung nach Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit festzuhalten!“
Angesichts dieser bedrohlichen Entwicklung will die Menschenrechtskommission erst recht das gesellschaftspolitische Engagement der argentinischen Fußballvereine sichtbar machen und die demokratische Erinnerungskultur verteidigen. „Die Menschenrechtsarbeit in den Fußballvereinen ist gerade in der jetzigen Zeit besonders wichtig, weil sie zum Großteil auf freiwilliger Arbeit der Fans beruht und deswegen von der Regierungspolitik nur schwer einzuschränken ist“, zeigt sich Max Gippert zuversichtlich. Die große Popularität der Fußballvereine bringe die Möglichkeit, soziale Anliegen den Menschen aus unterschiedlichen Milieus näher zu bringen.
Auch Clara Bacchini lässt sich den Mut nicht nehmen: „Für uns Opfer der Diktatur ist die Erinnerung eine Notwendigkeit, und gleichzeitig eine Verpflichtung“, sagt sie. „Die Erinnerung wachzuhalten bedeutet, dass ein ‚nie wieder‘ so umgesetzt wird, dass solche Dinge auch tatsächlich nie wieder geschehen.“
Zu diesem Artikel gibt es auch einen Podcast bei Radio onda.
Fußballverein ehrt Diktaturopfer von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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