Das Vermächtnis von Marielle Franco lebt weiter

(Río de Janeiro, 14. März 2023, Marcha) Es ist der 14. März 2018. Eine Stadträtin von Río de Janeiro wird durch Schüsse auf der Straße getötet. Die Nachricht verbreitet sich rasend schnell, das Gesicht von Marielle Franco erscheint auf den Bildschirmen wie ein frisch entwickeltes Foto. Auch ihr Fahrer Anderson Gomes wurde getötet.
Zum damaligen Zeitpunkt konnten wir es noch nicht wahrnehmen, aber zwei Vorgänge, die sich im Raum entgegengesetzt bewegen, fanden damals statt: Transparente mit der Forderung nach Gerechtigkeit erhoben sich in die Luft während gleichzeitig ein Samenkorn in der Erde verschwand. In den folgenden fünf Jahren fing dieser Same an, Wurzeln zu schlagen und sich zu verbreiten. Das Vermächtnis der Schwarzen, lesbischen, aus der Favela kommenden, feministischen und sozialistischen Frau, welche demokratisch gewählt und hinterrücks ermordet wurde, wird nun zur Aufgabe, überall auf der Welt gegen den patriarchalen und rassistischen Faschismus zu kämpfen.
Ende 2018 hat ihre Familie die Stiftung Marielle Franco ins Leben gerufen, um ihr Andenken lebendig zu halten und um den brasilianischen Staat mit der Frage zu konfrontieren: Wer hat Marielle umbringen lassen und warum? Während sie die Antwort darauf unerbittlich fordern, setzen sie sich auch für Marielles Vermächtnis ein. Sie ermöglichen, dass ihre Geschichte nicht nur ein unbewegtes Bild im Archiv bleibt, sondern dass ihre Stimme gehört wird, sich ihre Lebenspraktiken und ihr Politikverständnis vervielfältigen – als ein permanentes Denken mit anderen und für andere. Und vor allem, um der Tradition Privilegien zu entreißen und institutionelle Räume so zu gestalten, dass sie auch für Menschen aus den Favelas, für Frauen, für Schwarze, für queere Menschen, für Transvestiten und für Trans-Personen funktionieren.
Marielle kannte die Schwierigkeiten, die Frauen, rassifizierte Personen und Menschen aus einfachen Verhältnissen haben, wenn sie eine Stimme haben wollen in Räumen, wo Entscheidungen getroffen werden. Sie hat es am eigenen Leib erfahren. Sie kam aus der Favela Maré im Norden von Río de Janeiro und arbeitete, studierte, war Mutter und Aktivistin gleichzeitig. Und sie wusste auch, dass niemand allein ans Ziel kommt, sondern nur im gemeinsamen Kampf mit anderen. Ihre Wahl zur Stadträtin für die Partei des Sozialismus und der Freiheit (Partido Socialismo y Libertad, PSOL) fand zu einem bedeutenden Zeitpunkt in der Geschichte statt, als brasilianische Frauen anfingen, ihre geringe Repräsentanz in der Politik zu hinterfragen.
Einmal im Amt versuchte Marielle auch anderen zu ermöglichen, sich in den Institutionen der Macht einzubringen. Sie wollte die materielle und symbolische Distanz verringern, die besteht zwischen einem armen Viertel und den Orten, wo die Zukunft einer Stadt entschieden wird. Ihr Schaffen im Stadtrat von Río de Janeiro war volksnah, gemeinschaftlich, disruptiv und offen. Marielle Franco hat bei ihren Projekten die direkt betroffenen Personen mitbedacht und über ihre Aktionen berichtet. Sie hat sich mit Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Sichtbarkeit lesbischer Frauen und der Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt befasst – und dabei immer mit der Stimme der Betroffenen gesprochen.
Marielle lebte und verkörperte die Identitäten, für welche sie kämpfte. Darüber hinaus versuchte sie diese persönlich-kollektive Erfahrung zu verbreiten – wie eine Pflanze, die neue Samen verstreut.
Der Feminizid an Marielle Franco war nicht zufällig. Es gab einen Exekutionsplan, der ein Angriff war, auf alles, was sie symbolisierte. Einen Tag vor ihrer Ermordung hatte sie die Menschenrechtsverletzungen durch das Militär in der Region Irajá im Norden von Río kritisiert.
Was die heimlichen Urheber der Tat angeht, verwies der ehemalige Gouverneur von Río de Janeiro, Wilson Witzel, auf Verstrickungen der Familie des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro. Doch die Polizei hat mit ihrer schludrigen Arbeit nach fünf Jahren immer noch nicht alle Verantwortlichen gefunden.
Das Fehlen von Antworten schwelt nach sechs Jahren faschistischer Misswirtschaft weiter in einer verwundeten Demokratie. Es ist eine moralische Aufgabe der neuen Regierung unter Luiz Inácio Da Silva, dieses Verbrechen aufzuklären. Die Ernennung von Anielle Franco – Schwester von Marielle und auch Aktivistin – als Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen kann als ein Kompromiss der aktuellen Regierung mit der Wahrheit gedeutet werden.

Eine Stimme, die sich multipliziert

Im letzten Jahr sollten sich die Brasilianer:innen zwischen Faschismus und Demokratie entscheiden. In den Wahlen, bei denen sich Bolsonaro und Lula gegenüberstanden, gab es eine Rekordzahl an Kandidaturen von LGBTIQ-Personen, Schwarzen Menschen und Indigenen. Das Vermächtnis von Marielle Franco lebte während dieser Zeit in der Hoffnung, gemeinsam den Hunger und den Tod zu überwinden. Marcha berichtete darüber in den Tagen vor der Wahl und in jedem Interview fragten wir: Wie folgen wir Marielles Vermächtnis?
Die Stiftung Marielle Franco antwortete, indem sie uns von der Kampagne „Wir sind bereit“ (Estamos prontas) erzählten: Zusammen mit dem Kollektiv „Schwarze Frauen Entscheiden“ (Mulheres Negras Decidem), welches Kandidaturen von Schwarzen Frauen unterstützt, geht es um die Unterstützung und Stärkung von kollektiver politischer Führung. Die Stiftung bestätigt: „Marielles Vermächtnis umfasst nicht nur die Politik, sondern auch den Aktivismus, die Fürsorge und die Aufgabe, jungen Schwarzen Personen die Türen zu öffnen.
Mónica Benicio, Wegbegleiterin von Marielle und amtierende Stadträtin in Río de Janeiro, antwortete: „Alles, was Marielle in ihrem Leben und in ihrer politischen Tätigkeit war, wurde der Welt durch diese Tragödie, ihre Ermordung, offenbart. Aber es braucht eine positive Antwort, frei von Angst und Barbarei. Ganz im Gegenteil. Es muss unbedingt mehr dafür gekämpft werden, dass es noch mehr Marielles gibt und dass alles, wofür die Erinnerung an sie steht, überall auf der Welt noch stärker erblüht.“ Und sie fügt hinzu: „Ihr Vermächtnis und das von Anderson lebt in jeder Person, die für eine gerechte Welt kämpft.“
Dani Balbi, die erste Trans-Person, die in Río de Janeiro zur Abgeordneten gewählt wurde, meint: „Wir folgen ihren Schritten und stellen uns den Übeln des Kapitalismus, des Faschismus, des Nazismus, des Autoritarismus, des Machismo und des Rassismus entgegen, indem wir das Redner:innenpult auf den Plenarsitzungen dazu nutzen, die Stimmen Schwarzer Frauen zu stärken. Ich glaube, dass ist der Weg, der Marielle gefallen hätte: Nicht zuzulassen, dass die Parlamentsgebäude in Brasilien nur formale Orte sind, sondern dass sie auch Räume der Auseinandersetzung sind für radikale Veränderungen der staatlichen Strukturen.“
Vor fünf Jahren hat politische Gewalt eine Frau getötet, welche auf ihrem Abgeordnetensitz und auf der Straße die Grenzen der institutionellen Tradition überschritten hat. Aber sie haben ihre Stimme nicht zum Schweigen gebracht, ihre Geschichte nicht ausradiert, dass Keimen ihrer Samen nicht verhindert.
In einem Interview von 2017 bekräftigte Marielle Franco: „Der Feminismus ist wichtig, um zu garantieren, dass Frauen nicht in zweitrangigen Positionen bleiben. Um den Status der Unsichtbarkeit zu beenden, in den viele uns drängen wollen. Um Räume zu erschließen, in denen wir Protagonistinnen sind.“

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