(Berlin, 11. September 2023, nd/npla).- Salvador Allendes demokratischer Weg zum Sozialismus und das Projekt des Linksbündnisses der Unidad Popular hatten Bedeutung weit über Chile hinaus. Der Putsch Augusto Pinochets am 11. September 1973 und die folgende zivil-militärische Diktatur bis 1990 waren Ergebnis der Blockauseinandersetzungen im Kontext des Kalten Krieges. Die Verwicklung der USA, die Intervention der CIA und des Telekommunikationsunternehmens ITT sind gut dokumentiert. Die Interessenlage der Bundesrepublik Deutschland ist weniger bekannt, wir geben einen Überblick.
Schon im Vorfeld des Putsches wurde von Waffenlagern der Rechten berichtet
Bereits am 12. Juli 1973 schrieb das Berliner „Komitee ‚Solidarität mit Chile‘“ über die Vorbereitung eines Staatsstreichs in Chile. Der gescheiterte Putschversuch vom 29. Juni in der chilenischen Hauptstadt Santiago habe gezeigt, dass große Teile der Rechten „vor keinem Mittel“ mehr zurückschreckten, um „die ihre Interessen immer ernsthafter bedrohende“ Regierung des Linksbündnisses der Unidad Popular „zu beseitigen“, hieß es in der zweiten Ausgabe der „Chile-Nachrichten“, die im Zentrum der aufkeimenden westdeutschen Chile-Solidaritätsbewegung stand und 2023 als „Lateinamerika-Nachrichten“ ihr 50-jähriges Jubiläum feiert. „Inzwischen mehren sich die Nachrichten über paramilitärische Verbände und Waffenlager der Faschisten im Süden Chiles – unter anderem in der deutschen Kolonie ‚Dignidad‘“, so das Nachrichtenmagazin. Tatsächlich wurde der Sturz Allendes auch in der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad (mit) vorbereitet, die eine Schlüsselrolle in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Chile spielte. Rechtsextreme paramilitärische Gruppierungen wie Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) versammelten sich mit ihren Anhängern in der 400 Kilometer südlich von Santiago gelegenen deutschen Siedlung zu Nahkampftrainings und Sprengstoffübungen, die von der Sektenführung organisiert wurden. „Dabei wurde der Umgang mit Waffen geübt, Anschläge und Straßenblockaden trainiert“, beschreibt Luis Henríquez Seguel, der ehemalige Vizedirektor der chilenischen Kriminalpolizei PDI. Anschläge auf Brücken und andere Sabotageakte gehörten während der Zeit der Unidad Popular zur Strategie der Rechten, mit der das Land lahmgelegt und in Chaos versetzt sowie die Bevölkerung verunsichert werden sollte. Als Augusto Pinochet am 11. September tatsächlich den Regierungspalast „La Moneda“ bombardieren ließ, ging alles ganz schnell. Tausende Linke und Intellektuelle, Gewerkschafter*innen und Landarbeiter*innen wurden in kurzer Zeit verhaftet und gefoltert, viele wurden getötet.
Unterschiedliche Reaktionen in BRD und DDR
Die beiden deutschen Staaten reagierten unterschiedlich auf den Putsch. In der BRD drückte die SPD, gespalten in der Meinung über Allende, zunächst ihre Bestürzung aus. Dagegen hielten sich CDU/CSU mit Verurteilungen zurück und verharmlosten die Menschenrechtsverletzungen. Nur elf Tage nach dem Putsch zitierte der Bayernkurier den CSU-Vorsitzenden und spätere bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß: „Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang“. Wie Strauß übernahmen viele Politiker*innen der CDU/CSU das Narrativ der Putschisten, demzufolge sie mit dem Staatsstreich eine kommunistische Diktatur verhindert hätten. Nach einem Besuch in Chile im Oktober 1973 bezeichnete der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für humanitäre Fragen, Bruno Heck (CDU), das Leben der politischen Gefangenen im Nationalstadion in Santiago als „bei sonnigem Wetter recht angenehm“. Im Nationalstadion wurden etwa 40.000 Menschen gefangen gehalten, viele von ihnen gefoltert und ermordet. Die FDP verurteilte den Putsch zunächst, ihr Außenminister Scheel nahm jedoch die zuvor abgebrochenen diplomatischen Beziehungen bald wieder auf. Die DDR, die erst kurz zuvor von Chile als Staat anerkannt worden war, reagierte entschlossener. Sie brach die diplomatischen Beziehungen ab, verwandelte ihre Botschaft in Santiago in eine Handelsvertretung unter dem Schutz der finnischen Botschaft, in der aber eine „Restgruppe“ verfolgte Oppositionelle unterstütze. Kurzzeitig sammelten sich dort etwa einhundert verfolgte Chilen*innen. Insgesamt nahm die DDR etwa 2.000 Exil-Chilen*innen auf. Die Botschaft der Bundesrepublik in Santiago und das Auswärtige Amt gewährten Schutzsuchenden zunächst nur sehr zögerliche Hilfen und unterzogen sie einem Sicherheitscheck durch BND und Verfassungsschutz. Wer als mögliche Bedrohung für die BRD eingestuft wurde, durfte nicht in die BRD einreisen. „Wir werden uns hier doch keinen Haufen Tupamaros reinholen“, begründete der damalige Bundesinnenminister Genscher das Auswahlverfahren. Bis die brutal gefolterte Journalistin und Anführerin des MIR (Bewegung der Revolutionären Linken), Gladys Díaz, Aufnahme in der BRD fand, dauerte es mehr als ein Jahr, und es brauchte viele Briefe eines West-Berliner Frauen-Komitees, das sich für die Freiheit der politischen gefangenen Frauen in Chile einsetzte, bis die Entscheidung endlich fiel.
Der Putsch eröffnet wirtschaftlich interessante Möglichkeiten
Zumindest manchen deutschen Unternehmen kam der Putsch in Chile gelegen: Stand Allende für die Verstaatlichung ausländischer Konzerne in Chile, öffnete die Junta den Markt für internationale Konzerne. So verkündete etwa der deutsche Chemiekonzern Farbwerke Hoechst AG: „Die Regierung Allende hat das Ende gefunden, das sie verdiente… Chile wird in Zukunft ein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt sein“. Tatsächlich erlebte die Handelsbilanz der BRD mit Chile nach dem Putsch einen erheblichen Aufschwung: Der Export von überwiegend Maschinen, Fahrzeugen und Elektronik nach Chile stieg um über 40 Prozent, der Import vor allem von Kupfer, anderen Rohstoffen und Agrarprodukten aus Chile um etwa 65 Prozent. Schon 1974 besuchte eine chilenische Handelsdelegation die BRD. Auch Jahre nach dem Putsch unterhielt die Bundesrepublik Deutschland gute Beziehungen zur Junta und unterstützte die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen. Bald entwickelte sich die Bundesrepublik zum zweitwichtigsten Handelspartner Chiles. Vor allem nutzte die BRD ihre Möglichkeiten zur Einflussnahme nicht aus, wandte sich nicht gegen das Fortschreiben von internationalen Krediten und Umschuldungsverfahren. Die Junta konnte sich damit stabilisieren und ihren Kurs des neoliberalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft fortsetzen. Finanziell und wirtschaftspolitisch zeigten vor allem CDU und CSU enge Verbindungen zur Junta. Der CDU-Politiker Heinrich Gewandt hatte bereits vor Allendes Regierungszeit die Christdemokraten in Chile unterstützt und galt ab 1973 als Verbindungsmann zwischen CDU/CSU, bundesdeutschen Unternehmern und der Militärjunta. Zusammen mit anderen Bundestagsabgeordneten, acht chilenischen Konsuln, Bundeswehroffizieren und Geschäftsleuten sammelte er einem Bericht der Nürnberger Nachrichten zufolge Gelder in Höhe von 40.000 DM, die – als Spende des gemeinnützigen Vereins „Deutsch-Chilenischer Freundeskreis“ – direkt an die Junta in Chile übergeben wurden.
Franz-Josef Strauss, ein überzeugter Unterstützer der Pinochet-Diktatur
Eine herausragende Rolle spielte der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der sich bis an sein Lebensende für gute Beziehungen zur chilenischen Militärjunta einsetzte. Strauß reiste 1977 zur 125-Jahresferier der deutschen Einwanderung nach Chile und traf Pinochet. Es folgten Lieferungen von deutschen LKWs an das chilenische Heer. Nach Recherchen der chilenischen Investigativ-Journalistin Mónica González handelten Strauß-Vertraute 1978 mit Pinochet und Luftwaffenchef Matthei die unter dem Namen „Kormoran“ bekannt gewordene Lieferung von Hubschraubern BO-105 der Firma Messerschmidt-Bölkow-Blohm (MBB) an die chilenische Luftwaffe aus. Dabei sollte MBB möglichst nicht in Erscheinung treten, das Geschäft wurde in den Kontext eines Projekts politischer Kooperation und Ausbildung von Anleitern gestellt. Erst zehn Jahre später bestätigte auch Strauß das Geschäft offiziell.
Politisch bedeutend waren auch die engen Verbindungen zu zwei Würzburger Professoren aus dem Umfeld von CSU und deutschen Unterstützern der Colonia Dignidad: Der Soziologe Lothar Bossle unterhielt direktem Kontakt zu Pinochet. Der Jurist Dieter Blumenwitz wirkte an der Ausarbeitung der chilenischen Verfassung von 1980 mit, in der die Diktatur das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell festschrieb.
Bundesdeutscher Botschafter lobt „wohltätige Leistungen der Colonia Dignidad“
Die Colonia Dignidad, zu der Franz Josef Strauß, seine Parteifreunde der CSU und vor allem auch die deutsche Botschaft in Santiago enge Verbindungen unterhielten, hatte strategische Bedeutung für die Diktatur. Sie war Teil des chilenischen Repressionsapparats. Angehörige der deutschen Siedlung installierten Funktechnik in Haftzentren der DINA. Die Führung der deutschen Siedlung legte ein Geheimarchiv mit rund 45.000 Karteikarten an, das 2005 beschlagnahmt wurde und in dem sich Informationen über Verhöre von Gefangenen finden. Der Geheimdienst Dirección de Inteligencia Nacional (DINA) errichtete auf dem Siedlungsgelände nach dem Putsch ein Gefangenenlager. Zahlreiche Oppositionelle wurden dort gefoltert, vermutlich rund einhundert ermordet. Ihre Leichen wurden in Gruben verscharrt, Jahre später wieder ausgegraben und verbrannt, wie Aussagen von Siedlungsbewohner*innen belegen. Bis heute ist ihr Schicksal nicht aufgeklärt. Ab 1976 veröffentlichten die UNO und Amnesty International Berichte von Chilen*innen, die Folterungen in der Colonia Dignidad überlebt hatten und ins Ausland entkommen konnten. 1976 besuchte der damalige bundesdeutsche Botschafter Erich Strätling die Siedlung. Anschließend erklärte er, es gebe dort keine Haft- und Foltereinrichtungen, lobte aber die wohltätigen Leistungen der Colonia Dignidad. Dazu besuchte 1978 eine Delegation von etwa 35 Mitgliedern der CSU oder der ihr nahestehenden Hanns Seidel-Stiftung die Siedlung. Dieter Huber, der Auslandsreferent von Strauß, erklärte danach, sie seien freundlich empfangen worden und hätten „ohne Hindernisse irgendwelcher Art“ alles ansehen können. „An keiner Stelle haben wir die Folterkammern gefunden, von denen man soviel geredet hat“.
Waffenlieferungen mit Wissen des BND
Die Colonia Dignidad verfügte über Gewehre und andere Waffen, die sie teils in Sauerstoffflaschen oder in versiegelten Containern – ob ihrer offiziellen Anerkennung als gemeinnützige Einrichtung an allen Kontrollen vorbei direkt aus Deutschland einführen konnte. „In der Colonia Dignidad wurden diese Waffen dann nachgebaut“, erklärt Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika, der zur Colonia Dignidad forscht. Eine entscheidende Rolle spielte der deutsche Waffenhändler und Informant des Bundesnachrichtendienstes (BND) Gerhard Mertins (Deckname „Uranus“). Der frühere SS-Offizier, der nach 1945 Kontakte zu neonazistischen Gruppen unterhielt, handelte über seine Firma „Merex AG“ mit ausgesonderten Waffen der Bundeswehr und lieferte im Wissen des BND auch Rüstungsmaterial in Spannungsgebiete. Das beschreibt Jan Stehle in seinem Buch „Der Fall Colonia Dignidad“. „Nach Aussagen von Gerhard Mertins beauftragte der BND ihn bereits 1972 damit, Kontakt zur Colonia Dignidad aufzunehmen und Informationen über die Siedlung einzuholen“, so Stehle. Mertins, der sich bis 1989 mehrmals in der deutschen Kolonie aufhielt, beschaffte Waffen für die Siedlung und soll durch deren Vermittlung auch Waffen an das chilenische Heer verkauft haben. Auch Walther Rauff, ehemaliger SS-Standartenführer und „Organisator des Gaswagens“, der von 1958 bis zu seinem Tod 1984 in Chile lebte und zeitweise für den BND tätig war, besuchte die Colonia Dignidad mehrfach.
Die deutsche Justiz hat trotz jahrelanger strafrechtlicher Ermittlungsverfahren in keinem Fall Anklage wegen Verbrechen der Colonia Dignidad erhoben, hierzulande herrscht faktische Straflosigkeit. Da Deutschland deutsche Staatsbürger nicht an Chile ausliefert, finden Führungsangehörige der Siedlung in Deutschland einen sicheren Hafen. So lebt der ehemalige Krankenhausleiter Hartmut Hopp, der gute Verbindungen zum Geheimdienst DINA unterhielt, seit 2011 unbehelligt in Krefeld.
Crypto-Leaks-Skandal lässt weitere Verstrickungen vermuten
„Im Interesse einer umfangreichen Aufklärung und um zu beurteilen, wie tief die BRD wirklich in die chilenische Diktatur verstrickt war“, fordert Stehle, „müssen alle bei Geheimdiensten, insbesondere beim BND, unter Verschluss gehaltenen Dokumente und die Crypto-Leaks-Details offengelegt und ausgewertet werden“. Wie 2020 durch Recherchen von Frontal21 und Washington Post bekannt wurde, hatte der Schweizer Verschlüsselungskonzern Crypto AG jahrzehntelang Technologie zum Verschlüsseln geheimer Nachrichten an Regierungen in aller Welt verkauft. BND und CIA hatten die Firma allerdings heimlich gekauft und die Technik so präpariert, dass sie die verschlüsselte Kommunikation mitlesen konnten. Sie dürften bereits vor dem chilenischen Putsch bestens über diese Pläne informiert gewesen sein, ohne dagegen vorzugehen oder Allende zu warnen. Angesichts des Crypto-Leaks-Skandals sei möglicherweise eine Neubewertung der Geschichte nötig, so Stehle. „Es ist wichtig aufzuklären, was der BND vermutlich in Echtzeit auch über die systematischen Menschenrechtsverletzungen beispielsweise im Rahmen des Plan Condor [länderübergreifende Zusammenarbeit der Repressionsapparate der Diktaturen in Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Bolivien, Brasilien] mitlesen konnte, worüber die Geheimdienste der lateinamerikanischen Diktaturen miteinander kommuniziert haben.“
Eine kürzere Version des Textes ist zuerst in nd erschienen: 50 Jahre Putsch in Chile – Handlanger Pinochets in der BRD.
BRD-Verstrickung mit der chilenischen Diktatur und Pinochet von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Hallo Luciana, ich habe die Anfrage an die beiden weitergeleitet.
LG