(Mexiko-Stadt, 10. Juni 2021, amerika21).- Am 10. Juni jährte sich die als „Halconazo“ bekannte Repression gegen mexikanische Student*innen vom 10. Juni 1971 zum 50. Mal. Erstmals wurde dieses Jahr eine Demonstration zum Haus des damaligen Präsidenten Luis Echeverría Álvarez (1970‒1976) in Mexiko-Stadt durchgeführt.
Das Comité 68, entstanden nach dem 1968 verübten Massaker von Tlatelolco, rief zum „Marsch zum Haus des Massenmörders” auf sowie zu einer Demonstration in dem Stadtteil, wo der bis heute ungesühnte staatliche Terror stattfand.
Die „Halcones“ (Falken) waren eine paramilitärische Gruppe, die Ende der 1960er Jahre gegründet und vom General Manuel Díaz Escobar geleitet wurde. Zusätzlich zum militärischen Training in Mexiko wurden ihre Mitglieder nachweislich auch in Großbritannien, Frankreich, den USA und Japan in Nahkampf und Aufstandsbekämpfung ausgebildet. Diese Gruppierung griff am 10. Juni 1971 gezielt die erste Demonstration nach dem Massaker von Tlatelolco an. Rund 10.000 Studierende nahmen an der Demonstration teil. Die Polizei zeigte kaum Präsenz und überließ die Straße bald den mehreren Hundert „Halcones“, welche die Demonstrierenden zuerst mit Bambusstöcken und anschließend auch mit Schusswaffen angriffen. Rund 120 Menschen wurden an diesem Tag in Mexikos Hauptstadt getötet, viele weitere verletzt.
„Viele verbluteten auf der Straße“
Der mit den Studierenden solidarische Arzt Fernando Valadez schildert in einer der zahlreichen Gedenkveranstaltungen den Horror, den er an diesem Tag erlebte: „Wir mussten beim Abtransport der Verwundeten auswählen, wen wir aufgrund seiner Überlebenschancen mitnehmen konnten, viele waren zu schwer verwundet und verbluteten auf der Straße”. Außerdem berichtet Valadez, dass die Halcones in ein Spital eindrangen, um Verwundete zu ermorden. Valadez selber wurde während des Abtransports der Verletzten von der Polizei verhaftet und galt für kurze Zeit als verschwunden.
Nach dem „Halconazo“ entschieden sich viele junge Leute in Mexiko für den Guerillakampf, da es offensichtlich keine demokratischen Spielräume für die Linke gab. Die Regierung unter Luis Echeverría reagierte mit der Strategie des „Schmutzigen Kriegs“: Aufständische Gebiete wurden militarisiert, Guerillas und andere Linke wurden verfolgt, gefoltert und hingerichtet. Mehr als 600 Menschen gelten bis heute als gewaltsam verschwunden.
Am heutigen 50. Gedenktag des „Halconazo“ sind erstmals auch mexikanische Bundesinstitutionen aktiv und ein internationaler Kongress wurde von acht Universitäten miteinberufen.
Keine juristische Aufarbeitung
Einen der bekanntesten kulturellen Bezüge zu den Ereignissen vom 10. Juni 1971 realisierte kürzlich der Regisseur Alfonso Cuarón in seinem mit drei Oscars preisgekrönten Film „Roma“, in dem er mit der Person Fermin den Werdegang eines „Falken“ porträtiert. Auch die Szenen des Massakers drehte Cuarón am exakten Tatort in Mexiko-Stadt.
Eine juristische Aufarbeitung der Ereignisse und somit auch eine Rechenschaft des heute 99-jährigen Echeverría verhinderte der Oberste Gerichtshof bisher. Mexiko ist das einzige lateinamerikanische Land, in dem die Zeit der Repression der 1960er- und 70er Jahre vollständig straflos bleibt.
In der Pressekonferenz zur Mobilisierung am 10. Juni lud das Comité 68 auch eine Vertreterin der pädagogischen Hochschule Mactumactzá ein. Lehramtsstudierende in Chiapas, Puebla und Oaxaca erlitten kürzlich anlässlich ihrer Mobilisierungen kollektive Verhaftungen und massive Übergriffe der Behörden, ein Muster staatlicher Gewalt, das ungebrochen scheint.
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