„… und wenn die ganze Welt sozialistisch würde?“

(Havanna, 16. Februar 2022, Medio a Medio).- In seinem Haus in Havanna spricht der legendäre kubanische Liedermacher Silvio Rodríguez über seine Beziehung und unvergängliche Hingabe zur Musik und zum Wort sowie über die Errungenschaften, Fehler und Herausforderungen der kubanischen Revolution.

Trotz Pandemie: Die kreative Arbeit geht weiter

Der Linienbus P1 fährt bis zum Stadtteil Miramar. Etwas weit weg von der Altstadt Havannas, aber auf der Fahrt bekommt man einiges zu sehen. Gemütlich ist es nicht, denn die Guaga, wie die Kubaner*innen ihre Busse nennen, ist stets völlig überfüllt, dafür kostet die Fahrt auch nur wenig. Mit einem Drei-Pesos-Schein kommt man aus – der rote Schein zeigt auf der Vorderseite das berühmte Bild Che Guevaras, das auch auf T-Shirts und Souvenirs gedruckt ist. Auf der Rückseite ist der Revolutionär zu sehen, wie er mit einer Machete Zuckerrohr schneidet. In Miramar befinden sich die Ojalá-Studios, in denen Silvio Rodríguez jeden Tag komponiert, aufnimmt, redigiert, kreativ ist. Zum Interview erscheint der 75-Jährige mit einer Fotokamera in der Hand. Das Gesicht ist bedeckt von Brille und Schutzmaske. Während der Pandemie hat er sich längst vergessenen Projekten erneut gewidmet: „Eines davon ist 30 Jahre alt, von 1991. Das Album, das ich vor Kurzem veröffentlicht habe, ist damals zusammen mit der Gruppe Diákara entstanden. Die gibt es nicht mehr, der Bandchef „Oscarito“ Valdés ist schon verstorben. Wir haben die Platte damals aus Zeitgründen nicht vollendet, aber eigentlich war sie fertig. So mussten wir jetzt nur den Klang ein wenig verbessern“, sagt der Liedermacher im Exklusivinterview mit Tiempo.

– Du hast bei einem Konzert als Ankündigung für das Lied „Playa Girón“ mal gesagt, dass die Inspiration eines Liedermachers von der Musik, der Poesie und der Geschichte kommt. Wir erleben gerade einen sehr speziellen historischen Moment. Was macht ein Künstler während einer Pandemie?

Das kommt darauf an, in welcher Situation man sich gerade befindet. Aufgrund meines Alters und einiger gesundheitlicher Beschwerden musste ich zwischenzeitlich komplett aufhören. Ich musste auch viel Zeit für einige unerledigte Arbeiten aufwenden. Aber es gibt jüngere Künstler*innen, die haben ganz andere Voraussetzungen. Die arbeiten weiter und kommen herum. Die Jüngeren haben einfach mehr Kraft, mehr Energie und noch viel mehr vor sich. Sie können vielleicht gerade nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen, aber zumindest einige. Wenn ich jetzt 25 oder 30 Jahre alt wäre, würde ich es genauso machen.

– Würdest du?

Natürlich. Warum sollte ich mich nicht ins Leben stürzen? Selbst wenn es mich das Leben kostet. Aber ich musste leider sogar die Stadtteilkonzerte absagen, die ich jeden Monat gespielt habe. Das letzte war im März 2020.   

– Wirst du damit wieder anfangen?

Da habe ich etwas Bedenken. Wenn du so ein Konzert veranstaltest, hast du auch eine Verantwortung und musst mit den Konsequenzen leben. Wenn sich dort Menschen anstecken würden, womöglich auch Kinder, könnte ich das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.

– 1985 hast du mit der Gruppe Afrocuba und Santiago Feliú in Argentinien gespielt. Bei einem Pressetermin fragte dich ein Journalist, ob Revolution nur mithilfe von Waffen möglich sei. Deine Antwort war: „Rezepte gehören in die Küche“.

Es war ja auch so, dass nach Kuba nur in Nicaragua eine bewaffnete Revolution stattgefunden hat. In anderen Ländern haben die Entwicklungen auf normalen Wegen stattgefunden. Mit demokratischen Mitteln, mit Wahlen. Und die Revolution in Nicaragua grenzte damals schon an ein Wunder. Jahrelang tobte der Guerillakrieg der Contras, und auch die große internationale Unterstützung aus vielen verschiedenen Ländern war etwas ganz Besonderes.

– Spielen die aktuellen Entwicklungen in Venezuela und Nicaragua eine Rolle für das heutige Kuba, vor allem wenn man bedenkt, welche Ziele die Revolutionen einst hatten?

Die Realität ist schon sehr anders als das, was wir uns erträumt hatten. Vor 60 Jahren sagte man, den Imperialismus werde es nicht mehr lange geben. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, und er ist nicht verschwunden. Die einzige Vorhersage, die wirklich einzutreffen scheint, ist Lenins Aussage, dass der Faschismus die letzte Stufe des Imperialismus sei. Was in den USA heute geschieht, wie sich das Bewusstsein der Menschen verändert, und zwar in weiten Teilen der Gesellschaft, deutet auf einen neuerlichen Ausbruch des Faschismus hin.

– Vom Faschismus weg ist es ein sehr viel längerer Weg als zu ihm hin.

Und in der heutigen Welt ist es noch viel komplexer. Die Machtverhältnisse haben sich verändert. Wenn dann noch im Atomwaffen im Spiel sind, wird es heikel.

– Was ist eigentlich aus dem Solidaritätsideal geworden?

Es gibt solidarische Menschen.

– Sicherlich. Aber nur wenige Länder, die nach diesem Ideal handeln.

Das liegt an der Dominanz der kapitalistischen Wirtschaft, die durch die Banken gestützt wird. In so einer Umgebung geht die Tendenz eher dahin, sich nur auf Zweckgemeinschaften einzulassen.

– Ist das denn nur ein wirtschaftliches Phänomen? Als du in dem Lied Vamos a andar gesungen hast: „Alle Fahnen so verflochten, dass es keine Einsamkeit gibt“, ging es nicht um Ökonomie. Ich würde sagen, es war eher ein philosophischer Satz.

Aber die Wirtschaft ist dennoch vorherrschend. Der Großteil der Welt ist nach wie vor kapitalistisch. Und der Kern des Kapitalismus ist ein ökonomischer. Margaret Thatcher hat es so formuliert: „Die Leute denken, es gehe um Politik. Tut es aber nicht. Es geht um Ökonomie.“ Das Problem ist das Primat der Wirtschaft. Einer Wirtschaft, die nur auf Wettbewerb und Konsum ausgerichtet ist. Die Auswirkungen auf die Umwelt sind verheerend. Da steht vieles auf dem Spiel.

– Was wäre denn als Gegengewicht denkbar?

Es wäre interessant zu sehen, was passieren würde, wenn die ganze Welt sozialistisch wäre. Wenn ein Sozialismus mit der richtigen Geisteshaltung daherkäme und die Führung übernehmen würde. Es gibt ja Länder mit starken sozialistischen Elementen. Zum Beispiel China, das aber gleichzeitig einer der größten Umweltverschmutzer ist. Es wird sich noch zeigen, ob die Entwicklungen dort sich nur aus dem Widerstreit mit einer kapitalistischen Weltmacht ergeben oder ob sie einfach zum Fortschritt dazugehören und unveränderbar sind.

– In Argentinien diente die Pandemie als Rechtfertigung dafür, dass die Erwartungen, die die aktuelle Regierung geweckt hatte, unerfüllt blieben. Kann man hier einen Vergleich ziehen zur Blockade Kubas? Ist diese am Ende auch nur eine Ausrede?

Darüber gibt es in Kuba gerade viele Diskussionen auf ideologischer, intellektueller, aber auch auf institutioneller Ebene. Insbesondere die Ökonomen beteiligen sich rege daran. Die Blockade darf kein Vorwand sein. Wir können sie aber auch nicht dulden. Genauso wenig können wir es dabei belassen zu behaupten, dass alles, was wir nicht erreichen konnten, nur die Schuld eines mächtigen Nachbarn ist, der uns blockiert und unsere Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Wenn uns in 60 Jahren nichts eingefallen ist, wie wir die Blockade umgehen können, sind wir schlecht dran. In einigen Bereichen ist es uns gelungen, in der Wissenschaft zum Beispiel. Als Fidel auf diesen Bereich gesetzt hat, rief das Diskussionen hervor. Damals haben einige Leute gefragt: „Was soll diese Investition?“ Aber ohne sie hätten wir heute nicht der Pandemie begegnen können. Allerdings ist die Wissenschaft nur ein kleiner Sektor, einfach zu kontrollieren und zu finanzieren. In größeren Vorhaben waren wir weniger effizient und erfolgreich, weil der Staat immer alles kontrollieren,  überall intervenieren wollte. Genau darum geht es in den aktuellen Diskussionen: diese historischen Fehler zu beheben. Die Revolutionäre Offensive von 1968 hat da viel Schaden angerichtet.

– Denkst du wirklich, dass das ein Fehler war?

Ja, es war ein Fehler. Es war, als wollte man ein paar Stufen einfach überspringen. Als wir die Verbindung zu anderen sozialistischen Ländern suchten, war unsere Haltung: „Wir werden Handelsbeziehungen etablieren, in der die anderen einfach solidarisch sein müssen, weil wir unterentwickelt sind und uns jetzt der Bewegung anschließen.“ Aber daraus ist nur Abhängigkeit entstanden. Es hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass wir uns bei der Industrialisierung nicht genug angestrengt haben. Wir haben sogar ganze Industriezweige verloren, die vor der Revolution gut funktioniert haben, etwa die Zuckerindustrie. Natürlich haben wir Fehler gemacht. Die Revolution hat Fehler gemacht, die uns heute zum Nachteil werden.

– Das ist eine sehr harte Lesart.

Heute gibt es in Kubaein viel größeres Bewusstsein für die Notwendigkeit horizontaler Strukturen. Das wächst immer mehr, mittlerweile sogar bis in die oberen Bereiche der Politik. Natürlich denken manche Menschen immer noch altmodisch und glauben an die alten Lösungen, die alten Rezepte, selbst wenn sich mittlerweile gezeigt hat, dass diese nicht zielführend sind. Demgegenüber sind es vor allem die Jüngeren, die für mehr Demokratie kämpfen. Dafür, dass nicht immer alles vertikal von oben nach unten entschieden wird, sondern eine Horizontalität entsteht. Die Feindseligkeit, der die Revolution in ihren Anfangstagen ausgesetzt war, hat dazu geführt, dass wir uns abgeschottet und ein fast schon fanatisches System der Selbstverteidigung etabliert haben. Und es wurde für uns zur Selbstverständlichkeit. Das hatte seine Vorteile, schließlich hat es uns beschützt, aber auch geschadet. In gewisser Weise hat es uns deformiert.

– Du sprichst von reformwilligen Bereichen. Sind das die Menschen, von denen du kürzlich gesagt hast, dass sie „Anzeichen von Erschöpfung“ zeigen?

Nein, ich würde nicht sagen, dass es bei denen um Erschöpfung geht. Die mit den Erschöpfungserscheinungen wollen einfach nicht mehr für dieselbe Sache kämpfen. Die Reformwilligen sind die Jüngeren aus der Regierung. Ich denke, sogar Präsident Díaz-Canel selbst gehört zu den Personen, die einen Weg der Öffnung gehen, verschiedenen Ideen mehr Raum geben und die Wissenschaft besser einbinden wollen.

–  Und wer sind die Erschöpften? 

Dazu gehören leider auch junge Menschen. Die Revolution sollte ja vor allem der Jugend etwas bringen, sie ist es, die aufblühen und eine bessere Zukunft haben soll. Es ist sehr traurig zu sehen, dass die Einschränkungen in unserem Land genau das Gegenteil bewirkt haben: Einige junge Menschen sehen hier keine Zukunft mehr für sich. Dagegen müssen wir ankämpfen. Denn so kann die Zukunft der Revolution und die Zukunft Kubas oder irgendeines anderen Landes nicht aussehen. Sie muss der Jugend gehören und vielversprechend sein.

Weggefährten und Familienbande

Pablo Milanés

Bei dem Gespräch äußert sich Silvio Rodríguez auch über seinen ehemaligen Weggefährten Pablo Milanés. Der bekannte kubanische Sänger und Musiker lebt in Spanien und steht der kubanischen Regierung sehr kritisch gegenüber. Erst nach dem Interview wurde bekannt, dass Milanés‘ Tochter, die kubanische Sängerin Suylen Milanés Bennet, im Alter von 50 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben ist. Die Aussage von Rodríguez steht also nicht unter dem Eindruck dieser Nachricht.

– In der Anfangszeit der Revolution wurde Pablo Milanés für zwei Jahre zu einer Militäreinheit geschickt, in der er schwere Zwangsarbeit leisten musste. Anschließend war er zwei Monate in der Festung La Cabaña in Havanna inhaftiert. 

Pablo war schon immer sehr kritisch. Er hat Schlimmes erlebt und sich trotzdem der Revolution angeschlossen. … Ich schätze und respektiere ihn sehr. Es fällt mir schwer, über ihn zu reden unter diesen Umständen. Was ich mit Sicherheit weiß: Er ist ein großartiger Künstler und ein Mensch, der viel für Kuba empfunden, gelitten und gekämpft hat.

Silvito El Libre

Tiempo hat Rodríguez auch nach seinem Sohn Silvio Liam Rodríguez Varona befragt. Der 40-Jährige ist unter dem Namen Silvito El Libre ein bekannter Hip-Hop-Künstler. „Dem Namen nach ist er ‚der kleine freie Silvio‘, das würde mich zum ‚großen gefangenen Silvio‘ machen (lacht). Aber er ist genauso wenig frei, wie ich gefangen bin. Wenn du ihn eines Tages sehen solltest, frag ihn, warum ich das gesagt habe. Er ist in einer ländlichen Gegend mit schwierigen Lebensumständen in Kuba aufgewachsen. Ich glaube, das hat ihm sehr zugesetzt. Wir reden nie über die Dinge, die uns trennen, sondern immer über das, was uns verbindet: Familienbande, ein Gefühl von Zugehörigkeit, Dinge, in denen wir uns gleich sind, oder die zwei Enkelinnen, die ich von ihm habe. Mit vielen seiner Vorstellungen stimme ich nicht überein. Und Dinge, die ich gesagt habe oder tue oder denke, sieht er völlig anders. Aber wir haben uns deswegen nie gestritten und werden das auch nie tun.“

Vicente Feliú

Während des Interviews ist Silvio Rodríguez noch sichtlich berührt vom Tod von Vicente Feliú. Der bekannte Liedermacher und Mitbegründer der kubanischen Nueva Trova starb am 17. Dezember 2021 während eines Konzerts in Havanna. „Uns verbinden 60 Jahre Freundschaft. Wir kannten uns, seit er 15 Jahre alt war und ich 16“, sagt Rodríguez. Als der Tiempo-Journalist ihm eine persönliche Anekdote erzählt, die er mal mit Feliú erlebt hat, scheint es, als würden die Augen von Rodríguez glasig, und er verspricht, die Anekdote Feliús Familie zu erzählen.

Immer im Widerspruch zu sich selbst

Das Gespräch findet in einem Raum mit drei Sesseln und zwei Stühlen statt. Der Autor der Historia de las sillas (dt.: Geschichte von den Stühlen) hat sich für einen der Stühle entschieden, möglicherweise nur Zufall. In einer Ecke des Zimmers steht eine Büste von Che Guevara aus Holz, die alles zu beobachten scheint. Oder es wirklich tut? Vielleicht nur ein Spiel mit der Fiktion, die in den Liedern des Künstlers eine so große Rolle spielt. „Kreativ zu arbeiten bedeutet natürlich auch Routine, aber zu schablonenhaft darf es nicht sein, eine gewisse Reibung muss es immer geben. Du willst ja nicht immer dasselbe machen, dieselben Geschichten erzählen und die immer gleichen Formeln verwenden. Das ist, als würde man mit einem Stempel in der Hand arbeiten oder versuchen, die Kunst zu industrialisieren. Ich war immer im Widerspruch mit mir selbst und wollte nie ein Lied schreiben, das einem vorherigen zu sehr ähnelt. Manchmal habe ich auch versucht, meinen Stil aufzubrechen, auch das ist schließlich ein Schaffensprozess.“

Übersetzung: Patrick Schütz

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