von Andreas Behn
(Rio de Janeiro, 16. Juni 2014, taz).- Nach vier Tagen WM ist es in Brasilien erstaunlich ruhig. Dank der vielen angereisten Fans gibt es zumindest an den offiziellen Treffpunkten Party-Stimmung. Die Spiele und der Rummel drumherum stehen sonst nur in den Medien im Mittelpunkt. Der Alltag ist unverändert, in den Kneipen wird getrunken statt Fußball geguckt. Außer an den Spieltagen des Gastgebers, da ist ab Mittag Feiertag, eine willkommene Unterbrechung im Trott. Auch die Proteste sind bislang unauffällig, Streiks kein Thema mehr.
Dass die Proteste nach einigen Ausschreitungen am Eröffnungstag gleich wieder abgeflaut sind, überrascht Pedro und Edmundo nicht, die mitten im Kneipenviertel Lapa im Zentrum von Rio de Janeiro sitzen. „Das war abzusehen. Vor allem der Tod eines Fotografen durch einen Feuerwerkskörper bei einer Demo zu Anfang des Jahres hat dazu beigetragen, dass die Protestbewegung diskreditiert wurde,“ meint Pedro. Ihm sei es recht, die Forderungen der Straße stimmten zwar und Dilma müsse schnellstmöglich abgewählt werden, aber so nicht. Eduardo pflichtet bei, auch ihm gingen die Demos langsam auf die Nerven. Er kritisiert Dilma von rechts. „Trotzdem, wie unsere Präsidentin bei der Eröffnung unter der Gürtellinie angepöbelt wurde, das ging zu weit,“ wirft Edmundo ein.
Die fuck you-Rufe gegen Rousseff, die sich auf portugiesisch noch expliziter anhören und sonst bei jedem Spiel zumeist dem Schiedsrichter entgegen geschleudert werden, werden noch Tage später heftig diskutiert. Die meisten beurteilen den Vorfall als machistische Beleidigung, die sich gegen eine Frau und auch gegen das höchste Staatsamt richtete. Rousseff selbst sagte lediglich, sie werde sich nicht einschüchtern lassen. Und dass sie nicht nachtragend sein werde.
Kleinere Demos in Salvador und Belo Horizonte
Auf der Straße ist Politik derzeit kaum präsent. In Salvador am 13.6. und am 14.6. in Belo Horizonte demonstrierten jeweils mehrere Hundert Menschen, bis die Polizei auf rabiate Weise eingriff. Im Fortaleza blieb die Randale aus, aber auch dort wurden einige Protestler*innen festgenommen.
Karinny de Magalhães, eine Journalistin des Medienkollektiv Mídia Ninja, die am Eröffnungstag in Belo Horizonte festgenommen und erst am Samstag früh freigelassen wurde, beschuldigte die Polizei zahlreicher Misshandlungen. Sie sei von den Beamten geschlagen und angespuckt worden. Als sie das Passwort des Smartphones, mit dem sie bis zu ihrer Festnahme die Demonstration filmte und live übertrug, nicht sagen konnte, wurde sie von fünf Polizisten gefoltert.
Konflikte innerhalb der Protestbewegung
Derweil ist innerhalb der einst breiten Protestbewegung ein Streit über das Linkssein entbrannt. Vor allem einige Vertreter*innen der klassischen sozialen Bewegungen und gemäßigte Kritiker*innen der Politik der regierenden Arbeiterpartei PT werfen den Radikaleren auf der Straße blinden Extremismus vor. Sie distanzieren sich von denen, die den Demo-Spruch „Es wird keine WM geben“ in die Tat umsetzen wollen. Den Anfang machte die linke Wochenzeitung „Brasil de Fato“, die in zwei Editorials forderte, die Protestbewegung müsse trotz aller berechtigter Kritik auch die sozialen Errungenschaften der Regierung Rousseff anerkennen. Eine Zuspitzung des Protests gegen die WM dürfe ihr nicht in den Rücken fallen, da dies der Rechten und ihrer Rückkehr an die Macht in die Hände spiele.
Viele Aktivist*innen beharren darauf, dass die Missstände benannt und bekämpft werden müssen. Es sei falsch, sich nach wahltaktischen Überlegungen zu richten. Den internen Kritiker*innen werfen sie Nähe zur PT vor und fragen, was an der Regierung Rousseff noch links sei. Die Rechte jedenfalls freut sich: Die Kritik von links hat den Weg bereitet. Und plötzlich sieht es so aus, als ob Rousseff nur noch von rechts öffentlich angegriffen wird. Eine Demontage mit Blick auf die Wahl im Oktober.
Ruhe auf den Straßen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar