Von Andreas Behn
(Rio de Janeiro, 15. März 2016, npl).- Früh am Morgen rückte die Polizei in der Vila Autodromo an. Mit einem Schaufelbagger und schwerem Räumgerät wurde das Haus von Maria da Penha eingerissen. Seit 23 Jahren lebt sie in der Gemeinde und wollte nicht weichen. Direkt daneben entsteht der Olympiapark, in dem im August dieses Jahres eine ganze Reihe von Wettbewerben stattfinden werden. Wo ihr Haus stand, soll eine Zufahrtsstraße gebaut werden. Jetzt steht Maria da Penha vor einem Trümmerhaufen. „All meine Habseligkeiten liegen noch auf der Straße. Ab jetzt werde ich in der Kirche wohnen, bis die Stadtverwaltung entscheidet, was mit mir passieren soll“, sagte Maria da Penha unmittelbar nach der Räumung. Sie resümiert fassungslos: „So sind die Dinge in unserem Land: Aufgrund dieser Sportveranstaltungen bin ich jetzt auf der Straße.“
Anlässlich des Frauentages wurde Maria da Penha im Stadtparlament ausgezeichnet. Wegen ihrer Zivilcourage und ihres Einsatzes für Bürgerrechte. Stunden vor der Ehrung wurde die Räumung gestartet. Dass sie ausgerechnet am 8. März obdachlos wurde, erbost Maria da Penha besonders: „Es ist traurig zu sehen, wenn das eigene Haus auf diese Art und Weise eingerissen wird. Und das am 8. März!“
Erst geräumt, dann ausgezeichnet
Die Vila Autodromo ist ein Zentrum des Widerstands gegen die Begleiterscheinungen der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Die Favela liegt mitten im edlen Stadtteil Barra am Ufer einer Lagune. Schon lange vor Fußball-Weltmeisterschaft und Olympia bekundeten Immobilienfirmen ihr Interesse an den Filet-Grundstücken. Mittlerweile sind fast alle Häuser abgerissen. Nur noch wenige Familien der einst 700 Familien harren auf dem Terrain aus, eingepfercht zwischen einer Schnellstraße und einem Bauzaun.
Einer, der noch Widerstand leistet, ist Márcio Enrique: „Mein Neugeborener ist gerade mal 30 Tage alt, und ich habe gegen die Bauarbeiten
geklagt, denn mein ganzes Haus wackelt, wenn sie mit schwerem Gerät hier vorbeifahren und rund herum Gebäude abreißen.“ Er ist verbittert, wenn er an die bevorstehenden Olympischen Spiele denkt. Márcio weiß, dass er schon jetzt zu den Verlierern gehört. Aufgrund der Vorgänge rund um sein Zuhause habe er keinerlei Erwartungen an die Olympischen Spiele. „Wie auch, wenn ich just wegen der Olympiade Gefahr laufe, mein Haus zu verlieren. Wenn ich deswegen krank geworden bin und mein Baby unter den Bauarbeiten leidet.“
Für die Stadtverwaltung ist die Räumung der Vila Autodromo als Teil des Olympiaprojekts unumgänglich. Es habe nicht an Dialog gemangelt, betont Bürgermeister Eduardo Paes. Zudem sei den Betroffenen großzügige Entschädigung oder Ersatzwohnungen in viel besserem Zustand angeboten worden.
Doch die Bewohner*innen und ihre Unterstützer*innen beharren darauf, dass die Räumung weder notwendig noch legal ist. Anfang der 90-er Jahre hatte die Stadtverwaltung den Menschen in der Favela Besitztitel für die kommenden 99 Jahre erteilt. Außerdem legte die Gemeinde mehrere alternative Bebauungspläne vor, die allesamt von der jetzigen Stadtregierung abgelehnt wurden.
Komitee: Rechte der Bewohner*innen werden verletzt
Für Orlando Junior vom Volkskomitee WM und Olympia geht es bei dem Konflikt um die Menschenrechte. „Die Vila Autodromo ist Symbol für die Verletzung von Rechten. Hier werden die sozialen, die urbanen Rechte der Bewohner ununterbrochen verletzt“, erklärt Orlando. Das beginne schon mit der herablassenden Art und Weise, in der die Stadtverwaltung mit den Bewohner*innen kommuniziert. Das Volkskomitee WM und Olympia kalkuliert, dass bereits 4.100 Familien aufgrund der Bauprojekte für die Olympischen Spiele vertrieben wurden. Weitere 2.000 Familien sind heute noch von Räumung bedroht.
Wenn Anfang August die ersten olympischen Wettbewerbe in alle Welt übertragen werden, wird von der Vila Autodromo kaum noch die Rede sein. Es wird ein großes Sportfest werden, wie Bürgermeister Paes enthusiastisch verspricht. Viele Menschen in Rio werden mitfeiern. Aber viele werden auch fragen, warum für Olympia eine gerechte Stadtentwicklung auf der Strecke bleiben musste. So wie Lúcia, eine Aktivistin der katholischen Kirchengemeinde das Stadtteils: „Wir, die wir die Stadt Tag für Tag nutzen, leiden unter den Umständen. Nicht nur in Bezug auf das Wohnen, sondern auch in Bezug auf die Transportmittel, die ausschließlich der Olympiade dienen sollen, während die Bewohner in ihrem Alltag im Stich gelassen werden“, kritisiert Lúcia.
Dieser Artikel ist Teil unseres Fokus Menschenrechte 2016. Den dazugehörigen onda-Audiobeitrag könnt ihr hier hören.
Olympische Spiele in Rio: Mehr Sport, weniger Rechte von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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