(São Leopoldo, 16. Januar 2018, ihu-unisinos).- Die Anthropologin Lucia Helena Rangel, die auch als Beraterin des Indigenenmissionsrates CIMI (Conselho Indigenista Missionário) tätig ist, spricht in einem Interview über die weit überdurchschnittliche Selbsttötungsrate brasilianischer Indigener. In den vergangenen 16 Jahren wurden in den indigenen Gemeinden Brasiliens 782 Suizide verzeichnet. Die Dunkelziffer dürfte höher sein.
Warum ist in Brasilien in den vergangenen Jahren die Zahl der Selbsttötungen Indigener gestiegen, auch in Gegenden, in denen es früher relativ wenige Suizide gab?
Lucia Helena Rangel: In dem CIMI-Jahresbericht über die Gewalt gegen indigene Völker haben wir über die Jahre sehr genau die Entwicklung der Zahlen verfolgt. Bereits in den 1970-er und in den 1980-er Jahren gab es eine sehr hohe Zahl an Selbsttötungen unter den Guarani-Kaiowá. Im Bundesstaat Mato Grosso do Sul hat sich hieran im Verlauf von 40 Jahren nichts geändert. Die Guarani-Kaiowá sind nach wie vor extremer Gewalt, Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt. Dem Volk fehlt Land, die Indigenen unterschiedlicher Herkunft müssen auf extrem kleinen Flächen leben, die ihnen die Indigenenbehörde FUNAI zugewiesen hat. Das hat zu sozialem Druck geführt, aber auch zu politischen Spannungen innerhalb der indigenen Gemeinschaften.
Von den 782 Indigenen, die sich in Brasilien von 2000 bis 2016 selbst töteten, waren die meisten 15 bis 49 Jahre alt. Glaubte man in der Vergangenheit, Suizide seien vor allem unter den Guarani-Kaiowá verbreitet, so gibt es inzwischen auch zahlreiche Fälle in den Bundesstaaten Amazonas und Roraima.
Im Bundesstaat Amazonas war die Situation früher eine andere?
Was Amazonas betrifft, so wissen wir nicht, ob es früher kaum Selbsttötungen gab, oder ob die Fälle nur nicht registriert wurden. Es gibt übrigens eine interessante Ähnlichkeit zwischen der Region Alto Solimões im Bundesstaat Amazonas und Mato Grosso do Sul. Es handelt sich um Grenzgebiete. Alto Solimões grenzt an Kolumbien, Mato Grosso do Sul an Paraguay. In den Grenzgebieten blühen der Drogenhandel und der Schmuggel. Beide Regionen sind Eingangs- und Ausgangstür für alle möglichen illegalen Aktivitäten.
Und es gibt noch eine wichtige Gemeinsamkeit: Der brasilianische Staat versucht, aus allen Indigenen Nicht-Indigene zu machen. Alle Handlungen des Staates zielen darauf ab, nicht die indigenen Gemeinden zu respektieren, sondern ihnen jene Wünsche und Erwartungshaltungen aufzuzwingen, die in Brasiliens Gesellschaft vorherrschen. Diesem Ziel dient auch die brasilianische Indigenenpolitik. Es gibt keinen Schutz indigenen Landes, stattdessen wird dem Vandalismus kein Einhalt geboten, etwa im Fall des illegalen Holzeinschlags. Im Unterschied zu Mato Grosso do Sul ist indigenes Land in Alto Solimões demarkiert. Es fehlt also nicht an Land, und dennoch nehmen sich Indigene das Leben.
Sind die Veränderungen im Leben der indigenen Gemeinden und die Perspektivlosigkeit Gründe für die hohe Zahl an Suiziden?
Viele Expert*innen sind sich darin einig, dass der Suizid ein komplexes Phänomen mit zahlreichen Facetten ist. Für eine Analyse reicht eine Ursache nicht. Es gibt die individuelle Ebene, den sozialen Kontext und außerdem den Aspekt des „altruistischen Suizids“, wie ihn der französische Soziologe Émile Durkheim nannte. Ein Individuum stirbt, um die anderen zu retten, etwa ein Soldat im Krieg.
Ist die starke Zunahme an Suiziden unter Indigenen ein brasilianisches Phänomen?
Ich kenne keine Daten hierzu, aber ich denke, dass andere Länder Lateinamerikas es mit der gleichen Realität zu tun haben, vielleicht nicht so intensiv wie in Brasilien. Zu beachten ist auch, dass Indigene in anderen lateinamerikanischen Ländern über eine andere Präsenz verfügen. Bolivien zum Beispiel hat eine mehrheitlich indigene Bevölkerung. Und mit Evo Morales einen indigenen Präsidenten, ohne dass dies bedeuten würde, dass der bolivianische Staat alle indigenen Rechte respektiert. In Mexiko haben die indigenen Völker auch mit Problemen zu kämpfen, aber ihre politische Präsenz ist eine andere als in Brasilien.
Wie reagiert der brasilianische Staat auf den Anstieg der Suizide unter Indigenen, gibt es Untersuchungen der Fälle?
Gibt es eine Suizid-Prävention? Wahrscheinlich nicht. Einige Arbeiten zu der Thematik empfehlen, nichts in Reichweite einer suizidgefährdeten Person liegen zu lassen, mit dem eine Selbsttötung begangen werden könnte: Messer, Stricke oder Gift. Experten raten dazu, jeden Fall individuell anzugehen. Auf diese Weise ließen sich Menschen davon überzeugen, dass das Leben lebenswert sei. Was aber soll man machen, wenn sich in Mato Grosso do Sul junge Indigene mit Schnürsenkeln erhängen? Ich meine, dass es nicht darum gehen kann, eine präventive Medizin zu finden. Sondern der Staat muss eine vorsorgende Politik betreiben, die Leben und Kultur der indigenen Völker achtet. Das aber tut der brasilianische Staat nicht. Stattdessen versucht er, alle Bürger*innen gleich zu machen.
Interview: überdurchschnittlich hohe Suizidrate brasilianischer Indigener von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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