Von Nils Brock
(Berlin, 02. Januar 2018, npl).- „Ich will ins Netz, eine Debatte lostreten und die Welt zusammenbringen”, sang Gilberto Gil bereits im Jahr 2009. Der brasilianische Musiker und Politiker ist bekannter Förderer von freier Kultur, Software und Kommunikation. Bereits in den 90ern war er mit Live-Streams im Internet zu hören, wobei die Nutzer*innenzahl in Brasilien und der Welt damals noch recht überschaubar war. Als Kulturminister unter der ersten Präsidentschaft von Lula da Silva, setzte sich Gil dafür ein, den Zugang zum Internet in seinem Land zu verbessern. 2010, zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt, kam sie dann: die Verstaatlichung des Glasfasernetzes und vier Jahre später der Internet-Grundrechtskatalog.
Auf diese Weise stellte Brasilien viel früher als Deutschland die Weichen, um ein Grundrecht auf schnelles Internet auf den Weg zu bringen. Während hierzulande ein Rechtsanspruch auf ein High Speed Datennetz erst ab 2025 angestrebt wird, haben auch andere Länder längst Fakten geschaffen. Nicht nur digitale Streber wie Finnland und Estland, nein auch die Philippinen und eben Brasilien haben sich sich bereits vor Jahren per Gesetz zum Internet für alle verpflichtet. Zumindest auf dem Papier. „Der brasilianische Internet-Grundrechtskatalog wurde als Vorbild für die ganze Welt begrüßt“, feierte die brasilianische Ex-Präsidentin Dilma Rousseff 2014 die von ihr unterzeichnete Initiative. „Er ist ein wichtiges Instrument, um die globale Vernetzung zu verbessern und zu demokratisieren. Um Konsens zu schaffen und das Internet immer offener zu gestalten: Zugänglich, demokratisch und transparent für alle.“
Grundproblem Netzausbau
Doch auch wenn beim Datenschutz und anderen Nutzungsbedingungen viel erreicht wurde, ein Grundproblem bleibt: Um auch den hintersten Winkel des Regenwalds zu vernetzen, braucht es viele Tausend Kilometer Glasfaserkabel, unzählige Funk-Antennen – und das nötige Kleingeld. So hat noch immer ein Drittel der mehr als 200 Millionen Brasilianer*innen keinen Netzzugang. Vor allem auf dem Land und in zersiedelten Regionen bleibt schnelles Internet schlicht Zukunftsmusik.
„Technologie muss der gesamten Gesellschaft dienen“, forderte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg vor vier Jarhen bei einem Auftritt in Indien. Statt nur für Reiche und Mächtige erhältlich zu sein, müsse das Internet Perspektiven für alle schaffen. Und vor einem Begeisterten Publikum rief er Konnektivität als Menschenrecht aus. Keine ganz uneigennützige Idee. Von einem besseren Zugang verspricht sich das Unternehmen Hunderte Millionen neuer Nutzer*innen – besonders im globalen Süden. In Lateinamerika bietet Zuckerbergs Initiative Internet.org in Kooperation mit kommerziellen Mobilfunkanbietern inzwischen in über 20 Ländern kostenfreien Zugang zu eigenen Inhalten und einem guten Dutzend weiterer Services, darunter der Sportsender ESPN, Online-Wörterbücher und Wikipedia. Wer mehr will, muss zahlen.
Facebook allein ist auch keine Lösung
Bisher funktioniere Internet.org nicht sonderlich gut, findet der brasilianische Medienentwickler Bruno Viana. Die Initiative sei nur mäßig erfolgreich, „weil es die Nutzer in der Auswahl ihrer Inhalte extrem einschränkt. Und wenn es nur noch um Facebook geht, dann verliert die ganze Idee des Internets ihren Sinn.“ Für Viana bedeutet jede Initiative, die die Netzneutralität verletzt, einen Angriff auf die demokratische Infrastruktur des Internets. „Denn die Protokolle, mit denen im Netz kommuniziert wird, sind darauf ausgelegt, dass alle gleich behandelt werden, egal ob beim Publizieren auf einer Website oder beim Schreiben von E-Mails“.
In Brasilien operiert Internet.org bisher nicht. Ein Grund ist die im Internet-Grundrechtskatalog verbriefte Netzneutralität. Soll heißen: alle Daten müssen bei der Übertragung gleich behandelt werden- genau das ist aber mit dem kostenlosen Facebook-Filternetz nicht gewährleistet. Zudem gibt seit 2003 bereits eine staatliche Initiative, die den Internetzugang auch in die entlegenen Regionen im Amazonas und dem Sertão ermöglichen soll. Per Satellit erhielten tausende öffentliche Einrichtungen, Kulturhäuser und Schulen kostenlosen Zugang zum World Wide Web. Noch vor dem parlamentarischen Putsch Ende August 2016 gegen die damals regierende Arbeiterpartei, begann das Programm jedoch zu schwächeln. Es fehlte an Schulungen vor Ort und Hilfe bei der Wartung der Parabolantennen und Computer. Auch an der Bandbreite wurde zunehmend gespart – und das freie Netz somit immer langsamer.
Internet für alle – öffentlich-private Kooperation mit Gewinnabsichten
Seitdem in Brasilien nun eine rechte Regierung das Sagen hat, sind staatliche Sozialprogramme flächendeckend eingestampft worden. Stattdessen rief das frisch fusionierte Ministerium für Wissenschaft, Technologie, Innovationen und Kommunikation prompt das nächste satellitengestützte Projekt aus: Internet para todos, also Internet für alle. Minister Gilberto Kassab versprach, dass auf diese Weise die soziale Inklusion durch das Internet in alle Ecken Brasilien getragen wird und natürlich vor allem dort hin, wo noch niemand einen Anschluss hat.
Also alles beim Alten und nur ein neues Label? Nicht ganz, denn statt wie zuvor staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen direkten Zugang zu gewähren, ist Internet para Todos dezidiert ein Angebot für kommerzielle Provider; der Versuch den vorherigen digitalen Staatsauftrag eines Grundrechts auf Internet künftig als öffentlich-private Partnerschaft zu organisieren. „Es handelt sich vor allem um einen Service für Unternehmen“, analysiert Viana: „Sie treten als Provider auf und verkaufen auf dem Land den Zugang zum Netz.“ Statt wie zuvor unter Rousseff die kostenlose Nutzung durch Stadtteilorganisationen oder Schulen zu ermöglichen, begreife die Regierung Temer das Internet als eine kommerzielle Dienstleistung.
Mitsprache statt Konnektivität von Oben
Noch ganz andere Einwände gegen eine Vernetzung von Oben hörte im vergangenen Jahr die mexikanische Medienaktivistin Loreto Bravo, als sie ländliche Gemeinden in Brasilien besuchte. Ihr Fazit: Die Bedürfnisse vor Ort werden schlicht ignoriert. „Zugang zum Internet haben zu wollen oder nicht, ist eher eine Frage, die die Menschen und die Bevölkerung beantworten muss. Sie haben das Recht zu entscheiden“, findet Bravo. Damit spricht sie Debatten an, die in vielen Offline-Gemeinden stattfinden: Was kann uns das Internet bringen und was macht es möglicherweise kaputt? Wie lässt sich Digitalisierung mitgestalten, anstatt das bestehende Sozialleben einfach in Instagram outzusourcen.
Dem Begriff der Konnektivität fehle die kritische Distanz sagt Bravo. Sich zu vernetzen, könne doch nicht einfach so verordnet werden. „Jeder und jede sollte frei entscheiden können, ob er oder sie Internet in der angebotenen Form überhaupt haben will“, argumentiert Bravo weiter. Es gäbe inzwischen viele Organisationen und Gemeinden, die lieber ihre eigenen Plattformen etablieren würden „und nicht an ein Netz angeschlossen werden wollen, das von kommerziellen Telekommunikations-Anbietern und digitalen Unternehmen zur Verfügung gestellt wird“.
Coolab – partizipatives Networking von Unten
So sieht es auch Bruno Viana, der vor einem Jahr die basisnahe Netz-Initiative Coolab ins Leben gerufen hat. Die Idee ist im Gegensatz zu Internet.org oder Google ein Ansatz von Unten. „Im Vergleich zur technologischen Agrarindustrie sind wir sozusagen die Kleinbauern. Und wie unsere Kollegen aus der Landwirtschaft, schaffen auch wir mehr Jobs und eine viel reichhaltigere lokale Kultur als die große Industrie mit ihren Fertigprodukten“, beschreibt Viana den Ansatz von Coolab. „Internet ist für uns etwas, das die Gemeinden selbst organisieren sollten.“
Hört sich erst mal kompliziert an, ist es aber nicht. Mit Funkantennen und ein paar handelsüblichen Wifi-Routern lässt sich ein Internetzugang von vielen Haushalten gemeinsam nutzen. Zugleich wird ein lokales Netzwerk mit eigenem Server geschaffen. So lassen sich digitale Inhalte auch untereinander einfach austauschen. In einem halben Dutzend Gemeinden haben die Mitwirkenden von Coolab bereits Menschen fortgebildet und gemeinsam eine passgenaue Infrastruktur aufgebaut.
„Die Gemeindemitglieder entscheiden dann darüber, was der Betrieb des Services kostet, welche Inhalte Priorität haben und gestalten alles mit“, sagt Viana. Das sei zwar nicht umsonst: WiFi-Antennen und weiteres Equipment müssten schon bezahlt werden. „Aber wir verfolgen keine Gewinnabsichten.“
Noch ist die Zahl selbstorganisierter digitaler Netze in Brasilien überschaubar. Aber geht es nach der Medienaktivistin Loreto Bravo, dann wird sich das bald ändern. Denn für sie ist längst klar, dass das Internet in seiner heutigen Form keine Zukunft hat. „Ich denke, die Zukunft liegt in unseren eigenen digitalen Netzen, in denen gewinnorientierte Unternehmen und ihre politischen Interessen keinen Platz mehr haben“, resümiert Bravo. Ihr Mitstreiter Viana ist da etwas vorsichtiger. Statt vom Ende des Internets zu sprechen, ermuntert er eher zu einer kritischen Internetnutzung und zum Mut sich anders zu vernetzten – und zwar nicht nur in Brasilien. „Wenn schon social media, warum sollen die Daten, die ich darin teile, nicht zu Hause auf meinem Rechner liegen?“, fragt er. „Wir könnten mit unseren Routern zu Hause eigene kleine Netze bilden. Und es gibt genug Initiativen, die dabei helfen können, ein weniger zentralisiertes Internet zu schaffen“.
Das Audio zu diesem Text findet ihr hier.
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