„Eine Reduzierung des Militärbudgets hat bisher niemand angesprochen“

von Nils Brock

(Berlin, 07. Juli 2013, npl).- Wer in Chile einen guten Schulabschluss machen will, sollte nicht nur was im Köpfchen sondern auch im Geldbeutel haben. Auch an öffentlichen Hochschulen muss gezahlt werden. Für eine kostenfreie Bildung sei kein Geld da, argumentiert die Regierung. Dass Chile jährlich mehr als sieben Milliarden Euro für seine Streitkräfte ausgibt, wird hingegen kaum kritisiert. Interview mit der Historikerin und Militärexpertin Verónica Valdivia Ortíz de Zárate (Universität Diego Portales, Santiago de Chil)

Nach Ansicht der Historikerin gibt es viele weitere gute Gründe, warum sich die aktuelle Bildungsdebatte in Chile auch der gesellschaftlichen Rolle des Militärs stärker annehmen sollte.

Es ist bekannt, dass die chilenische Politik während der Diktatur (1973-1990) einer militärischen Logik folgte. Wie groß ist der Einfluss der Streitkräfte heute, nach mehr als zwei Jahrzehnten zivilen Regierens?

Verónica Valdivia Ortíz de Zárate: Die Militärs hatten auch in den 1990er Jahren noch eine ungeheure Machtfülle und sind bis heute ein gewichtiger Akteur. Die politische Stärke der Streitkräfte entspringt ihren institutionellen Beziehungen, vor allem den engen Kontakten mit rechten Parteien.

Für seinen Fortbestand ist das Militär zugleich ständig auf Nachwuchs angewiesen, Eine allgemeine Wehrpflicht gibt es in Chile jedoch nicht mehr, oder?

Nach der Rückkehr zur Demokratie gab es zahlreiche Versuche die Wehrpflicht flexibler zu gestalten, die während der Militärdiktatur auf zwei Jahre erweitert worden war. Der Dienst an der Waffe war geprägt von Nötigungen. Die Jugendlichen wurden gezwungen, an repressiven Aktionen teilzunehmen.

Nach dem Regimewechsel, unter Führung des Mitte-Links-Bündnis der Concertación wurde dann versucht, den Wehrdienst von diesen Charakteristiken zu befreien. Er sollte freiwillig sein. Das wurde nicht ganz erreicht. Heute werden aber zunächst nur Freiwillige rekrutiert und nur wenn so die jährliche Quote nicht erfüllt wird, werden weitere Jugendliche eingezogen.

Wie bringt man Menschen freiwillig dazu, sich eine Uniform anzuziehen? In Deutschland gab es kürzlich eine Debatte über Vorträge der Bundeswehr an Schulen.

Zumindest an den Schulen wird nicht rekrutiert. Dafür gibt ein Marketingprogramm, in dem die Vorzüge des Wehrdiensts beschrieben werden. Das Militär schaltet jedes Jahr Propaganda und Werbung im Fernsehen, wenn neue Rekruten gesucht werden. So können Jugendliche während dieser Zeit einen Beruf erlernen oder bekommen Zugang zu Bausparprogrammen. Wahrgenommen wird dieses Angebot meist von armen Jugendlichen, die nicht die Mittel haben, um sich höhere Bildung zu leisten, keinen Job finden oder keine eigene Wohnung haben.

Beinhaltet das Bildungsangebot für Wehrdienstleistende auch universitäre Studiengänge an Militärakademien oder Stipendien für zivile Hochschulen?

Nein, das Militär bietet nur eine rudimentäre Ausbildung während des Wehrdiensts an, als Kraftfahrzeugfahrer, Mechaniker, Maurer. Die Rekruten haben zum größten Teil die Oberstufe an öffentlichen Schulen abgeschlossen. Die sind jedoch so schlecht, dass viele Abgehenden nicht für einen regulären Ausbildungsplatz qualifiziert sind. Zum Militär zu gehen ist ein letzter Ausweg, um eine Lehre zu machen. Umstritten ist bis heute, inwiefern diese Abschlüsse auch im zivilen Leben anerkannt werden sollten.

Vor dem Militärputsch soll es innerhalb der Streitkräfte auch einen linken Flügel gegeben haben, der dafür einstand, die sozialen Ungleichheiten im Land zu bekämpfen. Heute fangen die Streitkräfte zumindest einen Teil derer auf, die auf dem zivilen Markt nicht „verwertbar“ sind. Ist das nun Teil des neoliberalen Programms oder eher ein Korrektiv?

Es ist schwer zu wissen, was intern bei den Streitkräften abläuft, da sie äußerst hermetisch organisiert sind. Es sind jedoch bis 1980 kritische Strömungen innerhalb der Streitkräfte dokumentiert. Aber diese lassen sich nur schwerlich als links bezeichnen, eher als eine Verpflichtung zur Armutsbekämpfung und Wohnungsbeschaffung, die zugleich antikommunistisch ausgerichtet war.

Im Grunde eine sozialdemokratische Position, die sich gegen die neoliberale Doktrin behauptete. Ihre Sorge um die Armen begreifen die Militärs bis heute als Position der politischen Mitte. Darüber hinaus von rechten, christdemokratischen oder sozialistischen Strömungen zu sprechen, ist schwierig. Mein Eindruck ist eher, dass der Großteil der Streitkräfte sich mit der Rechten identifiziert, auch wenn ich das nicht belegen kann.

Die Militärausgaben sind, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, in Chile fast doppelt so hoch wie in Deutschland. 2011 hatte chilenische Regierung angekündigt, die Kosten zu senken. Ist in dieser Hinsicht etwas passiert?

Nein, es ist ein hartes Ringen. Eine Begründung des Militärputschs war ja unter anderem die Unterfinanzierung der Streitkräfte, weil zivile Regierungen davon nichts verstünden. Deshalb wurde während der Diktatur ein fixer Prozentsatz der Kupfereinnahmen für die Finanzierung des Militärs festgelegt.

Die Concertación versuchte während ihrer Regierungszeit (1990-2010), diesen Betrag zu deckeln. Aber sie haben das letztendlich nicht geschafft. Seit 2011 konzentriert die politische Debatte in Chile nun auf die Bildungsreform. Das Thema des hohen Militärbudgets wurde nicht systematisch weiterverfolgt.

Warum hat die Studierendenbewegung nie vorgeschlagen, das hohe Militärbudget für gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben umzuverteilen?

Der Fokus der Studierenden ist eher auf einen qualitativen Wandel der Bildung gerichtet, der durch eine groß angelegte Steuerreform finanziert werden soll. Einige radikalere Stimmen haben auch Verstaatlichungen von Unternehmen gefordert, die natürliche Ressourcen ausbeuten, aber eine Reduzierung des Militärbudgets hat bisher niemand direkt angesprochen. Diese Verbindung wird nicht gezogen, Statt eine Umverteilung zu diskutieren, geht es den Studierenden auch eher darum, Bildung zunächst als soziales Recht zu reetablieren und nicht als käufliche Ware.

In Deutschland wurde im vergangenen Jahr der Einsatz der Bundeswehr im Inland im Ausnahmefall zugelassen. Wie ist das in Chile? Hat die chilenische Polizei, auch in Hinblick auf die Großdemonstrationen für Bildungsreformen, die Möglichkeit militärische Unterstützung anzufordern?

Nein, die Polizei kann nicht einfach Unterstützung bei den Streitkräften anfordern. Das kann nur die Regierung anordnen. Während der Diktatur wurden die Konzepte der inneren Sicherheit und der externen Verteidigung bekanntermaßen zusammengeführt und die Streitkräfte nahmen Aufgaben in beiden Bereichen wahr.

Deshalb konnten sie ohne Weiteres bei Streiks, Demonstrationen oder sozialen Protesten intervenieren. Erst während der Amtszeit des Oberbefehlshabers Juan Emilio Cheyre von 2002 bis 2006, wurde diese Trennung dann wieder eingeführt.

Im letzten Jahr dieser Regierung machte jedoch eine Entscheidung von Andrés Alemán, heute Präsidentschaftskandidat der Rechten und damals Verteidigungsminister, Schlagzeilen, als er erneut die Konzepte Sicherheit und Verteidigung zusammenlegte. Seitdem sind theoretisch erneut Einsätze des Militärs im Inneren möglich, auch wenn davon bisher kein Gebrauch gemacht wurde. Bei allen Demonstrationen kamen jeweils nur Polizisten zum Einsatz. Die einzige Ausnahme bildete der Einsatz der Streitkräfte nach dem Erdbeben 2010, um Plünderungen in Supermärkten zu verhindern. Die damalige Präsidentin Michelle Bachelet wurde seinerzeit gedrängt, im Süden des Landes den Notstand auszurufen. Das war nicht unumstritten; viele Politiker sind dagegen, dass sich ein solches Vorgehen wiederholt, denn es bedeutet einen Rückschritt in die Zeiten der Diktatur.

Das heißt, auch am äußeren rechten Rand des Parteienspektrums sind bisher keine Stimmen laut geworden, das Militär zur Repression der Studierendenbewegung einzusetzen?

Nein, soweit ist es noch nicht gekommen. das repressive Handlungspotential der Polizei durch Gesetzesänderungen zu erweitern. Sie wollen dafür das Konzept der Inneren Sicherheit und der Terrorbekämpfung ausdehnen. In der Folge wäre es möglich, Demonstrationen direkt als Angriff auf die innere Sicherheit oder terroristische Akte zu deklarieren und deshalb zivile Rechte einzuschränken, sowie höhere Haftstrafen zu verhängen, als sie im zivilen Strafgesetzbuch vorgesehen sind.

Nicht der Aktionsradius der Streitkräfte wird also erweitert, sondern die Gesetzeslage soll so umgestaltet werden, dass repressive Einsätze der Ordnungskräfte insgesamt erleichtert werden.

Bildung und Forschung ohne Militär, ist das eine Forderung, die Du unterstützt?

Ja natürlich. Wir müssen alle auf friedliche Beziehungen hinarbeiten, bei denen Konflikte diplomatisch gelöst werden. Davon abgesehen hat beispielsweise der Wehrdienst auch angesichts der aktuellen Kriegsführung keine Berechtigung mehr. In Chile wird er aber nicht nur als Maßnahme für die Verteidigung des Landes definiert, sondern auch als Instrument der staatsbürgerlichen Bildung. Ich bin demgegenüber für einen freiwilligen, zivilen Dienst. Wer sich für eine militärische Laufbahn entscheidet, darf dafür keine Vorzüge erhalten, denn auf diese Weise werden Jugendliche kooptiert und gekauft. Wer sich persönlich auf den Krieg vorbereiten will, bitte schön. Aber dafür sollte nicht länger im Rahmen einer öffentlichen Politik geworben werden.

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