Von Andreas Behn
(Rio de Janeiro, 7.Januar 2018, npl).- Vielen Flüchtenden gilt Brasilien wegen seiner Gastfreundschaft als ideales Fluchtland. Doch wer dort Asyl bekommt, ist oft mit vielerlei Vorurteilen konfrontiert. Derzeit sind es vor allem Menschen aus Venezuela, die die Grenze Richtung Brasilien überschreiten und – vorerst – bleiben wollen. Die Zahl der Asylanträge ist 2017 in die Höhe geschnellt. Und die neue, konservative Regierung setzt alles daran, künftig die Flucht in das Land zu erschweren.
Vor allem Migrantinnen und Migranten aus Afrika spüren, dass es in dem oft als multikulturell gepriesenen Brasilien tief verwurzelten Rassismus gibt. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen Flüchtlingen aus Afrika und beispielsweise aus Syrien oder anderen weißen Ländern. Wir Schwarzen sind mit heftigen Vorurteilen konfrontiert“, berichtet Guyllian Mukendi, der vor zehn Jahren aus dem Kongo nach Brasilien flüchtete. Inzwischen weiß er, dass sich in Brasilien der alltägliche Rassismus gegen alle richtet, die eine dunkle Hautfarbe haben. „Wenn du als Schwarzer hierher kommst, schauen die Leute dich nicht an, sie halten dich für gefährlich, für jemanden, der Böses tun will.“
Tief verwurzelter Rassismus
2017 war die Zahl der Asylanträge in Brasilien so hoch wie noch nie. Knapp 34.000 Gesuche gingen bei der zuständigen Behörde Conare ein. Gut die Hälfte davon kamen von Venezolaner*innen, die zumeist im nordbrasilianischen Bundesstaat Roraima die gemeinsame Grenze überquerten. Die meisten von ihnen gaben an, wegen der akuten Versorgungskrise in Venezuela zu migrieren und hoffen, in Brasilien vorübergehend Arbeit und ein besseres Auskommen zu finden. Doch der Amazonasstaat Roraima ist mit dem plötzlichen Ansturm völlig überfordert.
Viele provisorische Notunterkünfte sind überfüllt. Und obwohl Migrant*innen in Brasilien während ihres Asylverfahrens arbeiten dürfen, leben die meisten Ankommenden aus Venezuela unter prekären Umständen. Brasiliens konservative Regierung benutzt die Zufluchtsuchenden gerne als Beweis für die Misswirtschaft des linksnationalistischen Präsidenten Nicolás Maduro im ständig kritisierten Nachbarland.
Die meisten Menschen, die Richtung Brasilien migrieren, stammen aus lateinamerikanischen oder karibischen Ländern. Sie flüchten vor Konflikten oder Notlagen, die weniger Schlagzeilen machen als die Kriege in Nahost. Isabel Marquez, Repräsentantin des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge in Brasilien, benennt die Jugendbanden in Mittelamerika: „Die Krise in Mittelamerika hat sich deutlich verschlimmert. Die Zahl der Menschen, die aus Guatemala, Honduras oder El Salvador flüchten, ist in den letzten fünf Jahren sprunghaft angestiegen.“ Es seien inzwischen über 170.000 Zufluchtsuchende – zumeist Frauen und Kinder, die vor dem Treiben krimineller Banden flüchteten, sagt Marquez.
Viele der Migrant*innen aus der Region haben allerdings kaum Chancen, als Zufluchtsuchende anerkannt zu werden. Das betrifft auch die tausenden Arbeitssuchenden aus den Andenländern. Die offiziellen Statistiken zeigen deswegen ein unvollständiges Bild der Einwanderung. Die knapp 10.000 Migrant*innen, die nach den letzten offiziellen Angaben bis Ende 2016 als Flüchtlinge anerkannt wurden, stammen aus über 80 Ländern. Die meisten von ihnen aus Afrika und aus Nahost. Außerdem nahm Brasilien rund 2.000 Syrer*innen im Rahmen eines Sonderprogramms auf.
Erleichtertes Bleiberecht nur auf dem Papier
Seit November vergangenen Jahres haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für Migration allerdings verändert. Ein neues Migrationsgesetz trat in Kraft und löste die geltenden Richtlinien noch aus Zeiten der Militärdiktatur ab, die Migration nur aus dem Blickwinkel der nationalen Sicherheit betrachteten. Das neue Gesetz gilt als fortschrittlich, weil es den Familiennachzug erleichtert und die Erteilung von Visa und Bleiberecht aus humanitären Gründen vorsieht.
Doch die neue konservative Regierung unter Präsident Michel Temer verabschiedete gleichzeitig ein Dekret, mit dem nach Meinung von Menschenrechtler*innen wesentliche rechtliche Fortschritte des neuen Gesetzes in der Praxis wieder rückgängig gemacht werden. „Das neue Gesetz legt fest, dass es in Brasilien humanitäre Visa eingeführt werden. Aber in Temers Dekret wird die Umsetzung dieses Rechts auf die lange Bank geschoben,“ kritisiert Camila Asano von der Menschenrechtsorganisation Conectas. Deswegen sei diese Form von Bleiberecht nur schwer zu bekommen. Gerade im Fall der Venezolaner*innen, die derzeit die größte Gruppe von Migrant*innen sind, wäre dies wichtig, argumentiert Asano.
Menschen auf der Flucht werden kriminalisiert
Auch Festnahmen und Abschiebungen von Migrant*innen, die keine Papiere haben, werden durch dieses Dekret ermöglicht. Also genau das Gegenteil dessen, was die Mitte-links-Regierung der inzwischen abgesetzten Präsidentin Dilma Rousseff bezweckte, als sie das Gesetz auf den Weg brachte, meint Camila Asano: „Die Auffassung, dass Migranten aufgrund der Tatsache, dass sie flüchten mussten, festgenommen werden dürfen, ist eine völlig überholte Sichtweise. Sie definiert Migration als Frage der nationalen Sicherheit und nicht als Menschenrecht. Es ist die Vision derjenigen, die nicht verstehen, das Migration Teil der menschlichen Realität ist.“
Für den Migrationsexperten Paulo Illes hat das Ende November verabschiedete Dekret alle in der Migrationspolitik geplanten Fortschritte zunichte gemacht. Brasilien sei nun auf die repressive Linie der Industriestaaten eingeschwenkt: „Es soll so aussehen, als ob Brasilien die Zufluchtsuchenden aufnimmt. Aber in Wirklichkeit folgen wir jetzt der Logik, die in den USA oder in der Europäischen Union angewendet wird: Die Menschen, die auf der Flucht sind, werden kriminalisiert“, sagt Illes.
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Kriminalisierung von Flüchtenden statt fortschrittlicher Migrationspolitik von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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