Der Staat ist verantwortlich für die toten Migrant*innen

(Mexiko-Stadt, 30. März 2023, desinformémonos) Am späten Abend des 27. März sind bei einem Feuer in einer Haftanstalt 39 Migrant*innen aus Mittel- und Südamerika ums Leben gekommen, 30 wurden verletzt. Im Internet kursieren Videos, die zeigen, wie das Feuer ausbricht und die Wärter den Gefangenen nicht die Gittertüren öffnen. Mit der Zeit wird immer deutlicher, wer die Schuld trägt an der Tragödie. Es ist der mexikanische Staat. Es mag sein, dass es in den letzten Jahrzehnten schon bis zum völligen Überdruss wiederholt wurde, doch es muss einmal mehr gesagt werden: die Unterlassung von Hilfe, die kriminellen Machenschaften von Beamt*innen, die eigentlich für die Sicherheit der Migrant*innen zuständig sind und eine Politik, die sich nur auf Debatten beschränkt, haben zum Tod von Menschen geführt, deren einzige Schuld der Wunsch nach einem besseren Leben ist. Wir sollten nicht vergessen, dass der aktuellen Tragödie hunderte kleine Tragödien vorangegangen sind, bei denen weniger Menschen umgekommen sind, die aber unaufhörlich geschehen sind entlang der Fluchtrouten von Haiti, Venezuela, Kolumbien, Guatemala, El Salvador, Honduras, Mexiko und den USA. Aber auch im Mittelmeer, an den Küsten Australiens oder im Golf von Aden.

Es ist das Zusammenspiel mehrerer Entwicklungen, die die ohnehin schon schlimme Situation für Migrant*innen in Mexiko noch verschlechtert haben.

  1. Eine Sicherheitspolitik, die in den USA und Mexiko offensichtlich identisch ist und die nun auch einige zentralamerikanische Staaten durchdringt: das Fernhalten von Migrant:innen von den eigenen Grenzen. Wir erleben gerade die Vereinheitlichung einer kriminalisierenden Politik in einer ganzen Weltregion.
  2. Die Illegalisierung von migrantischen Kollektiven, die Strategien der Mobilität, des Selbstschutzes und der Selbstfürsorge verfolgen (darunter fallen auch die selbstorganisierten Karawanen der Migrant*innen)
  3. Die Isolierung der Geflüchteten sowohl an den südlichen als auch an den nördlichen Grenzen mit der lächerlichen Behauptung, dies diene zu ihrem eigenen Schutz.
  4. Ein Krisenmanagement an der nördlichen Grenze, das keine ausreichende Infrastruktur schafft und nur begrenzte Mittel sowie ungeschultes Personal zur Verfügung stellt. Die Verantwortung für Migrant*innen, die von den USA abgewiesenen wurden oder auf die Grenzüberquerung warten, wird hier nicht mit den Vereinigten Staaten geteilt, obwohl es sich um eine Herausforderung handelt, die zusammen angegangen werden muss.

 

Wir könnten hier noch unzählige weitere Manifestierungen aufführen einer Migrationspolitik, die seit Jahrzehnten gänzlich fehlt oder nicht funktioniert, weil sie völlig unzureichend ist und in der keine Reflexion darüber stattfindet, wie komplex das Thema eigentlich ist. Außerdem ignoriert diese Politik die Chancen, die sich ergeben, wenn der Umgang mit den Migrationsbewegungen auf Grundlage internationaler Standards, ethischen Grundsätzen und den Maßstäben der Agenda 2030 erfolgt.

In der derzeitigen Politik gibt es eine ganze Reihe Fehler und Versäumnisse unterschiedlichster Natur. Einige seien hier kurz erklärt:

  1. Die oberste Migrationsbehörde (Instituto Nacional de Migración, INM) ist weiterhin zuständig für die Migrant*innen, obwohl seit Jahren immer wieder auf die begrenzten Mittel der Behörde und die Verwicklung vieler Beamt*innen in das organisierte Verbrechen hingewiesen wird.
  2. Der Migrationsbehörde wurde die Nationalgarde (Guardia Nacional) zur Seite gestellt, um die Migrationsbewegungen aufzuhalten. Dies erfolgte auf Drängen der Trump-Regierung. Um die rechtlich fragwürdige Beeinflussung soll es hier aber gar nicht gehen, sondern darum, dass diese neu geschaffene Polizeieinheit die unsichere Lage für die Migrant*innen nur noch verschärft hat.
  3. Ebenso hat sich die Situation für Verteidiger*innen von Menschenrechten deutlich verschlechtert. Eine konsequente Antwort des Staates zu deren Schutz blieb aus.
  4. Die Menschenrechte der Geflüchteten zu verteidigen und immer wieder auf diese Rechte aufmerksam zu machen ist eine schwere Aufgabe, die immer mehr zivilgesellschaftlichen Organisationen übertragen wurde. Diese sagen aber schon seit Monaten, dass ihre Kapazitäten längst überschritten sind.

 

Eine weitere Verfehlung ist das enttäuschende und äußert peinliche Versprechen der mexikanischen Regierung, zentralamerikanische Länder zu unterstützen. Über das hier gemachte Angebot könnte man lachen, wenn es nicht so tragisch wäre: Baumpflanzprogramme wurden auf den Weg gebracht, während Zentralamerika eine Form der Unterstützung und Solidarität braucht, die in ihren ökonomischen Dimensionen denen eines Marshall-Plans entspricht. Denn die Probleme in Ländern wie Honduras, El Salvador oder Guatemala lassen sich nur mit Milliarden von US-Dollar jährlich über einen Zeitraum von mindestens zwei oder drei Jahrzehnten lösen. Mit anderen Worten: langfristige Pläne. Langfristigkeit ist allerdings etwas, für das es visionäre Politik braucht. Staatsmänner und -frauen mit solcher Weitsicht gibt es aber in Lateinamerika schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Jahr für Jahr kommen wir zum selben Ergebnis: es wird kritisiert, Schuldige werden gefunden und mitreißende Reden gegen die Verantwortlichen gehalten. Und da hört der Großteil der Empörung auch schon auf. Doch was wäre nötig? Handeln, ganz offensichtlich, und sich sozial zu organisieren sowie gewisse Grundvereinbarungen zu stärken. Jedoch wo anfangen? Stellen wir uns einmal vor, was die Dynamiken sozialer Organisation bewirken können:

  • Die Debatte über die mexikanische Migrationspolitik könnte internationalisiert werden. Die Zivilgesellschaften verschiedener Länder sollten u. a. das Europäische Parlament, die Vereinten Nationen und den Interamerikanischen Gerichtshof aufmerksam machen auf die Veränderungen, die andere Gruppen schon seit Jahren fordern. Ein nicht zu überhörender Aufruf an diese Organisationen, sich mit dem Thema zu befassen und dazu zu äußern sollte auch Druck auf den mexikanischen Staat ausüben, damit dieser die Kriminalisierung beendet.
  • Auch über die Verantwortung des mexikanischen Staates sollten internationale Instanzen ausführlich informiert werden. Der Internationale Gerichtshof sollte sich damit befassen.
  • Eine Agenda zu Migration und Entwicklung, die Unterstützung von den sozialen Organisationen findet, sollte erarbeitet und den Kandidat*innen der nächsten Präsidentschaftswahlen vorgelegt werden. Die bisherige Migrationspolitik in den kommenden Jahre weiter zu verfolgen, ohne dass soziale Organisationen Alternativen aufzeigen, erhöht das Risiko, dass sich Tragödien wie die in Juarez wiederholen.
  • Ein Plan zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft in Mesoamerika wäre eine Grundlage für Vereinbarungen, die auf den Erfahrungen von Verschwindenlassen, Missbrauch und Ausbeutung von Migrant*innen beruhen. Wir sollten nicht vergessen, dass Migration eine regionale Herausforderung und nicht alleinige Verantwortung Mexikos ist. Einem globalen Phänomen kann nur begegnet werden, indem die Migrationsagenda mit den Mitteln der Zivilgesellschaft internationalisiert wird.

 

Neue, wertvolle Initiativen werden auf dieser Grundlage entstehen können. Was wir nicht mehr brauchen sind Analysen der Ursachen. Wir kennen die Krankheit und den Patienten bereits. Wir sollten dazu übergehen, uns sozial, kollektiv und solidarisch informieren, informiert zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur für das Wohlergehen unserer Brüder und Schwestern in der Migration, sondern auch für die Rettung der schwächelnden Demokratie in Mexiko und Zentralamerika.

Text: Dr. Javier Urbano Reyes, Professor für Internationale Studien und für Migrationsforschung an der Iberoamerikanischen Universität Mexiko-Stadt 

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