Das Jahrhundert des Exodus

(Madrid, 25. März 2024, Radio Progreso).- Der mexikanische Autor José Vasconcelos verbrachte seine Kindheit in Piedras Negras, Coahuila, wo sein Vater als Zollbeamter arbeitete. Um zur Schule zu gehen, überquerte er jeden Tag die Grenze nach Eagle Pass, Texas. In seinen Memoiren Ulises Criollo erinnert Vasconcelos sich an dieses Leben in zwei Städten und zwei Kulturen, ungestört und ungehindert.

Orson Welles‘ Film Im Zeichen des Bösen aus dem Jahr 1958 spielt im Grenzmilieu der fiktiven Stadt Los Robles, die der realen Grenzstadt Tijuana nachempfunden ist. In Los Robles jedoch wird der Übergang von Mexiko in die Vereinigten Staaten von einem freundlichen Polizisten geregelt, der Ausweispapiere kontrolliert und dabei mit Fußgängern und Autofahrern scherzt.

Vorbei sind die Zeiten, die heute wirken, als habe es sie nie gegeben. Blickt man von El Paso in Texas Richtung Ciudad Juárez, sieht man die Grenzmauer aufragen: eine meterhohe, feindselig wirkenden Stahlkonstruktion, die die beiden Gebiete voneinander trennt. Hunde, die darauf trainiert sind, Armut zu wittern, sollen die Menschen vom illegalen Grenzübertritt abhalten; auf dem Rio Grande wurde zusätzlich eine Barriere aus schwimmenden Bojen verlegt. Wäre es nach Donald Trump gegangen, würde sich die Stahlkonstruktion mit ihrer uneinnehmbaren Betonoberfläche, Elektrozäunen, Drohnen, Infrarotdetektoren und Nachtsichtgeräten über die gesamten 3.169 Kilometer der Grenze zwischen USA und Mexiko entlangstrecken und weit bis ins Meer hineinreichen.

Entführung als Geschäftsmodell

Das Wort für den Hass auf die Armen ist Aporophobie. Nach Ansicht der Philosophin Adela Cortina richtet sich der Hass nicht gegen Migrant*innen als solche, sondern gegen ihre Armut. In seinem Diskurs hat Donald Trump bewusst die Angst vor denen geschürt, die nichts haben, indem das Fremde gleichgesetzt wird mit abscheulichen Verbrechen wie Vergewaltigung, Raub und Drogenhandel.

Armut, tiefe soziale Ungleichheit, wirtschaftliche Entbehrungen und repressive Regime in den Herkunftsländern sind jedoch genauso tödlich wie Naturkatastrophen, Wirbelstürme, Erdbeben und Dürre und treiben Menschen ins Exil. Wer sich zur Auswanderung entschließt, verkauft seinen gesamten Besitz, leiht sich Geld bei Verwandten auf, um die Reise zu finanzieren. Für die Reise bis zur US-amerikanischen Grenze muss man fünfzehn- bis zwanzigtausend Dollar aufbringen, sozusagen als Vorkasse auf den American Dream, und nicht selten muss die Familie noch im Anschluss das wenige verkaufen, was sie hat, um Lösegeld an Entführer zu zahlen.

Das Recht auf Menschenwürde verliert sich in Rhetorik und repressiven Maßnahmen, in offener und verdeckter Gewalt, zwischen institutionellen Barrieren und den Machenschaften der organisierten Kriminalität. Der Exodus wird zu einem einträglichen Milliardengeschäft, an dem sich Drogenkartelle, Menschenhändler und korrupte Beamte bereichern. Die Geflüchteten sterben bei Massenexekutionen, ersticken in überfüllten Schiffscontainern, die den Rio Grande hinuntertreiben, sie verhungern in der Wüste von Arizona oder fallen in die Hände von Banden und werden ermordet, wenn ihre Familien das geforderte Lösegeld nicht zahlen können. Die Entführung der Armen ist zu einem einträglichen Industriezweig geworden, und das ist neu.

Tausende von Menschen wollen weg

Allein im Jahr 2023 verließen mehr als zwei Millionen Menschen ihre Heimat in Richtung Norden, viele mit der ganzen Familie. Lange Karawanen aus Mittelamerika, der Karibik, aus Venezuela, Kolumbien, Peru, Ecuador, Bolivien durchqueren den Darien-Dschungel; Menschen aus Haiti und aus afrikanischen Ländern schließen sich an.

Und auch in umgekehrter Richtung migrieren Menschen: Venezolaner*innen gehen nach Brasilien, Ecuador und Peru, um dort zu bleiben oder nach Chile weiterzureisen. Nach Angaben des UNHCR sind weltweit etwa acht Millionen Menschen aus Venezuela unterwegs, das entspricht etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes.

Der Weg über Nicaragua hat sich zur Alternativstrecke der illegalen Einwanderung in die USA entwickelt. Der internationale Flughafen von Managua nimmt Reisende ohne Visum nicht nur aus Kuba und Haiti, sondern auch aus asiatischen und afrikanischen Ländern. So gelangen sie an die Grenze zu Honduras, um von dort nach Norden weiterzureisen. In den Jahren 2022 und 2023 kamen rund 600.000 Menschen mit Charter- und Linienflügen aus Kuba und Haiti, aber auch aus Frankreich und Deutschland mit in Rumänien registrierten Maschinen an. Allein zwischen August und Oktober 2023 landeten 268 Flüge aus Port-au-Prince mit rund 30.000 Haitianern auf dem Weg in die USA; das entspricht etwa 60 Prozent aller Einwanderer aus diesem Land. Auf dem kleinen Flughafen, auf dem regulär zehn bis zwölf internationale Flüge pro Tag ankommen und eine geringe Zahl Touristen bringt, landen nun Dutzende Charterflüge aus Europa, Asien und dem Nahen Osten. Ein in Rumänien registriertes Flugzeug auf dem Weg von Dubai nach Managua mit 300 indischen Staatsbürger*innen an Bord wurde im Dezember 2023 in Frankreich von den Behörden gestoppt und an seinen Bestimmungsort zurückgebracht.

Die honduranischen Migrationsbehörden registrierten im Jahr 2023 fast 180.000 Menschen aus Nicaragua auf der Durchreise, die meisten aus Kuba und Haiti, aber auch aus China, Senegal, Äquatorialguinea, Mauretanien und Usbekistan.  Die US-Regierung verhängte Sanktionen gegen die Agenturen, die abschreckende Wirkung blieb jedoch aus. Als Transitland verdient der nicaraguanische Staat an der Situation, aber auch viele Menschen aus der eigenen Bevölkerung reisen Richtung USA. Allein im Jahr 2022 erreichten 300.000 Nicaraguaner*innen die US-Grenze; in den letzten Jahren verließen mehr als zehn Prozent der sechs Millionen starken Bevölkerung das Land; die Rücküberweisungen betrugen 2023 4,5 Milliarden Dollar, das entsprach 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts jenes Jahres. Umfragen zufolge beabsichtigt fast die Hälfte der 6,2 Millionen Nicaraguaner*innen, das Land zu verlassen. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Umfragen in Guatemala, El Salvador und Honduras, wo sich oft Tausende Menschen zusammenfinden, um zu Fuß Richtung Norden zu laufen. Wir befinden uns im Jahrhundert des Exodus.

Gewalt und Rassismus werden die Situation nicht ändern

Die US-Grenzstaaten scheinen im Wettstreit darüber zu stehen, wer von ihnen die härtesten Maßnahmen gegen Migration ergreift. Die Landesregierung in Texas hat sich eigene Abschiebungsbefugnisse geschaffen, obwohl die Einwanderungsgesetzgebung Sache der Bundesregierung ist. Ranchbesitzern an der Grenze zu Mexiko ist es per Gesetz erlaubt, Menschen zu erschießen, die ihr Grundstück überqueren, ohne eine strafrechtliche Anklage fürchten zu müssen. Paramilitärische Einheiten mit Namen wie „Amerikanische Krieger“ oder „Milizen auf der Jagd nach Migranten“ patrouillieren selbstorganisiert mit großkalibrigen Gewehren. Migrant*innen, die es schaffen, sehen sich mit Diskriminierung und Rassismus konfrontiert, doch für die Hunderttausenden von Zugereisten gibt es einen Arbeitsmarkt in den USA. Migrant*innen sind billige Arbeitskräfte, und wenn sie illegal eingewandert sind, nehmen sie keine Arbeitsrechte in Anspruch.

Angesichts der sich verschärfenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise wird sich die Fluchtbewegung weiter fortsetzen. Unsichere Arbeitsplätze, strukturelle Arbeitslosigkeit, fehlende Entwicklungsperspektive, fehlende Infrastruktur, Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung, Inflation und steigende Lebenshaltungskosten sind ebenso dauerhafte Realität wie politische Unterdrückung, Diktaturen und Verunsicherung angesichts der Gesamtsituation und werden die Menschen auch künftig zum Weggehen bewegen.

Der Autor ist Schriftsteller, Journalist, Politiker, Rechtsanwalt und gebürtiger Nicaraguaner. Er lebt im Exil.

 

CC BY-SA 4.0 Das Jahrhundert des Exodus von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert