(Berlin, 17. Januar 2024, fluter, CC-BY-NC-ND-4.0-DE).- Immer mehr Menschen durchqueren in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in den USA den Regenwald zwischen Kolumbien und Panama. Dabei gilt die Fluchtroute als eine der gefährlichsten der Welt.
„Mami, Mami. Ich habe Hunger“, jammert die vierjährige Hilary. Joselin Barrios hievt ihre Tochter von ihrer Hüfte und stellt sie neben sich in den Schlamm, bevor sie sich selbst auf einen kleinen Felsen hockt. Die 29-Jährige muss tief in den Rucksack greifen, bevor sie eine kleine Packung Kekse findet. Es ist nicht mehr viel Proviant da, aber es liegt noch viel Wald vor ihnen.
„Ich habe kein Geld mehr und kaum noch Essen“, sagt Joselin. Die alleinerziehende Mutter hat vor mehreren Monaten ihr Heimatland Venezuela verlassen. Zu schlecht seien die Zukunftsaussichten für ihre Kinder gewesen. „Ich bin weggegangen, damit es für meine Kinder besser wird“, sagt Joselin. „Für sie und meine Eltern. Sie sind alles, was ich habe.“
Joselin ist mit ihren drei Kindern im Dschungel des Darién Gap unterwegs. Hilary ist ihre Jüngste; Santiago ist fünf und Jhon Seiver gerade dreizehn Jahre alt. Genau wie Joselin durchqueren viele Menschen derzeit den Darién Gap: 100 Kilometer Regenwald zwischen Kolumbien und Panama. Die Strecke der Panamericana, die Alaska mit Feuerland verbindet, weist hier eine Lücke auf. Die Migrationsroute gilt als eine der gefährlichsten der Welt und ist heute gleichzeitig eine der wichtigsten.
Die Menschen entlang der Route haben mittlerweile verstanden, dass sich mit Migration Geld verdienen lässt. Ein Geflecht aus legalen und illegalen Profiteuren professionalisiert sich immer mehr. Dabei hatten Kolumbien, Panama und die USA bereits im April 2023 in einer gemeinsamen Erklärung versprochen, die Migration innerhalb von zwei Monaten zu stoppen.
Bevor die Migranten einen Fuß in den Wald setzen, sammeln sie sich in Necoclí, einem Ferienort an der Karibik in Kolumbien. Überall bieten Verkäufer Reisepakete bis nach Panama an. Die Preise variieren zwischen 200 und 400 US-Dollar. Die Migranten haben keine Alternative – offizielle Anlaufstellen gibt es hier nicht. Hier beginnen verschiedene Routen mit einer Bootsfahrt über den Golf von Urabá. Joselin hatte sich wie die meisten für den günstigsten Weg über Capurganá entschieden.
Hier bestimmt der Clan del Golfo
Die Menschen in Capurganá sind auf die Migration eingestellt. Ehemalige Touristen-Guides bringen heute Migranten an die Grenze zu Panama – und manchmal auch hinüber. Das ist Menschenschmuggel und auch in Kolumbien verboten. Doch die Staatsgewalt ist schon lange nicht mehr tonangebend. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Clan del Golfo, Kolumbiens größtes Verbrechersyndikat, hier bestimmt. Menschen und Organisationen, die am Schmuggel von Migranten beteiligt sind, zahlen Zwangsabgaben an den Clan, um die Routen zu nutzen.
Darwin alias Maradona organisiert die Schmuggler, die er Guides nennt. Knatternd fährt er auf seinem Mofa in die sogenannte Herberge am Rande von Capurganá, ein staubiges, eingezäuntes Stück Land mit einem Unterstand aus Wellblech, am hinteren Rand ein paar Dixi-Klos. Einige Migranten haben ein Feuer gemacht und erhitzen Wasser. Joselin und ihre Kinder sind eben hier angekommen.
Derweil hat sich eine wütende Menschentraube um Darwin versammelt. Sie verstehen nicht, warum sie hier erneut bezahlen sollen, wenn sie doch schon in Necoclí ein Gesamtpaket nach Panama bezahlt haben. „Das ist nicht mein Problem“, sagt Darwin. Die Migranten haben ohnehin keine Alternative. Sonst müssen sie allein durch den Wald. Und dort lauern bewaffnete Gruppen und die Gefahr, sich zu verlaufen.
Viele unterschätzen, wie teuer die Flucht ist
Joselin und ihre Familie sind gegen Mittag mit rund 50 anderen Migranten aufgebrochen. Nach vier Stunden bergauf kommt sie zum ersten Rastplatz. Eine indigene Familie verkauft Softdrinks. Joselin holt nur etwas Wasser aus dem Rucksack. Dann erzählt sie ihre Geschichte: Sie studierte in Venezuela auf Lehramt. Doch als der Vater der Kinder sie verließ, konnte sie die Familie nicht mehr ernähren. Sie schlug sich in Kolumbien als Straßenverkäuferin durch. Doch das reichte nicht. Also beschloss sie, die Route durch den Darién Gap in die USA zu nehmen. Für sie die einzige Wahl, ein Flug sei keine Alternative: „In meinem Heimatland ist es viel zu teuer, einen Reisepass zu beantragen“, erklärt sie.
Keiner der Migranten aus Joselins Gruppe sieht eine Alternative zur Darién-Route. Visaregeln, hohe Kosten – falsche Vorstellungen: Denn am Ende sind auch die Kosten für die Darién-Route nicht zu unterschätzen. Immer wieder sollen die Migranten unterwegs zahlen. „Es ist viel mehr Geld, als ich erwartet habe“, sagt Joselin.
Gegen Nachmittag verdichtet sich der Dschungel. Schlamm schmatzt, als Gummistiefel, Flip-Flops und Turnschuhe die Böschung runterrutschen. Joselin trägt Santiago huckepack den steilen Weg hinab, Hilary sitzt auf den Schultern von Dixon, einem jungen Ecuadorianer. „Die Frau war müde“, sagt er nur und geht schwer atmend weiter.
Auf einmal tut sich eine Lücke im Dickicht auf. Der Fluss ist zwar nicht tief, doch die Strömung ist stark. Joselin drückt nun Hilary fest an sich. Jhon Seiver, Joselins Ältester, ist bereits auf der anderen Seite des Flusses. Geier fliegen auf, als sie ihn bemerken, und geben die Sicht frei auf ein totes Pferd, das im Schlick des Ufers liegt. „Bestimmt hat eine Schlange es getötet“, sagt der 13-Jährige. Er kann den Blick kaum davon lösen. „Komm weiter, mein Schatz“, sagt Joselin und nimmt den Jungen an die Hand.
Am Abend erreicht die Gruppe das erste Camp. Zelt an Zelt, dazwischen Hängematten. Für 10 Dollar gibt es einen Teller mit Reis, Huhn und Bohnen. Joselin fängt plötzlich an zu weinen. Unterwegs hat sie den Proviant verloren. Und Geld für das Essen aus dem Camp hat sie nicht. Denn hier soll sie überraschend noch mehr Geld zahlen: 60 Dollar für den nächsten Wegabschnitt, die 20 Minuten bis zur Grenze zu Panama. Immerhin geben Mitreisende ihr und den Kindern etwas zu essen. Erst in Panama, im großen Lager Lajas Blancas, kann sie Verwandte kontaktieren, die ihr über einen Western-Union-Stand Geld schicken.
Drei Tage später auf der anderen Seite des Darién, in Panama, kommen die Migranten aus dem Wald. 20 Dollar sind es von hier pro Person im Boot bis nach Bajo Chiquito, dem ersten richtigen Dorf. 45 Minuten flussabwärts, im Dorf, hat sich eine Schlange vor einem Grenzkontrollpunkt gebildet. Bis zu 3.000 Menschen kommen derzeit am Tag in die indigene Gemeinde. Plastikbeutel, menschliche Fäkalien, Hühnerknochen liegen überall im Dorf herum. Ein beißender schwarzer Rauch zieht über die Hütten: Am Ortsrand wird Plastikmüll verbrannt.
Gegen Nachmittag taucht Joselin mit ihren Kindern in der Schlange auf. Unterwegs wurde ihre Gruppe überfallen, erzählt sie: „Der Guide hat vermummte Leute zu uns gebracht. Die hatten Waffen.“ Sie hätten den Migranten gesagt, dass sie bezahlen müssten, ansonsten würden sie zurückgeschickt. Viele hätten bezahlt, sagt Joselin. „Mich haben sie zum Glück einfach durchgewinkt.“
Bis in die USA ist es ein weiter Weg
Die Erfahrungen der Route hätten Auswirkungen besonders auf Eltern mit Kindern, sagt Alberto Fernández, Leiter des psychologischen Teams von Ärzte ohne Grenzen. „Sie machen sich Vorwürfe, dass sie ihre Kinder solch brutalen Situationen ausgesetzt haben.“ Doch Fernández und sein Team können ihnen kaum helfen, denn die Reise ist längst nicht vorbei.
Sechs Ländergrenzen trennen die Migranten noch von den USA. Von hier geht es mit dem Bus weiter, den die Regierung Panamas organisiert. Noch einmal 40 Dollar bis nach Costa Rica. Rund 500 Dollar kostet die Reise bis dahin, etwa doppelt so viel wie ein Flug von Kolumbien nach Mexiko.
Vor kurzem äußerte sich Kolumbiens Präsident Gustavo Petro in einem Video auf seinem offiziellen Instagram-Account zu der Migration. Die USA hätten Kolumbien vorgeschlagen, eine Art Mauer vor dem Darién Gap zu errichten. Er halte das nicht für den richtigen Weg: Vielmehr solle man die Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Migranten bekämpfen. Der kolumbianische Botschafter in den USA, Luis Gilberto Murillo, bestritt später, dass es jemals den Vorschlag zum Bau einer Mauer gegeben hätte. Inzwischen wurden drei Migrationsbüros in Kolumbien eröffnet, wo Migranten ein Visum für die USA beantragen können. Doch die Migration durch den Darién Gap hat das bisher wenig beeinflusst. Die Büros sind überlastet, zu viele Anträge, die meisten bekommen gar keine Rückmeldung.
Zwei Monate später haben Joselin und ihre Kinder es in die USA geschafft. In Tennessee haben sie ein neues Zuhause gefunden – zumindest bis zum Gerichtstermin, der entscheidet, ob sie bleiben darf. Bis dahin trägt sie eine Fußfessel. Ob sich die Reise für sie gelohnt habe? „Schau doch, wie es ihnen geht“, schreibt Joselin in einer Facebook-Nachricht und sendet ein Foto. Zu sehen sind die drei Kinder in einer Burger-King-Filiale. Die kleine Hilary trägt lächelnd die Pappkrone der Fast-Food-Kette auf dem Kopf.
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