Mit der neuen Verfassung dem Patriarchat ein Ende bereiten?

(Santiago de Chile, 16. August 2022, Medio a Medio).- Wenige Wochen vor dem Referendum über den neuen Verfassungsentwurf in Chile werden immer wieder Umfragen zu einem möglichen Ergebnis veröffentlicht. Über die vorgelegten Umfragen hinaus bleibt der Ausgang des Referendums aber schwer vorhersehbar. Denn weil diesmal Wahlpflicht gilt, könnte sich das politische Szenario völlig wandeln.

Eine dieser Studien ist die zweite landesweite Umfrage zur Meinung und Wahrnehmung des Verfassungsprozesses durch Frauen. Die Umfrage wurde von der Plattform Nada Sin Nosotras durchgeführt, in der das Zentrum für Frauenstudien, die Beobachtungsstelle für Geschlechter und Gleichberechtigung und die Corporación Humanas zusammenarbeiten.

Zwar zeigen die Ergebnisse, dass 56,4 Prozent der Befragten der Meinung sind, der Verfassungsentwurf verbessere die konkrete Situation der Frauen etwa beim Recht auf soziale Sicherheit, gleiche Entlohnung, Anerkennung der Hausarbeit, das Recht auf Pflege, Parität in öffentlichen Einrichtungen, sexuelle und reproduktive Rechte und das Recht auf ein Leben in einem gewaltfreien Umfeld. Dennoch geben nur 31 Prozent der befragten Frauen an, für die neue Verfassung stimmen zu wollen.

Medien mobilisieren gegen die neue Verfassung oder informieren nicht ausreichend

Die schlechten Umfrageergebnisse beweisen vor allem eines: die fehlende Klarheit in den der Bevölkernung bereitgestellten Informationen über den Verfassungsentwurf. Denn nicht nur mobilisieren die großen Medien in Chile, die vor allem in Händen privater Investor*innen sind, gegen jegliche Veränderung. Auch die mangelhafte Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungskonvents selbst und die unzureichende Berichterstattung des staatlichen Fernsehsenders TVN dürften dafür veranwortlich sein.

Doch es ist zu spät, um sich darüber zu beschweren. Stattdessen sollte man sich nun auf jene 32 Prozent der Frauen konzentrieren, die sich noch nicht entschieden haben. Viele von ihnen sind sich darüber bewusst, dass der Text ihr Leben verbessern wird. Außerdem liegt Chile laut dem Bericht des Weltwirtschaftsforums über die Schere zwischen den Geschlechtern nur auf Platz 47, Frauen in Chile erhalten zum Beispiel ganze 30 Prozent weniger Einkommen als Männer.

Ungleichheiten in Chile zwischen Männern und Frauen aufzeigen

Daher ist es wichtig, im Rahmen der Kampagne auf konkrete Daten im Land zu verweisen, die eine brutale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen aufzeigen. Dazu  gehört beispielsweise die sehr geringe Präsenz von Frauen in Entscheidungspositionen in staatlichen Institutionen (nur 10,5 Prozent in Vorständen, 17 Prozent in Gemeinden und 35,5 Prozent in der Abgeordnetenkammer). Demgegenüber steht der verschwindend geringe Beitrag, den Männer im Privaten erbringen: 38 Prozent der chilenischen Männer verbringen gar keine Zeit mit Hausarbeit, 57 Prozent gar keine Zeit mit der Kinderbetreuung und ganze 71 Prozent bringen ihre Kinder nicht einmal zur Schule.

Mit anderen Worten: Es ist notwendig, ein einfaches Narrativ zu schaffen, das zeigt, wie historisch die Annahme dieser neuen Verfassung für Frauen wäre. Und das nicht nur, weil sie die einzige Verfassung der Welt ist, die geschlechterparitätisch geschrieben wurde, sondern auch, weil es das erste Mal in der Geschichte des Landes ist, dass Frauen sie sowohl schreiben, als auch darüber abstimmen – ein absolutes Alleinstellungsmerkmal.

Was sieht die neue Verfassung zu Frauenrechten vor?

Aus demselben Grund sollten wir stolz darauf sein, dass Frauen in dieser neuen Verfassung 13 Mal genannt werden – im Gegensatz zur aktuellen Verfassung, in der sie nur ein Mal vorkommen. Dazu kommt, dass der Text 35 Richtlinien zu Geschlechterthemen enthält. So ist der Text nicht nur unter Umweltaspekten weltweit ein Vorreiter, sondern auch in Geschlechter- und Gleichberechtigungsfragen.

Bereits in der Präambel der neuen Verfassung wird ausdrücklich vom „Wir“ sowohl in männlicher, als auch weiblicher Form gesprochen. Auch der erste Artikel des Verfassungsentwurfs hebt die Idee einer inklusiven und paritätischen Demokratie hervor, in der eine geschlechterspezifische Perspektive auf soziale Rechte wie Bildung, Gesundheit, Wohnen und Arbeit und auf die neue Rechtssprechung vorgesehen ist.

Eine nicht-sexistische Bildung, die mit alten Geschlechterbildern bricht

Im Falle des landesweiten Bildungssystems wird die Rolle diesr Geschlechterperspektive entscheidend sein. Hier geht es um die Einführung einer nicht-sexistischen Bildung. Diese soll nicht nur mit den bestehenden Geschlechterstereotypen brechen, unter denen Frauen in der Vergangenheit so gelitten haben, sondern auch ein Männlichkeitsbild umkehren, das bislang vor allem Männer hervorbringt, die von Vorstellungen über sexuellen Wettbewerb, Produktivität, wirtschaftlichen Erfolg, Kontrolle über andere und Dominanz in zwischenmenschlichen Beziehungen geleitet werden.

Mit anderen Worten: Es geht darum, dass diese neue Verfassung nach ihrer Verabschiedung ein Instrumentarium bietet, um nicht nur die vielfältigen Formen der Gewalt gegen Frauen, sondern auch die Gewalt der Männer gegen sich selbst zu entpatriarchalisieren  und sich damit neuen Männlichkeiten zu öffnen.

Und schließlich wäre dieser ganze Prozess ohne die historischen Kämpfe der feministischen Bewegungen in Chile nicht möglich gewesen. Wie in anderen Teilen der Erde kämpfen diese auch in Chile für den Aufbau einer anderen Welt. Der 4. September könnte daher für sie alle der Beginn von etwas Großem werden.

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