(Mexiko-Stadt, 23. November 2018, Desinformémonos/poonal).- Gioconda Belli, 1948 in Nicaragua geboren, ist Poetin, Prosaschriftstellerin, Aktivistin und eine Feministin, die Gedichte über die Hingabe an Männer schreibt. Sie ist Liebhaberin und Rebellin. Ihr Leben lässt sich als eine Abfolge von Rebellionen beschreiben, von persönlichen und politischen Aufständen. Sie rebellierte gegen das brave Mädchen, das sie sein sollte, später gegen das Dasein der abhängigen Ehefrau, noch später wehrte sie sich als Staatsbürgerin gegen die Unterdrückung in ihrem Land Nicaragua. 1970 schloss sie sich der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront an, um gegen den Diktator Somoza und für die Sandinistische Revolution zu kämpfen. Das tyrannische Gespenst Daniel Ortega, das nun ihr Land regiert, lässt sie ernüchtert auf die alten Kriege blicken. Kämpfen tut sie aber weiterhin.
Vor Kurzem hat Belli ihren neuen Roman „Las fiebres de la memoria“ (Der Rausch der Erinnerung) veröffentlicht. Der Familienroman erforscht die Ursprünge ihrer Familie und erzählt die Geschichte ihres Vorfahren Charles Choiseul de Praslin. Choiseul de Praslin ist ein Adliger am Hof des französischen Königs Luis Felipe I von Orleans, der eines Verbrechens aus Leidenschaft beschuldigt wird. Er täuscht daraufhin einen Selbstmord vor, um zu fliehen und schifft nach New York ein. Der Roman ist in der ersten Person, aus der Sicht dieses Mannes geschrieben.
Welche Beziehung hat Gioconda Belli zu ihrer Erinnerung?
Die Erinnerung ist für mich eine unerschöpfliche Quelle von Eindrücken, Reflexionen und das Rohmaterial für die Vorstellungskraft. Ich glaube, dass wir aus Erinnerungen gemacht sind und dieses Konstrukt sich ständig wandelt. Das ist bemerkenswert, denn die Erinnerung scheint ja zunächst statisch zu sein. Wenn man mit der Erinnerung arbeitet, merkt man jedoch, dass sie immer ein fantastisches Element inne hat.
Wolltest du jemals etwas aus deiner Erinnerung streichen oder korrigieren?
Man vergisst das, woran man sich nicht erinnern will. Man spricht von einer glücklichen Kindheit, aber es ist eine Kindheit an die man sich nicht erinnert. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit García Márquez, in dem ich ihm von einer Liebschaft erzählte, die ich beendet hatte, weil sie schrecklich war. Ich habe ihm erzählt, dass ich mich trotzdem nur an die schönen Sachen erinnere. García Márquez sagte, das sei der Trug der Nostalgie. Schön, oder? Die Nostalgie ist selektiv und lässt dich das erinnern, was sie will.
Der Roman ist in der ersten Person und aus männlicher Sicht geschrieben. Wie fühlte es sich an, einen Mann in sich zu haben?
Es war eine interessante Erfahrung, eine Herausforderung. Es war gar nicht so schwer, wie ich dachte. Die Stimme dieses Mannes hat mich besessen. Es gibt vieles, was er sagt und denkt, das so anders ist als ich und meine Gedanken. Ich konnte es mir aber vorstellen, dieses Männliche dieser Epoche.
Der Roman reflektiert an vielen Stellen die Konstruktion einer neuen Identität. Ist Gioconda Belli heute noch dieselbe Person, als die sie geboren wurde oder hat sie sich auch schon mal neu erschaffen?
Sehr oft. Ich glaube, dass wir uns alle konstruieren und dekonstruieren. Die Geschichte, die ich erzähle, hat ihren Ursprung in meiner Kindheit. Ich hatte drei Großmütter väterlicherseits und wusste nicht warum. Von meiner Mutter aus hatte ich gar keine, weil die Mutter meiner Mutter sehr jung gestorben ist. Niemand von meinen Freundinnen hatte drei Großmütter. Dann die Geschichte meines Vaters: Er ist als uneheliches Kind zur Welt gekommen. Seine Großmutter hat ihn großgezogen und er hat erst viel später erfahren, dass sie gar nicht seine Mutter ist. Zur selben Zeit hat er auch gemerkt, dass sein Bruder gar nicht sein Bruder, sondern sein Vater ist. Das war zum Beispiel ein Moment der Rekonstruktion. Sobald du etwas über deine Herkunft erfährst, ändert sich alles.
Ich habe nicht immer in Nicaragua gelebt. Einmal war ich im Exil, ein anderes Mal bin ich in die USA gezogen, nachdem ich geheiratet hatte. Ich wollte ein wenig Abstand zu Nicaragua gewinnen, weil die Revolution vorbei war. Dort habe ich gemerkt, wie man sich dabei neu konstruiert. Die Migration war ein Aspekt, der mich sehr interessiert hat, als ich das Buch geschrieben habe. Momentan migrieren sehr viele Menschen. Was passiert mit dir, wenn du dich von deinem Ort löst, du in ein anderes Land gehen muss. Das ist ein ganzer Prozess. Sich neu erfinden. Eine neue Chance haben. (…)
Welche war deine erste Rebellion?
Meine erste Rebellion war der Bruch mit meiner Ehe. Ich habe das erste Mal mit 18 Jahren geheiratet und mein erstes Kind mit 19 bekommen. Ich habe rebelliert, als mein Ehemann durchsetzen wollte, dass ich nicht arbeite. Zu jener Zeit war eine Frau, die arbeiten geht, schlecht angesehen, denn man nahm an, dass der Mann für die Frau sorgt. Ich habe aber gesagt: „Auf gar keinen Fall. Ich werde arbeiten, ich brauche mein eigenes Geld.“ Und dabei hatte ich noch gar nicht Virginia Woolf gelesen. (Lacht) (…)
Ich hatte aber eine sehr besondere Mutter, eine sehr fortschrittliche und moderne Frau. Sie hat mir gezeigt, mich als Frau zu lieben, mir beigebracht, sich außergewöhnlich gut zu fühlen, weil man eine Frau ist. Ich habe sogar von ihr gelernt, meine Menstruation zu mögen. (…) Ich hatte sogar Mitleid mit meinen Brüdern, weil sie nie die Regel bekommen würden. Dieses Machtgefühl hat mit geholfen. Das war eine Rebellion. Eine andere Rebellion war die, als ich mich der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront angeschlossen habe. Mein Leben ist eine Abfolge von Rebellionen.
In deinem ersten Gedichtband „Sobre la grama“ (Auf dem Rasen) hast du tiefgründig über die weibliche Sexualität geschrieben. Nach Spanien kam die sexuelle Befreiung erst nach Francos Tod, aber kurz danach hat der Kapitalismus sie schon zu Geld gemacht. Was können wir tun, damit man mit unserer Erotik keine Geschäfte macht? Wie kann man die sexuelle Freiheit erobern, ohne dass sie anderen nutzt und ohne dass uns andere als Konsumartikel benutzen?
Das hat damit zu tun, sich als Subjekt innerhalb der Sexualität zu fühlen. Wir Frauen sind jedoch immer noch Sexobjekt. Mit hat mal jemand erzählt, dass die jungen Frauen das Spiel mit der Sexualität, das sie nach außen hin zeigen, gar nicht so sehr für sich spielen, sondern um ihre Rolle für den Mann zu erfüllen. Das ist eine missliche Angelegenheit, denn die sexuelle Freiheit muss für einen selbst sein. Für die eigene Lust, für die eigene Macht, denn Sex hat eine außergewöhnliche Macht. Wir sind sinnlich, sexuell. Wir müssen lernen, die Erotik nicht als etwas zu sehen, das andere befriedigt, sondern sie selbst zu genießen und sie nutzen, wie wir Lust dazu haben.
Ist heutzutage eine Partei wie die „Erotische Linke“ möglich, die du in deinem Roman „El país de las mujeres“ (Auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Die Republik der Frauen, Anm.d.R.) beschreibst? Heute sind einige der feministischen Forderungen der Linken als puritanisch verschrien.
Ja, aber ich würde das nicht „links“ nennen. Ich erzähle dir eine schöne Anekdote, die gerade in Nicaragua passiert ist. Vor zwei Wochen gab es eine Demonstration in Nicaragua. Demonstrationen sind hier jetzt verboten, weil es eine schreckliche Diktatur gibt, aber die Leute sind trotzdem auf die Straße gegangen. 38 Personen wurden verhaftet, unter ihnen zehn bis 15 Frauen. Die Frauen wurden in eine Gefängniszelle gesteckt. Und eine der älteren Frauen, die etwa so alt war wie ich, von der alten sandinistischen Generation, hat zu den anderen gesagt: „Lasst uns alle die Lippen rot schminken, damit wir im Gefängnis rebellisch aussehen.“ Sie wurde verhört, gefragt, zu welcher Organisation sie gehöre und ob sie von der CIA sei. Sie hat geantwortet: „Ich bin Mitglied der Vereinigung der Frauen mit dem roten Schnabel.“ In Nicaragua hat sich der rote Schnabel jetzt im Netz verbreitet. Auch Männer haben sich die Lippen rot gemalt. Das heißt, jetzt hieße die Partei „Roter Schnabel“.
Lehnst du das Wort „links“ ab oder trägt das Konzept „links“ keine Schuld an dem, was gerade in Nicaragua passiert?
Ich denke, dass die Linke eine autoritäre Ader hat, die sehr gefährlich ist. Wir, die links waren, haben versucht, diese Ader zu rechtfertigen. Aber wir können das nicht weiterhin tun, ich werde das nicht mehr tun. Auch die Linke muss sich neu erfinden, sich neu denken. Es gibt eine enorme Krise der Vorstellungskraft. In Lateinamerika hatten wir mit einer Reihe von linken Regierungen eine Chance, aber sie alle sind gescheitert, weil ihnen die Fähigkeit gefehlt hat, sich eine demokratische, freiheitliche Linke vorzustellen. Sie haben stattdessen versucht, die alleinige Wahrheit für sich zu beanspruchen, die Freiheit der Bürger*innen einzuschränken und sich an der Macht zu halten. Die Attitüde „Ich werde das Gute sein und die anderen nicht“ hat den Linken ihr Unheil gebracht.
Bereust du es, für die Sandinistische Revolution gekämpft zu haben?
Nein, ich bin stolz auf meine sandinistische Vergangenheit, denn es war zu der Zeit notwendig. Man musste den Tyrannen stürzen, der 45 Jahre in Nicaragua geherrscht hatte. Genauso wie wir jetzt diese Ausgeburt des Sandinismus stürzen müssen. Ich bereue das nicht, ich bereue nicht die Hoffnung, die die Sandinistische Revolution geweckt hat. Ich bereue es, sehr jung und naiv gewesen zu sein. Wir waren von einer ideologischen Vision durchdrungen, die ich so nicht mehr unterschreibe.
Man sagt, die Menschen, die einst linker Gesinnung waren, werden im Laufe der Zeit rechts.
Ich bin nicht rechts geworden! Ich bin immer noch links, aber ich gehöre zu einer Linken, die demokratisch sein will. Ich mag z.B. die Sozialdemokratie. Ich glaube, dass sie von allen linken Strömungen, die bis jetzt in der Geschichte existiert haben, die positivste für die Menschen war. Daraus muss man lernen.
Wie sieht deine Revolution heute aus?
Meine Revolution ist komplett politisch. Ich will Nicaragua von Daniel Ortega und seiner Frau befreit sehen. In sechs Monaten 400 Tote, 2000 Verletzte. Etwa 30.000 Menschen haben Nicaragua verlassen, viele wurden verhaftet, als Terrorist*innen behandelt mit einem Diskurs, der Lügen verbreitet. Die Opfer wurden zu Täter*innen gemacht, jungen Menschen wurde der Prozess gemacht, ohne Recht auf Verteidigung, mit gestellten Anwälten, in Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen. Die Justiz handelt rechtswidrig. Die Situation in Nicaragua ist schrecklich. Es haben sich paramilitärische Kräfte formiert, die ohne Hemmung Morde verüben und Menschen verprügeln. Das Land wird vom Terror überzogen.
Du lebst weiterhin in Nicaragua. Wie lebst du in der Diktatur?
Wir befinden uns nahezu in einem Belagerungszustand. Ab 18 Uhr ist es gefährlich das Haus zu verlassen. Sobald die Sonne untergeht, bringen sich alle in Sicherheit. Man lebt in ständiger Unsicherheit. Ich weiß nicht, wann der Tag kommen wird, an dem sie mich nicht mehr ins Land lassen. Jedes Mal wenn ich zurückkomme, habe ich Angst, am Flughafen verhaftet zu werden. Wenn ich ausreise, habe ich Angst, dass sie mich nicht gehen lassen. Oder ich habe Angst, dass sie eines Nachts an meine Tür klopfen. Mein geliebter Sohn musste bereits nach Costa Rica gehen.
Planst du, das Land zu verlassen?
Nein, noch nicht. Nicaragua ist meine Heimat und ich will nicht gehen. Ich werde kämpfen, um nicht gehen zu müssen.
Schon 2001 kritisierte Gioconda Belli die Sandinistische Partei und Daniel Ortega. Hier findet ihr einen Auszug aus ihrem Kommentar von 2001.
Übersetzung: Katharina Greff
Interview mit Gioconda Belli: Die Linke hat eine autoritäre Ader, die nicht mehr zu rechtfertigen ist von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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