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Foto: AWWE83 via wikimedia
CC BY-SA 4.0
(Madrid, 30. April 2025, la diaria).- Luciana Peker von Las Bravas sprach mit Nora Rugama, Psychologin aus Nicaragua, über ihren Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Welche Chancen haben Selbsthilfestrukturen in einem Land, das diejenigen verfolgt, die sich zur Wehr setzen? Nora Rugama ist 40 Jahre alt, doch das sagt in ihrem Fall wenig aus: Sie wirkt viel jünger, zugleich scheint, was sie erlebt hat, schon jetzt zu viel für ein Leben. Als Kind erfuhr sie selbst sexualisierte Gewalt, als Psychologin hat sie sich auf die Arbeit mit Überlebenden spezialisiert. Vor acht Jahren ging sie ins Exil nach Spanien. Dem Land wirft sie vor, seinen institutionellen Rassismus hinter bürokratischen Scheinbegründungen zu verschanzen. Kenntnisse, die sich nicht in Form von Zertifikaten nachweisen lassen, haben keinerlei Bedeutung. Doch für Nora sind ihre Überzeugungen und ihre eigene unauslöschliche Erfahrung nicht weniger relevant als ihr Berufsabschluss. Wie die Regierung sich gegen sexualisierte Gewalt positioniert, empfindet sie als unehrlich.
Eine Vetriebene der Revolution
Für Nora bedeutet Nicaraguanerin zu sein den Besitz einer Nationalität und den Verlust einer Heimat. Die Zeit der Kaffeebrigaden ist vorbei, was bleibt, ist ein Mythos, der nichts mehr wert ist, verlorene Utopien, geschrumpft auf das Format einer Postkarte, ein Lied, das nicht klingt, die Menschen wie Glocken, die nicht mehr läuten, es sei denn, im Orchester der Weltmarktpolitik. Nora ist eine Vertriebene der Revolution, die die Frauen verraten hat. Sie lebt in Spanien, das seine Migrant*innen nicht mit offenen Armen empfängt, sondern nur das nimmt, was unmittelbaren Nutzen bringt. Ihre Kenntnisse sind hier nichts wert, denn was Wissen ist, bestimmt immer noch Europa.
Das Schweigen brechen
Noras Stimme bleibt ungehört, weil man sie nicht sprechen lässt. Sie könnte mit Überlebenden sexualisierter Gewalt arbeiten, doch seit ihrer Ankunft 2017 kämpft sie um die Anerkennung ihres Psychologiestudiums. Während des internationalen Treffens „Geflüchtete Frauen: die politische Macht von Menschenrechtsverteidigerinnen im Exil“, das vom guatemaltekischen Frauenverband AMG, dem Frauenfonds Calala und der Initiative Mujeres con Voz (Frauen mit Stimme) organisiert wurde, erzählt sie vom institutionellen Rassismus und der Ignoranz gegenüber ihren Erfahrungen. Im Alter von zwei Jahren wurde sie von einem Onkel missbraucht. Ihre Mutter bemerkte, dass etwas nicht stimmte, und bemühte sich um Hilfe. Nora bekam fünf Jahre lang Medikamente. Mit 16 Jahren beschloss sie zu studieren, machte eine Therapie und verstand endlich, was mit ihr geschehen war. Der Täter, der nebenan wohnte, hörte nicht auf, sie zu bedrohen, bis es ihr eines Tages gelang, ihn anzuschreien, als Täter zu bezichtigen und ihm klarzumachen, dass sie nun kein kleines Kind mehr war. Ihre Mutter und ihre Schwestern stellten sich auf ihre Seite, der Rest der Familie warf ihr vor, ihre Großmutter noch ins Grab zu bringen. Sie hielten ihr Trauma für eine dämonische Besessenheit und waren drauf und dran, einen Exorzisten zu holen. Mit 23 Jahren schrieb Nora den Artikel „Das Schweigen brechen: aus eigener Kraft“.
„Aguas Bravas“ – eine Selbsthilfeorganisation inspiriert durch Wildwasser
Zu dieser Zeit lernte sie Brigitte Hauschild kennen, die als Entwicklungshelferin in Nicaragua gearbeitet hatte. Die deutsche Pastorin hatte zehn Jahre zuvor ein aufwühlendes Erlebnis, als Zoilamérica Ortega, die Tochter von Rosario Murillo, ihren Stiefvater Daniel Ortega des Missbrauchs bezichtigte und ihn anzeigte. Zoilas Aussage weckte in Brigitte eine verborgene Erinnerung an die sexualisierte Gewalt, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte. Um ihre Erinnerungen aufzuarbeiten, ging sie nach Deutschland und schloss sich in Berlin der Selbsthilfegruppe Wildwasser an. Beeindruckt und überzeugt vom Selbsthilfeansatz kehrte sie nach Nicaragua zurück und gründete 2007 die Initiative „Aguas Bravas“. Für Nora begann eine aufregende Zeit. Sie wurde Teil dieses bahnbrechenden Projekts, erlebte die Aufbruchstimmung und die Repressalien, während das Thema sexualisierte Gewalt zunehmend an Aufmerksamkeit gewann. 2013 wandelte Brigitte die Initiative in eine Stiftung um; 2014 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Jahr 2017 musste Nora Nicaragua verlassen. Murillo und Ortega hatten das Land in eine Diktatur umgewandelt und bekämpften diejenigen, die gegen sexualisierte Gewalt aufstanden. Die Stiftung bestand noch bis 2019, und schließlich verließ auch Brigitte das Land. Sie starb am 28. September 2024 in Deutschland. Die Initiative hätte es verdient, dass die Arbeit weitergeführt und die Expertise derjenigen, die ins Exil gegangen waren, anerkannt würde. Nora hat über 300 Betroffene von sexualisierter Gewalt und Zwangsprostitution betreut. Heute arbeitet sie als Telefonverkäuferin in einem Callcenter. An ihre Stelle traten andere, die nur behaupten, zu wissen, und die Weisheit der Begründerinnen leugnen. Diese waren es, die den Mut aufbrachten, die Initiative aufzubauen und sexualisierte und patriarchale Gewalt nicht zu tolerieren. Ihr Mut hatte seinen Preis.
Warum hast du dich auf die Arbeit mit Betroffenen von sexuellem Missbrauch spezialisiert?
Ich wurde im Alter von zwei Jahren von einem Onkel missbraucht und wuchs mit all den traumatischen Folgen sexualisierter Gewalt auf. Ich hatte Angstzustände und Konzentrationsschwierigkeiten. Meine Mutter fragte sich, was mit mir los war, aber sie fand keine Hilfe für mich. Niemand, kein Psychologe oder Psychiater, sagte ihr: „Ihr Kind wurde missbraucht. Das ist los.“ In Nicaragua gibt es auch nicht viele Fachleute. Ich habe meine Kindheit und Jugend also unter Medikamenteneinfluss verbracht.
Aber die Psychopharmaka überdeckten nur die Symptome, ohne die Ursachen aufzudecken, richtig?
Sie machten mich vor allem müde. Sie verdeckten die Symptome mehr schlecht als recht, weil es keine spezifischen Medikamente waren. Ich war die meiste Zeit zugedröhnt. Als ich 16 Jahre alt war, beschloss ich, sie nicht mehr zu nehmen und Psychologie zu studieren. Das hatte mit meinen Erlebnissen zu tun und damit, dass ich aus einer sehr armen Familie stamme, denn in diesem Beruf hatte ich die besten Chancen auf ein Stipendium. Heute liebe ich meinen Beruf.
Und wie wurde dir klar, dass es mit diesem Missbrauch zu tun hatte, der nie aufgedeckt wurde?
Ich habe nie aufgegeben, und aus irgendeinem Grund habe ich nie den Glauben an die Psychologie verloren. Ich suchte weiter nach Hilfe. Irgendwann landete ich bei einem Psychologen, der mir erklärte, dass es hier um sexualisierte Gewalt ging, klarer Fall. Im vierten Jahr meines Studiums hatte ich das Glück, einer Spezialistin zu begegnen. Endlich verstand ich, dass alles, was mir zu dieser Zeit in meinem Leben widerfuhr, die Folge eines traumatischen Erlebnisses war. Ich vereinbarte einen Termin mit ihr, und damit begann das, was ich als meine erste Therapie bezeichne, weil sie auf einer feministischen Ethik beruhte und ich als Person im Mittelpunkt stand, ohne mich schuldig oder stigmatisiert zu fühlen. Ich traute mich endlich, über meine Geschichte zu sprechen, und entwickelte mehr Selbstvertrauen, in meiner Arbeit als Psychologin und in meinem Privatleben. Ich hatte mich immer nur kleingemacht, aber von nun an konnte ich wirkliche Liebesbeziehungen führen.
Was passierte, als du anfingst, von dem Missbrauch zu erzählen?
Es hat meine Familie gespalten. Meine Mutter und meine Schwestern glaubten mir, aber sonst niemand; der Rest der Familie stellte sich auf die Seite des Täters. Das passiert oft. Dem Opfer wird nicht geglaubt, und der Täter ist am Ende das „arme Ding“.
Wie fing die Arbeit von Aguas Bravas an?
Die Gründerin war Brigitte Hauschild, eine Deutsche, die in den 1980er Jahren in Nicaragua lebte. Als sie 1998 an der Übersetzung der Aussagen von Zoilamérica arbeitete, wurde ihr plötzlich klar, dass sie auch sexualisierte Gewalt erlebt hatte. Sie ging nach Deutschland, um ihre Geschichte aufzuarbeiten, und kehrte später nach Nicaragua zurück, um dem Frauennetzwerk ein Instrument für die Arbeit mit Überlebenden von sexualisierter Gewalt anzubieten, als eine Art Dankeschön. Sie bildete innerhalb des Netzwerks mehr als 240 Psychologinnen aus und half uns, Selbsthilfegruppen von Frauen zu bilden, die sexualisierte Gewalt erlebt hatten. Wir begannen in Managua, und von dort aus gingen wir überall hin, nach Matagalpa, nach León, nach Granada, nach Rivas, wohin auch immer wir gerufen wurden. Wir starteten keine Kampagnen, um die Frauen zu erreichen. Die Frauen kamen zu uns.
Wie lief die Arbeit mit Aguas Bravas in Nicaragua?
Wir haben zehn Jahre lang ohne Probleme gearbeitet, abgesehen von den Risiken, die nun einmal damit verbunden sind, wenn man das große Problem der Straflosigkeit in Nicaragua auf den Tisch bringt. Als Daniel Ortega an die Macht kam, war der Tätervorwurf bereits publikgemacht worden. Dass er es trotzdem geschafft hat, war ein Zeichen von Straflosigkeit, von „Hier kann ich machen, was ich will“. Ich habe Aguas Bravas zum Wohle der Initiative verlassen. Es war eine turbulente Zeit, alle wollten wir etwas für Nicaragua tun, aber einfach nur zu einer Demo zu gehen oder die Blau-Weißen [oppositioneller Zusammenschluss sozialer Initiativen] zu unterstützen war riskant. In Nicaragua musste man gar nichts Großartiges tun, damit sie einen im Visier hatten. Manchmal reichte es schon, den falschen Leuten ein Brot vorbeizubringen.
Und wegen der Verfolgung konntet ihr nicht weiterarbeiten?
Die Stiftung arbeitete bis 2019, aber da war die Schließung von NGOs schon im vollen Gange. Und uns haben sie Stück für Stück kleingemacht. Wir bekamen keine Arbeitserlaubnis immer. Immer fehlte irgendetwas, so dass wir die Anforderungen nicht erfüllten. Das ging so weit, dass die Bank uns mitteilte, sie könne kein Geld mehr für das Projekt entgegennehmen, weil wir nicht die nötigen Unterlagen hätten. Das Innenministerium sagte, dass unsere Papiere nicht vollständig seien. Es fehlte immer ein Komma, ein Punkt. Es war echt surreal. Sie sagten, wir seien zu spät gekommen, obwohl wir uns am Abend zuvor in die Schlange gestellt hatten. Wir konnten nicht mehr arbeiten, weil es kein Geld gab. Wir mussten das Personal entlassen, weil wir niemanden mehr bezahlen konnten. Und dann fragten sie uns, was für Dienstleistungen wir denn bezahlen wollten, wenn wir doch kein Projekt mehr waren, kurzum: Es herrschte völliges Chaos. Als wir Aguas Bravas aufgaben, waren bereits mehr als 4.000 NGOs geschlossen; da war keine Trauer mehr, es war fast schon selbstverständlich. Sogar die Möglichkeit zu trauern haben sie uns genommen. Die Gewalt beherrscht nun mal die Kunst, als etwas Natürliches zu erscheinen. Es war wirklich ein schwerer Schritt, wir wussten, dass sie sofort anfangen würden, Kleinholz aus unseren Räumen machen und alles wegtragen würden, was irgendwie brauchbar war, absolut alles.
Wie sollte die Welt auf die Verfolgung von Frauen in Nicaragua reagieren?
Ich glaube, dass die Regierung von Daniel Ortega sich so lange halten kann, verdankt sie unter anderem der Selbstgefälligkeit der internationalen Linken. Es ist kein Zufall, dass Europa so lange gebraucht hat, um sich zur politischen Situation in Nicaragua zu äußern. Das hat mit der Revolution der 1980er Jahre zu tun und mit der Weigerung der Linken, einzusehen, dass es auch Diktaturen gibt, die einen linken Background haben, aber Diktatur ist Diktatur, und diese Diktatur kam von links. Sie ist nicht links, aber sie hat eine linke Geschichte.
Wie kommt es, dass Nicaragua in den 1980er Jahren von so vielen Europäer*innen als revolutionäres Mekka besucht wurde und nun das Wissen von Migrant*innen aus Nicaragua in Europa so abgewertet wird?
Ich denke, Spanien hat Angst, dass wir ihnen den Rang ablaufen, denn unsere Fachfrauen im Bereich der psychischen Gesundheit könnten mit ihrem Wissen besser auf die Menschen eingehen. Aber die Frage der Anerkennung unserer Qualifikationen ist ein ständiger Kampf, darüber beschränken sie unseren Zugang zur Arbeitswelt und nehmen uns die Möglichkeit, einen Teil unseres bisherigen Lebens zurückzugewinnen. Für Geflüchtete, die das Aufnahmesystem betreten, sind die Angebote sehr auf Dienstleistungsarbeit beschränkt.
Was den Kampf gegen sexualisierte Gewalt angeht, nimmt Spanien eine Vorreiterrolle ein. Warum wird deine Erfahrung im Umgang mit sexualisierter Gewalt nicht genutzt?
Ich habe früher in einem Supermarkt-Callcenter gearbeitet, jetzt arbeite ich in einem Telekommunikations-Callcenter. Die ganze Zeit über habe ich nicht aufgehört zu kämpfen; mein Titel wurde inzwischen anerkannt, und nun bewerbe ich mich um einen Studienplatz für einen Master-Studiengang. Wir Latin@s switchen ständig hin und her zwischen Organisieren und Kämpfen und Überleben im Exil, bei der Arbeit und im Studium, mit allem, was das in Spanien bedeutet, denn Studieren ist hier ziemlich teuer. Aber ich will mich nicht von dem Gefühl erdrücken lassen, dass ich vor einer Mauer stehe, die immer höher wird.
Ist dein Beruf ein Teil deiner Identität?
Wenn es irgendwas gibt, das mich in all diesen Migrationsgedöns wirklich ausmacht, dann ist es mein Beruf. Wenn man mich fragt, wer ich bin, dann bin ich immer noch Psychologin, und ich bin immer noch Menschenrechtlerin. Ich bin hier, und ich höre nicht auf, mich als Menschenrechtlerin zu sehen, denn dafür bin ich ausgebildet worden und dazu stehe ich, felsenfest. Dieser Teil ist für mich am schwierigsten, am komplexesten, am schmerzhaftesten. Es steckt eine Verantwortung darin, denn es ist kein Zufall, dass für Migrant*innen und Geflüchtete alles komplexer ist, sowohl in Bezug auf die Ausbildung und Dokumentation als auch die Ausübung des Berufs. Das ist Teil eines größeren institutionellen Rassismus, der für uns als Migrant*innen alles besonders schwierig macht.
Las Bravas ist eine Rubrik von la diaria Feminismos. Sie will den Stimmen und Erfahrungen feministischer Frauen, die in Lateinamerika die Geschichte verändern, Gehör verschaffen.
Ein Staatspräsident mit Tätervorwurf ist ein Indiz für Straflosigkeit von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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