(Buenos Aires, 2. Mai 2020, ANRed).- Die globale Coronakrise hat die Prekarität des argentinischen Arbeitsmarktes und die wirtschaftliche Anfälligkeit von Millionen von Lohnempfänger*innen offengelegt. Der Einkommensausfall und die Unmöglichkeit, sich in Quarantäne begeben, kennzeichnen diese Realität. In dieser Zeit wurden die mehr als 160.000 Beschäftigten der Kurierdienste für viele zur Verbindung nach „draußen“. Die „Held*innen“ auf Fahrrädern sind jedoch ohne Rechte und fordern Schutzmaßnahmen.
Der weltweite Wirtschaftseinbruch infolge der Coronavirus-Pandemie hat unmittelbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Auf der ganzen Welt gehen Millionen von Arbeitsplätzen verloren, im Dominoeffekt fallen ganze Industrien und Unternehmen der Pandemie zum Opfer. Laut den Studien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die Woche für Woche von Wissenschaftler*innen durchgeführt werden, gehen Arbeitsstunden im zweistelligen Millionenbereich verloren. Die Regierungen sind hin- und hergerissen zwischen laissez-faire, Hilfen zum Erhalt von Arbeitsplätzen oder Verstaatlichungen. Einige Regierungen probieren sogar alle Instrumente gleichzeitig aus.
Der argentinische Arbeitsmarkt – keine Ausnahme in Zeiten der Pandemie
Argentinien ist und wird nicht die Ausnahme dieser Realität sein. In der sich abzeichnenden wichtigsten Krise der jüngeren Menschheitsgeschichte werden wir angesichts der Schließung von Unternehmen, des Anstiegs der Arbeitslosigkeit, der Zunahme von Kurzarbeit, der Zerstörung des Einkommens der Mehrheit der Bevölkerung und stärkeren wirtschaftlichen Anfälligkeit weitreichende Entscheidungen fällen müssen. Das ist eine Feuerprobe für den Peronismus der Regierung, in dem der Staat Motor für eine Wirtschaft ist, die sich auf einem historischen Tiefstand befindet.
Das Land wird jedoch unter besonderen Bedingungen mit dieser Krise konfrontiert. Der Arbeitsmarkt ist fragmentiert und in hohem Maße prekarisiert. Tatsächlich ist dies ein struktureller Trend, der sich unter der Führung von Cambiemos (Wahlbündnis des Ex-Präsidenten Mauricio Macri) verstärkt hat. Dieser Trend kennzeichnete sich durch die Zerstörung formeller Beschäftigungsformen und im besten Falle durch die Ersetzung dieser durch informelle und ungeschützte Arbeitsplätze oder durch bloße Einzelselbstständigkeit – all dies zu Niedriglöhnen. Dieser Prozess war nicht umsonst, er wurde begleitet von der fortschreitenden Verschlechterung der Einkommen, sodass die Vergütung nun einen geringeren Anteil des Produktionswerts einnimmt: Lag der Anteil der Arbeitskosten an der „Torte“ des Produktionswertes 2016 noch bei 51,8 Prozent, ist er im Jahr 2019 auf 45,7 Prozent gefallen.
7 Millionen Menschen während der Ausgangssperre ohne Einkommen
Berücksichtigt man die informelle Beschäftigung, Arbeiter*innen in Privathaushalten (4 von 5 arbeiten „schwarz”), die Selbstzahler*innen in die Sozialsysteme und die selbstständigen Beiträge und berücksichtigt zudem noch jene, die gar nicht für einen festen Lohn arbeiten, dann erhält man eine Gesamtheit von mehr als 7 Millionen Menschen, die am 17. März, dem Tag, an dem die präventive und verpflichtende soziale Isolation begann, ohne Einkommen dastanden. Diese Schätzung wurde Wochen später bestätigt. Die Regierung verabschiedete einen Plan, der mehr als 7,8 Millionen Personen für den Bezug des Notfallfamilieneinkommens berechtigte. Oder, um es klarer auszudrücken: Jeder zweite Haushalt im Land war plötzlich ohne Lebensunterhalt und benötigte staatliche Unterstützung, um seine Mindestausgaben zu decken.
Man kann sagen, es handelt sich um eine globale Krise mit lokalen Eigenschaften. Die Informalität gibt der Odyssee im argentinischen Lohn- und Gehaltssektor ihre eigenen dramatischen Nuancen. Die vielen Tausend, die zuletzt „von weißer zu schwarzer Arbeit” übergingen, verloren auf dem Weg dorthin zumeist ihre Krankenversicherung, die in dieser sanitären Notsituation besonders notwendig ist. Sie verloren auch den Zugang zu Mutterschutz und Elternzeit, die eine Mindesteinkommensgrenze garantieren, um der kritischsten Etappe in der Quarantäne die Stirn zu bieten. #QuedateEnCasa („Bleib daheim“) war für viele tatsächlich keine Option.
Prekarisierung auf dem Vormarsch
Zeugnis dessen sind nun die sichtbar gewordenen Arbeiter*innen in den Kurierdiensten, die für einige Wochen die einzigen Bewohner*innen der leeren und stillen Straßen in den großen Stadtzentren wurden. Jetzt sind sie Held*innen für einige Medien.
Eine im vergangenen Jahr vom argentinischen Think Tank CIPPEC, dem IDB-Labor und der ILO durchgeführte umfassende Studie, die bisher die einzige zu diesem Thema im Land war, ergab, dass diese Kurierfirmen 1 Prozent der Beschäftigten im Land anstellen. Das war der Wert bis Mai letzten Jahres, sodass davon auszugehen ist, dass heute, 12 Monate später, mehr Menschen in diesem Bereich arbeiten. Aus dieser Gruppe von mehr als 160.000 Arbeiter*innen waren mehr als 60.000 ausschließlich im Außendienst für die Zustellungen beschäftigt. Hinzu kommen jetzt diejenigen, die durch die jüngsten Ereignisse (bei z.B. Uber Eats) zu mobilen Arbeiter*innen wurden. Die Studie zeigte auch, dass für 45 Prozent dieser Personen keinerlei Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden und, dass weniger als 10 Prozent als abhängig Beschäftigte angemeldet wurden – Prekarisierung auf dem Vormarsch.
Proteste und gewerkschaftliche Organisierung als Antwort auf Unternehmenspolitik und staatliche Passivität
Diese Menge von mehr als 60.000 informell beschäftigten und einzelunternehmerischen Radfahrer*inen hat in den letzten 24 Monaten eine Reihe von Protesten und Versuchen gewerkschaftlicher Organisierung vorangetrieben. Die regionalen und globalen Pionier*innen stießen bei den Unternehmen auf starken Widerstand. Auch begegneten sie einer staatlichen Passivität, die den Unternehmen zugute kam. Die Regierungen zeigten sich ideologisch der sogenannten Sharing Economy zugeneigt oder fürchteten sich davor, in den einzigen Sektor einzugreifen, der während der Rezession Arbeitsplätze schuf. Alles typisch für diese Zeit. Trotz alledem gründeten die Kurier*innen Gewerkschaften, organisierten sich und trieben die zur Seite gedrängten Gewerkschaften wieder voran.
Während der Pandemie wurden diese Arbeitnehmer*innen ohne formelle Arbeitgeber und ohne Arbeitsschutzversicherung, die je nach Firma in strengem Rot, Gelb oder Orange gekleidet sind, zum Bindeglied zwischen den Waren und Abertausenden von Verbraucher*innen in der Stadt. Ohne die finanziellen Mittel, sich selbst in Quarantäne zu begeben, mussten sie sich der Ansteckungsgefahr aussetzen und selbst für ihre Sicherheit sorgen. Nach eigenen Aussagen der Zusteller*innen gaben ihnen die Unternehmen nur wenige Hygieneartikel und das erst sehr spät, als letzter Ausweg, um ein Gerichtsverfahren abzuwenden.
„Wir sind keine Helden oder Heldinnen, wir wollen Schutzmittel zu unserer Sicherheit”
Anfang April lancierte der Lieferdienst Rappi eine Werbekampagne für seinen Service. Er sprach von seinen Zusteller*innen als „Held*innen“, den „RappiHeróes” der Pandemie. Stunden später konterte die Asociación del Personal de Plataformas (APP), eine 2018 beim Arbeitsministerium registrierte Gewerkschaft: „Wir sind keine Helden oder Heldinnen, wir wollen Schutzmittel zu unserer Sicherheit”.
Die gleiche Forderung, eine unter vielen, führte am 22. April auch in weiten Teilen Argentiniens zu einem Protest von Lieferservicemitarbeiter*innen. In sechs Ländern gleichzeitig forderten sie, formell als offizielle Angestellte anerkannt und vor einer möglichen Ansteckung mit der Lungenkrankheit Covid-19 geschützt zu werden. In der Zwischenzeit erwarten sie staatliche Regulierung irgendeiner Art. Diese soll eine Verfestigung des Status quo – mit einer kleinen, mit den neuen Technologien verbundenen Elite nebst einer Flut von Arbeiter*innen in Beschäftigung für Geringqualifizierte mit niedrigen Gehältern und ohne Rechte – verhindern .
Jorge Duarte ist Sozialwissenschaftler, Journalist und Direktor des Portals InfoGremiales.
Dieser Text wurde im Original in Riberas, einer Zeitschrift der Universidad Nacional de Entre Ríos publiziert.
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