(Rio de Janeiro, 13. April 2020, lavaca).- Magda Gomes ist eine soziale Aktivistin aus Rocinha, der größten Favela in Brasilien, in der es bereits mindestens 33 bestätigte Fälle von Covid-19 und zwei Tote gibt. Gomes sagt, dass der Staat bis jetzt noch nicht einmal da war, um eine massive Ansteckung zu verhindern. Ersetzt wird er von allen Seiten: von Sozial- und Gemeinschaftsorganisationen über die Hilfe von evangelischen Kirchen bis hin zu den von den Drogenbanden verhängten Ausgangssperren. Zwischen Überfüllung, Problemen beim Zugang zu Wasser und informeller Arbeit sind die Bewohner*innen der Favela einem gesundheitlichen Risiko ausgesetzt, das weit über die Leugnungen des Präsidenten hinausgeht.
In der Rocinha geht es Schlag auf Schlag. Militärische Intervention 2018, Unwetter mit Erdrutschen 2019, Coronavirus 2020. In der größten Favela Brasiliens, in der um die 100.000 Menschen leben, breitet sich Covid-19 aus. Als dieser Artikel geschrieben wurde, gab es bereits zwei Tote und 33 positiv Getestete, dreimal so viele wie die Zahl für Brasilien insgesamt, und das in einer Zeit, in der es dem Land ja auch allgemein nicht besonders gut geht: Die Leugnung der Pandemie durch Präsident Jair Bolsonaro bestätigt die Annahme, dass ein Desaster im Anmarsch ist. Trotzdem ist für die Bewohner*innen der Favela das Problem noch deutlich größer als Bolsonaro sagt.
Hier ist die Quarantäne freiwillig – noch
Das Problem, sagt Magda Gomes (27), soziale Aktivistin, Nachbarin der Rocinha und Studentin der Ingenieurswissenschaften, sei, dass der Staat in den Favelas kaum existiert. Sie sagt dies, während sie auf der Bordsteinkante am Tor zum Gemeindezentrum Rinaldo de Lamare steht, das genau gegenüber der Rocinha liegt, auf der anderen Seite der Fußgängerbrücke: ein Steg, entworfen von Oscar Niemeyer, an dem jetzt ein großes Banner mit den Worten „Bleib zuhause” hängt. Wir befinden uns im südlichen Teil von Rio de Janeiro, nur einen Katzensprung von den reichsten Vierteln der Stadt entfernt, und auf den Straßen ist einiges los: In dieser Stadt ist die Quarantäne – bis jetzt – freiwillig.
Gomes kommt gerade aus der Favela, für ein Treffen, das sie hier gleich haben wird. Ihr Kollektiv Rocinha Resiste organisiert eine Verteilung von Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln für die kommende Woche. Die Organisation in den Gemeinden funktioniert als Reaktion auf die Schwäche des Staates. Aber sie haben auch Mitstreiter*innen. Gomes, die zuerst einmal klarstellt, dass sie Macumbeira (Anhängerin der afro-brasilianischen Religion Macumba) ist, erkennt die wichtige Rolle, die die evangelischen Kirchen in der Verteilung von Hilfen mitten in der Gesundheitskrise spielt. Und sie antwortet extrem vorsichtig, wenn man sie nach einem anderen Akteur fragt, über den in den letzten Wochen viel gesprochen wurde: Seit die Pandemie ausgebrochen ist, gibt es in den Favelas Ausgangssperren – verhängt durch die Drogenbanden, um den Menschenverkehr zu bestimmten Uhrzeiten zu reduzieren.
Über all das spricht Gomes mit lavaca. Währenddessen nimmt sie Anrufe und Nachrichten zur geplanten Nachbarschaftshilfe, die sie vorbereitet, entgegen. „Wir mobilisieren uns, aber wir können den Staat nicht ersetzen”, betont sie und zählt strukturelle und historische Probleme auf, die jedem, der sie nicht selbst hat spüren müssen, so fremd sind: Überfüllung, Wassermangel, Hunger.
Was für spezielle Maßnahmen hat der Staat bis jetzt in der Rocinha getroffen?
Überhaupt keine. Er hat ein Auto mit Lautsprechern herumfahren lassen, aus denen hieß es: „Wascht euch gut die Hände”. Aber viele in der Favela haben gar kein Wasser!
Und Desinfektionsmittel ist sehr teuer…
Das Desinfektionsmittel ist eine Halluzination der Mittelklasse. Was mache ich mit so einem bisschen Alkohol, wenn ich nicht einmal Wasser im Haus habe?
Was ist das Problem mit dem Wasser?
Das ganze Wasser der Rocinha wird über zentrale Pumpen verteilt. Wenn das verteilende Unternehmen sich allerdings nicht um die Instandhaltung kümmert, dann bleiben Flächen über Tage ohne Wasser. Je weiter oben in der Favela, desto schlimmer. Man könnte über eine Rationierung nachdenken, aber der Staat kommt und sagt uns: „Wascht euch alle fünf Minuten die Hände”. Wer hat alle fünf Minuten Wasser? Und das Problem mit dem Wasser kommt ja nicht erst jetzt.
Hat denn die mediale Aufmerksamkeit zugenommen?
Ja, aber das sind ja historische und strukturelle Probleme: das Wasser, die Kloaken, die Überfüllung. Und sie betreffen auch nicht nur die Rocinha, sondern die Peripherien in ganz Latienamerika. Ein Blick auf die Nekropolitik (Nutzung von sozialer oder politischer Macht, um zu befehlen, wie manche Menschen leben und andere sterben müssen) hilft, um zu verstehen wie wir, die Ärmsten der Armen, kaputtgehen werden. Wenn wir unsere Realität vom Standpunkt der Nekropolitik aus betrachten, dann wissen wir schon, dass wir niemals die sein werden, die zuerst an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden. Meine Tante und meine Cousine, die beide dort oben auf dem Hügel wohnen, müssten viel Lärm machen, um so etwas zu erreichen. Wenn so etwas passiert, existiert nicht nur die Gefahr eines physischen Todes: Man hat das Gefühl eines ständigen Todes, von dem man nie weißt, wann er an die Tür klopft.
Bleiben die Menschen der Favela zurzeit in ihren Häusern?
Das können sie nicht. Vor kurzem kam ein Typ, um mir zu sagen, dass er arbeiten müsse, um seine Rechnungen zu bezahlen. Ich habe ihm gesagt: „Es geht hier um die Gesundheit, das hat Priorität. Die WHO schreibt uns vor, alles anzuhalten und zuhause zu bleiben. Wenn sie deine Rechnungen kassieren wollen, wende dich an deine Bank”. Aber auch wenn ich diese notwendige Diskussion mit den anderen führe, weiß ich, dass die Dinge in der Realität so nicht funktionieren. Die Leute müssen essen, ihre Miete bezahlen, sich irgendeine Überlebenschance wahren. Umso mehr, wenn du mit fünf oder sechs Personen auf drei Quadratmetern lebst… und vielleicht übertreibe ich mit dieser Angabe noch.
Wer registriert eigentlich die Covid-19-Fälle in der Favela?
Wir empfehlen, nicht die großen Medien zu lesen, sondern die jeweils in der Favela heimischen. Sie sind die Einzigen, die den Fuß in die Schnellbehandlungszentren setzen, wo die verdächtigen Fälle hinkommen und die jeden Tag Informationen und Zahlen erheben.
Wären die Dinge unter einer anderen Regierung denn anders?
Es sind strukturelle Probleme. Wir haben jetzt den Kontext der Pandemie, sozusagen als eine zentrale Variable. Sie enthüllt den Verzug des Staates beim Denken und Handeln in Krisensituationen.
In vielen Stadtteilen von Rio de Janeiro wird gegen Bolsonaro demonstriert, weil er die Pandemie leugnet, hier auch?
Weißt du, warum solche Demonstrationen hier keinen Sinn hätten? Weil sich keiner darum kümmert, was Bolsonaro sagt. Denn was Bolsonaro sagt, ist in der Favela egal. Der Kontext ist ein anderer. Was wiederum Sinn macht, ist zum Beispiel den Angestellten im Gesundheitswesen zu applaudieren, weil diese Menschen für die Leute hier da sind, uns in die Augen schauen. Aber ich als Bewohnerin der Favela identifiziere mich überhaupt nicht mit Bolsonaro. Ich erkenne mich in ihm nicht wieder, es reicht nicht mal, um gegen ihn zu demonstrieren. Auch wenn meine politische Bildung natürlich eine andere ist als die meines Stiefvaters beispielsweise, der Protestant ist und in die Neupfingstlerische Kirche geht (christliche Sekte in Brasilien). Und wir wissen, wem dieser „Gott über alles” -Diskus von Bolsonaro gilt. Dafür muss man auch verstehen, dass die Favela keine Einheit ist.
Welche Rolle spielen die evangelischen Kirchen der Favela in der Krise des Gesundheitswesens?
Es gibt Fronten hier in der Gemeinde, an die wir nicht rankommen. Die Kirchen erreichen ein bestimmtes Publikum und spielen eine fundamentale soziale Rolle bei der Verteilung von Hilfsleistungen. Mit ihnen sind wir im Dialog. Die Antwort auf diese Krise wird ein demokratischer Prozess sein müssen, der so viele Sektoren wie möglich mit einbezieht.
Und die Sicherheitskräfte?
Darauf zu antworten ist schwierig… die Frage der Sicherheit in der Favela geht einher mit vielen anderen Fragen. Für mich bedeutet Sicherheit, zu wissen, dass ich um vier Uhr früh nach Hause gehen kann und nicht vergewaltigt werde. Aber wer garantiert mir jetzt diese Sicherheit? Das weiß ich nicht… verstehst du?
Stimmt es, dass Drogenbanden Ausgangssperren verhängt haben, um den Verkehr zu bestimmten Uhrzeiten zu reduzieren?
Ich werde das mit einer Metapher beantworten, denn hier kennt jeder jeden. Die Ausgangsperre ist wie… sagen wir, ich lebe zuhause mit meinem Großvater. Er ist es, der Sicherheit garantiert, der versichert, dass mich in meinem Haus niemand ausrauben oder vergewaltigen wird; und dann ist da noch meine Mutter, die viel später kam, als die Sicherheit schon eine bestehende Struktur war. Auf wen werde ich jetzt hören? Wen werde ich achten? Wen werde ich fürchten?
Und wie kann man in solche schon bestehenden Strukturen eingreifen?
Wie kann wer eingreifen? Meine Mutter?
Ja, also der Staat.
Der Staat lagert die soziale Unterstützung auf die sozialen Initiativen in den Gemeinden aus, das ist sehr pervers. Ich brauche dem Staat nicht sagen, was er zu tun hat. Es sind seine Institutionen, die eine Strategie entwerfen müssen. Die Gesundheitspolitik ist Sache des Staates, auch wenn wir sehen, dass die Interessen andere sind.
„Was Bolsonaro sagt, ist in der Favela egal.” von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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